L 27 R 1018/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 7 R 7009/08
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 R 1018/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. August 2011 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 24. Juli 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Oktober 2008 verurteilt, der Klägerin ab dem 01. April 2008 große Witwenrente nach dem verstorbenen Versicherten N R zu gewähren. Die Beklagte hat der Klägerin deren notwendigen außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die im Jahre 1960 geborene Klägerin ist Witwe des im Jahre 1952 geborenen und im Jahre 2008 verstorbenen Versicherten N R, im Folgenden als Versicherter bezeichnet.

Die Klägerin und der Versicherte lernten sich einige Jahre vor dem Tod des Versicherten kennen. Der Versicherte war bestrebt, die Klägerin zu heiraten, und machte ihr während der Zeit ihrer Beziehung insgesamt drei Heiratsanträge, die die Klägerin jeweils ablehnte. Zum Jahresende 2006 entschlossen sich jedoch die Klägerin und der Versicherte zu heiraten. Die Eheschließung sollte auf einer Kreuzfahrt zum Jahreswechsel 2006/2007 erfolgen. Als sich jedoch herausstellte, dass auf der Kreuzfahrt eine Eheschließung in Ermangelung eines Standesbeamten nicht möglich war, gaben sich die Klägerin und der Versicherte am Silvesterabend des Jahres 2006 in Anwesenheit der übrigen Passagiere des Kreuzfahrtschiffes ein öffentliches feierliches Heiratsversprechen.

Die Ehe wurde zunächst nicht geschlossen. Im Juni 2007 erfuhr der Versicherte, dass er an einer unheilbaren Krebserkrankung litt und dass seine restliche Lebenserwartung niedriger als ein Jahr liege. Am 24. Juli 2007 heirateten die Klägerin und der Versicherte. Am 07. März 2008 verstarb der Versicherte.

Den Antrag der Klägerin, ihr eine große Witwenrente nach dem Versicherten zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. Juli 2008 und Widerspruchsbescheid vom 21. Oktober 2008 mit der Begründung ab, zwischen der Klägerin und dem Versicherten habe eine sogenannte Versorgungsehe bestanden, die einen Rentenanspruch ausschließe.

Die hiergegen zum Sozialgericht Berlin erhobene Klage hat das Sozialgericht nach Beiziehung von Sozialversicherungsunterlagen sowie persönlicher Anhörung der Klägerin und Zeugenvernehmung des Stiefsohnes des Versicherten mit Urteil vom 29. August 2011 abgewiesen: Nach § 46 Abs. 2 a Sozialgesetzbuch/Sechstes Buch (SGB VI) sei bei kurzer Ehedauer wie im vorliegenden Fall kraft Gesetzes zu vermuten, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat gewesen sei, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Diese gesetzliche Vermutung könne nur im Wege des Vollbeweises widerlegt werden, diese Widerlegung sei der Klägerin nicht geglückt. Vor dem Hintergrund der höchstrichterlichen Rechtsprechung seien die Eheschließungsmotive beider Ehegatten zu ermitteln gewesen. Dabei sprächen die Gesamtumstände insgesamt nicht für eine Widerlegung der Vermutung einer sogenannten Versorgungsehe.

Gegen dieses ihr am 13. September 2011 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 05. Oktober 2011 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Sie macht geltend, Zweck der Ehe sei es gewesen, dem Versicherten Sicherheit zu geben, weil dieser befürchtet habe, von der Klägerin womöglich wegen seiner schweren Krankheit und seines nahenden Todes verlassen zu werden. Durch die Eheschließung habe die Klägerin versucht, dem Versicherten diese Ängste zu nehmen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. August 2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. Juli 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Oktober 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 01. April 2008 eine große Witwenrente nach dem verstorbenen Versicherten N R zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die Verwaltungsakten der Beklagten, welche im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist auch begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, denn der Klägerin steht der von ihr geltend gemachte Anspruch auf Gewährung einer großen Witwenrente nach dem Versicherten zu.

Nach § 46 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Sechstes Buch (SGB VI) haben Witwen, die nicht wieder geheiratet haben, nach dem Tode des versicherten Ehegatten, der die allgemeine Wartezeit erfüllt hat, u. a. dann Anspruch auf große Witwenrente, wenn sie das 47. Lebensjahr vollendet haben. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die Klägerin ist Witwe des verstorbenen Versicherten, der die allgemeine Wartezeit erfüllt hatte. Im Zeitpunkt des Todes hatte sie auch das 47. Lebensjahr vollendet. Der Anspruch ist auch nicht nach § 46 Abs. 2 a SGB VI ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift haben Witwen keinen Anspruch auf Witwenrente, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, es sei denn, dass nach den besonderen Umständen des Falle die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Der Begriff der "besonderen Umstände" in der vorgenannten Vorschrift ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der von den Rentenversicherungsträgern und den Sozialgerichten mit einem bestimmten Inhalt ausgefüllt werden muss und der der vollen richterlichen Kontrolle unterliegt (Bundessozialgericht BSG , Urteil vom 05. Mai 2009, B 13 R 55/08 R, juris Rdnr. 18). Aus § 46 Abs. 2 a SGB VI ergibt sich nicht ohne weiteres, was unter den besonderen Umständen des Falles zu verstehen ist, die geeignet sind, die Annahme einer Versorgungsehe zu entkräften bzw. eine Ausnahme vom gesetzlichen Ausschluss einer Witwenrente bei einer Ehedauer von weniger als einem Jahr zuzulassen (BSG, a. a. O., juris Rdnr. 19). Als besondere Umstände im Sinne des § 46 Abs. 2 a SGB VI sind daher alle äußeren und inneren Umstände des Einzelfalles anzusehen, die auf einen von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggrund für die Heirat schließen lassen. Dabei kommt es auf die (ggf. auch voneinander abweichenden) Beweggründe (Motive, Zielvorstellungen) beider Ehegatten an, es sei denn, dass der hinterbliebene Ehegatte den Versicherten beispielsweise durch Ausnutzung einer Notlage oder Willensschwäche zur Eheschließung veranlasst hat (BSG, a. a. O., juris Rdnr. 20 m. w. N.).

Die Annahme des Anspruchs ausschließenden Vorliegens einer Versorgungsehe bei einer Ehedauer von nicht mindestens einem Jahr ist nach dem Ausnahmetatbestand des § 46 Abs. 2 a Halbsatz 2 SGB VI nur dann nicht gerechtfertigt, wenn die Gesamtbetrachtung und Abwägung der Beweggründe beide Ehegatten für die Heirat ergibt, dass die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe insgesamt gesehen den Versorgungszweck überwiegen oder zumindest gleichwertig sind. Es ist daher auch nicht zwingend, dass bei beiden Ehegatten andere Beweggründe als Versorgungsgesichtspunkte für die Eheschließung ausschlaggebend waren. Vielmehr sind die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe in ihrer Gesamtbetrachtung auch dann noch als zumindest gleichwertig anzusehen, wenn nachweislich für einen der Ehegatten der Versorgungsgedanke bei der Eheschließung keine Rolle gespielt hat (BSG, a. a. O., juris Rdnr. 21 m. w. N.).

Bei der Gesamtbetrachtung kommt eine gewichtige Bedeutung stets dem Gesundheits- bzw. Krankheitszustand des Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung zu. Ein gegen die gesetzliche Annahme einer Versorgungsehe sprechender besonderer (äußerer) Umstand im Sinne des § 46 Abs. 2 a Halbsatz 2 SGB VI ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Tod des Versicherten, hinsichtlich dessen bisher kein gesundheitliches Risiko eines bevorstehenden Ablebens bekannt war, unvermittelt eingetreten ist. Hingegen ist bei Heirat eines zum Zeitpunkt der Eheschließung offenkundig bereits an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidenden Versicherten in der Regel der Ausnahmetatbestand des § 46 Abs. 2 a Halbsatz 2 SGB VI nicht erfüllt (BSG, a. a. O., juris Rdnr. 27). Jedoch ist auch bei einer nach objektiven Maßstäben schweren Erkrankung mit einer ungünstigen Verlaufsprognose und entsprechender Kenntnis der Ehegatten der Nachweis nicht ausgeschlossen, dass dessen ungeachtet (überwiegend oder zumindest gleichwertig) aus anderen als aus Versorgungsgründen geheiratet wurde. Allerdings müssen dann bei der abschließenden Gesamtbewertung diejenigen besonderen (inneren und äußeren) Umstände, die gegen eine Versorgungsehe sprechen, umso gewichtiger sein, je offenkundiger und je lebensbedrohlicher die Krankheit eines Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung gewesen waren. Dementsprechend steigt mit dem Grad der Lebensbedrohlichkeit einer Krankheit und dem Grad der Offenkundigkeit zugleich der Grad des Zweifels an dem Vorliegen solcher vom hinterbliebenen Ehegatten zu beweisenden besonderen Umstände, die von diesem für die Widerlegung der gesetzlichen Annnahme ("Vermutung") einer Versorgungsehe bei einem Versterben des versicherten Ehegatten innerhalb eines Jahres nach Eheschließung angeführt werden (BSG, a. a. O., juris Rdnr. 27).

Die Heirat eines zur Zeit der Eheschließung bereits offenkundig an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidenden Versicherten ist in der Regel als die gesetzliche Annahme der Versorgungsehe bestätigender (objektiver) Umstand anzusehen. Jedoch ist auch hier der Nachweis nicht ausgeschlossen, dass dessen ungeachtet überwiegend oder zumindest gleichwertig aus anderen als aus Versorgungsgesichtspunkten geheiratet wurde (BSG, a. a. O., juris Rdnr. 32). Dabei sind alle zur Eheschließung führenden Motive der Ehegatten zu berücksichtigen. Eine Beschränkung der Ermittlung und Prüfung, welche Gründe für die Eheschließung ausschlaggebend waren, auf objektiv nach außen tretende Umstände ist nur dann zulässig, wenn der hinterbliebene Ehegatte es ablehnt, seine persönlichen Gründe für die Eheschließung zu offenbaren. Macht er hingegen ggf. im Rahmen einer persönlichen Anhörung entsprechend Angaben und sind diese glaubhaft, so sind auch diese (höchst )persönlichen, subjektiven Motive in die die Gesamtbetrachtung einzustellen und in ihrer Bedeutung unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls zu würdigen (BSG, a. a. O., juris Rdnr. 32).

Unter Zugrundelegung der vorgenannten Kriterien ist der Senat zur vollständigen Überzeugung gelangt, dass die Vermutungsvorschrift des § 46 Abs. 2 a Satz 1 SGB VI widerlegt ist. Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass weder bei dem verstorbenen Versicherten noch bei der Klägerin zum Zeitpunkt der Eheschließung Versorgungsgründe eine Rolle gespielt haben.

Im Hinblick auf den Versicherten ergibt sich dies bereits daraus, dass dieser lange vor seiner Erkrankung bereits mehrfach konkret die Heirat mit der Klägerin angestrebt und ihr auch eindeutig Heiratsanträge gemacht hat. Zu diesem Zeitpunkt spielte die Versorgung ersichtlich keine Rolle, dasselbe gilt für das in Anwesenheit der übrigen Passagiere des Kreuzfahrtschiffes gegebene öffentliche Heiratsversprechen am 31. Dezember 2006.

Ebenso wenig ist erkennbar, dass zum Zeitpunkt der Eheschließung im Sommer 2007 sich an dieser Motivation etwas im Hinblick auf die Versorgungsabsicht geändert haben kann. Es trat zwar nunmehr ein neues Motiv hinzu, dies war jedoch von der Versorgungsabsicht völlig losgelöst. Nunmehr ging es dem Versicherten zusätzlich darum, durch Eheschließung sicherzustellen, dass er gerade während seiner schweren Krankheit und im Vorfeld seines bald zu erwartenden Todes von der Klägerin nicht verlassen werde. Die Eheschließung sollte diese äußere Sicherheit zusätzlich absichern und garantieren. Ein Versorgungsmotiv zugunsten der Klägerin ist in diesem Zusammenhang für den Senat nicht erkennbar.

Ebenso wenig sind im Falle der Klägerin Versorgungsmotive für den Senat sichtbar geworden. Die Klägerin hat mehrfach Heiratsanträge des Versicherten abgelehnt und bereits hierdurch zum Ausdruck gebracht, dass ihr offensichtlich an einer Versorgung nicht gelegen war. Sie hat sich sodann zu einem späteren Zeitpunkt öffentlich zu ihrer Eheschließungsabsicht bekannt, als der Versicherte und die Klägerin sich am 31. Dezember 2006 ein öffentliches Heiratsversprechen auf der Kreuzfahrt gegeben haben. Auch zu diesem Zeitpunkt waren Motive, die in Richtung auf eine Versorgungsabsicht hätten weisen können, nicht erkennbar.

Gleiches gilt auch im Hinblick auf den Zeitpunkt der Eheschließung im Sommer 2007. Zwar trat auch insoweit bei der Klägerin ein weiteres Motiv für die Eheschließung hinzu, wie sich aus der persönlichen Anhörung der Klägerin durch das Sozialgericht und durch den weiteren Vortrag der Klägerin im Berufungsverfahren für den Senat zweifelsfrei ergeben hat. Denn nunmehr wollte die Klägerin dem Versicherten im Vorfeld seines zu erwartenden Todes die emotionale Sicherheit geben, dass dieser von der Klägerin nicht verlassen, sondern von ihr im Rahmen einer bestehenden Ehe bis zum Tode gepflegt werde. Auch nach eingehender Auswertung der Angaben der Klägerin sind für den Senat keinerlei Motive erkennbar, die eine Versorgungsabsicht zu diesem Zeitpunkt hätten belegen können.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht ersichtlich sind.
Rechtskraft
Aus
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