L 9 U 892/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 8 U 1521/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 892/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 3. Februar 2010 wird zurückgewiesen, soweit ihr nicht durch den Bescheid der Beklagten vom 24. April 2012 abgeholfen worden ist.

Die Klage gegen den Bescheid vom 24. April 2012 wird abgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin ein Viertel ihrer außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten die Weitergewährung von Verletztengeld über den 23.10.2007 hinaus sowie die Gewährung von Verletztenrente bzw. höherer Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 5.3.2007.

Die 1950 geborene Klägerin erlitt bei ihrer Tätigkeit als Arbeiterin an einer Stanzmaschine am 5.3.2007 eine Verletzung am linken Zeigefinger, als beim Herausholen eines gestanzten Teiles die Maschine den Stanzvorgang nochmals auslöste. Hierbei zog sich die Klägerin eine traumatische Teilamputation des linken Zeigefingers zu. Kurz danach erfolgte in der Chirurgischen Klinik T. eine Wundversorgung mit Stumpfbildung in Lokalanästhesie sowie eine Versorgung mit einem Verband und einer Gipsschiene. Am 16.3.2007 wurden die Fäden entfernt. Da die Klägerin am 18.3.2007 psychische Probleme angab, wurde eine Vorstellung beim Psychiater mit anschließender Verhaltenstherapie veranlasst. Zudem wurde am 20.3.2007 eine Ergotherapie eingeleitet. Im weiteren Verlauf gab die Klägerin anhaltende Schmerzen im Zeigefingerstumpf mit Ausstrahlung in den Unterarm an, wobei die Narbe am Fingerstumpf reizlos war (vgl. DA-Bericht von Dr. T., Leitender Arzt der Chirurgischen Klinik des Klinikums des Landkreises T. vom 13.4.2007 sowie Zwischenbericht von Dr. T. vom 13.4.2007). Es erfolgten Vorstellungen beim Handchirurgen sowie in der Schmerzambulanz (Berichte von Dr. C., Chefarzt der Klinik für Anästhesie des Klinikums T., vom 31.5.2007 und Dr. F., Chefarzt der Klinik für plastische und ästhetische Hand- und Wiederherstellungs-Chirurgie, vom 24.7.2007). Am 11.5.2007 wurde die Klägerin aus der ambulanten Behandlung entlassen (H-Bericht von Dr. C. vom 4.7.2007).

Der Neurologe und Psychiater Dr. M. diagnostizierte bei der Klägerin im Arztbrief vom 26.6.2007 einen Stumpfschmerz im zweiten Finger links sowie eine somatoforme Reaktion bei depressiver Verstimmung. Er schloss eine periphere Nervenkompression aus und sah die gesamte Problematik im Rahmen einer somatoformen Reaktion gepaart mit einer eindeutigen Depressivität.

Am 2.8.2007 wurde die Klägerin in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik T., Klinik für Hand-, Plastische, Rekonstruktive und Verbrennungschirurgie, untersucht. Die dortigen Ärzte diagnostizierten eine Amputation im Mittelglied des zweiten Fingers links, empfahlen eine Arbeits- und Belastungserprobung und rechneten mit dem Eintritt der vollschichtigen Arbeitsfähigkeit am 27.8.2007. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Ausmaß verbleibe nicht. Sie empfahlen wegen der psychischen Probleme ein psychiatrisches Gutachten zur Frage des Kausalzusammenhangs einzuholen (Bericht vom 9.8.2007).

Der Psychiater Dr. G. teilte im Arztbrief vom 9.8.2007 mit, er behandle die Klägerin seit dem 22.3.2007; seitdem hätten acht weitere Gesprächstermine stattgefunden. Die Klägerin habe die Verletzung, die sie als Verstümmelung empfunden habe, psychisch kaum verkraften können. Der Arbeitsunfall müsse im erweiterten Rahmen gesehen werden, zumal sich die Klägerin aufgrund zweier von ihr angestrebter und gewonnener Arbeitsgerichtsprozesse von der Firmenleitung unter Druck gesetzt gefühlt habe. Er habe einen Zustand nach posttraumatischer Belastungsstörung sowie eine rezidivierende Depression diagnostiziert. Auch wenn die traumatische Verarbeitung noch nicht völlig abgeklungen sei, so habe sich vieles in den letzten Monaten gebessert bzw. relativiert.

Die Berufsgenossenschaft (BG) Elektro Textil Feinmechanik, die Rechtsvorgängerin der Beklagten, im Folgenden einheitlich: die Beklagte, veranlasste eine Untersuchung der Klägerin durch Prof. Dr. S ... Dieser führte im neurologisch-psychiatrischen Befundbericht vom 17.9.2007 aus, auf neurologischem Gebiet bestehe eine Teilschädigung der sensiblen Nerven am Zeigefinger links mit Gefühlstörungen und Missempfindungen. Auf psychiatrischem Gebiet bestünden keine Unfallfolgen. Eine Angststörung liege ebenso wenig vor wie eine posttraumatische Belastungsstörung. Unfallunabhängig bestünden dysphorisch-paranoide Züge der Persönlichkeit. Ferner bestehe ein erheblicher und anhaltender zwischenmenschlicher Konflikt am Arbeitsplatz. Unfallbedingt seien keine weiteren Heilmaßnahmen erforderlich. Eine unverzüglich gestufte Wiedereingliederung werde empfohlen. Den Bedenken der Klägerin, dass sie nicht erneut an einer defekten Maschine eingesetzt werden möchte, müsse natürlich Rechnung getragen werden.

Nachdem die Klägerin am 20.8.2007 zur Arbeits- und Belastungserprobung in der Firma erschienen war, sollte sie am alten Arbeitsplatz (Unfallmaschine) die Arbeits- und Belastungserprobung aufnehmen. Als die Klägerin die Maschine sah, wurde sie bleich im Gesicht und sah sich außer Stande, die Arbeits- und Belastungserprobung an dieser Maschine durchzuführen. Auch nachdem ihr ein anderer Arbeitsplatz angeboten worden war, war die Klägerin so geschockt, dass sie das Angebot nicht annahm. Wegen eines Zustandes der Traumatisierung hat Dr. G. die Klägerin arbeitsunfähig geschrieben und ein stationäres Heilverfahren zur Wiedereingliederung vorgeschlagen (Aktenvermerk vom 23.8.2007). Eine erneute Arbeits- und Belastungserprobung ab 1.10.2007 an einem anderen Arbeitsplatz (Montagearbeiten in der Außenstelle) brach die Klägerin wegen Angstzuständen an der Maschine ab. Dr. G. schrieb die Klägerin weiter arbeitsunfähig.

Mit Schreiben vom 1.10.2007 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass beabsichtigt sei, die Verletztengeldzahlung mit Ablauf des 23.10.2007 zu beenden; ab dem 24.10.2007 sei die Krankenkasse der zuständige Leistungsträger.

Dr. G. vertrat im Bericht vom 22.10.2007 die Ansicht, die Reaktion der Klägerin bei beiden Wiedereingliederungsversuchen entspreche der von ihm gestellten Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Konfrontation mit dem traumaauslösenden Reiz führe zu einer Reaktualisierung der Ängste und zu einem Vermeidungsverhalten. Das Gutachten von Prof. Dr. S., in dem er ein traumatisches Erleben in Abrede stelle, sei durch das Ergebnis der Exposition am Arbeitsplatz widerlegt.

Auf Wunsch der Klägerin beauftragte die Beklagte Dr. F. und Dr. M. mit ihrer Begutachtung.

Dr. M. diagnostizierte bei der Klägerin im nervenärztlichen Gutachten vom 13.12.2007 eine Anpassungsstörung sowie eine Teilamputation im zweiten Finger links. Die Anpassungsstörung könne durch eine leichte willentliche Anstrengung der Klägerin überwunden werden. Ihr Wunsch nach einer Berentung erscheine ihm gutachterlich völlig unverständlich. Eine Rehabilitation sei nicht erforderlich. Die Voraussetzungen für eine Rentengewährung lägen nicht vor. Wenn die Klägerin nicht mehr bereit sei, an ihren Arbeitsplatz zurückzuführen, so liege dies in ihrem Ermessen.

Dr. F., Arzt für Plastische u. Handchirurgie, gelangte in dem zusammen Dr. M. erstatteten Gutachten vom 27.12.2007 zum Ergebnis, als Unfallfolgen lägen eine Bewegungseinschränkung des linken Zeigefingers bei Zustand nach Amputation im Mittelgliedschaftbereich, ein fehlender Faustschluss der linken Hand sowie eine Kraftminderung im Seitenvergleich vor. Die MdE dafür betrage unter 10 v.H. Die Klägerin sei in der Lage, ihre alte Tätigkeit zu verrichten. Es bestehe der Eindruck, dass die Klägerin unter der Gesamtsituation am Arbeitsplatz leide. Problematisch sei sicherlich die psychiatrische Komponente.

Mit Bescheid vom 29.1.2008 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente ab, weil die Erwerbsfähigkeit der Klägerin über die 26. Woche nach Eintritt des Arbeitsunfalls bzw. nach dem Ende des Verletztengeldanspruchs nicht um wenigstens 20 v.H. gemindert sei. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.3.2008 zurück.

Mit Bescheid vom 4.3.2008 teilte die Beklagte, die die Verletztengeldzahlung zum 23.10.2007 eingestellt hatte, der Klägerin mit, die Verletztengeldzahlung werde mit Ablauf des 23.10.2007 beendet; ab 24.10.2007 sei die Krankenkasse der zuständige Leistungsträger. Unfallunabhängig bestehe bei der Klägerin eine Persönlichkeitsstörung mit einem erheblich anhaltenden zwischenmenschlichen Konflikt am Arbeitsplatz. Dies sei die Ursache, warum sich die Klägerin nicht mehr in der Lage fühle, ihrer bisherigen Tätigkeit nachzugehen. Mit Widerspruchsbescheid vom 8.5.2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Mit der am 21.4.2008 zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhobenen Klage (S 8 U 1521/08) hat die Klägerin ihr Begehren auf Gewährung einer Verletztenrente weiter verfolgt und mit der am 11.6.2008 erhobenen Klage (S 8 U 2097/08) hat die Klägerin die Weitergewährung von Verletztengeld begehrt. Sie hat unter dem 10.10.2008 mitgeteilt, im Juli 2008 habe der komplette Zeigefinger entfernt werden müssen, weswegen sie bei der Beklagten einen Verschlimmerungsantrag gestellt habe, da aufgrund der nunmehrigen Operation eine MdE um 20 v.H. erreicht werde.

Das SG hat die beiden Klagen mit Beschluss vom 2.7.2008 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und Prof. Dr. E., Leiter der Ambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Freiburg, mit der Begutachtung der Klägerin beauftragt.

Prof. Dr. E. hat im Gutachten vom 18.6.2009 ausgeführt, bei der Klägerin liege eine Anpassungsstörung vor, die mit Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückzuführen sei. Die MdE betrage ab dem 25.10.2007 0 bis 10 v.H., wobei er die MdE wegen einiger depressiver Symptome bzw. Einengung des Denkens und der Affektivität und gelegentlicher Wiedererlebnisse auf 10 v.H. schätze. Aufgrund der psychiatrischen Diagnose der Anpassungsstörung habe keine Arbeitsunfähigkeit bestanden, wobei allerdings eine Konfrontation mit den den Unfall verursachenden Maschinen vermieden werden sollte. Die Arbeitsunfähigkeit sei von chirurgischer Seite zu beurteilen.

Mit Gerichtsbescheid vom 3.2.2010 hat das SG die Klage(n) abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, das subjektive Unvermögen der Klägerin zu den Montagearbeiten (an einer anderen als der Unfallmaschine ab 1.10.2007) bedinge keinen weiterbestehenden Anspruch auf Verletztengeld. Ausweislich des Gutachtens von Dr. Feldhaus sei die Klägerin wieder für fähig erachtet worden, ihre alte Tätigkeit zu verrichten. Auch Prof. Dr. E. habe die Arbeitsunfähigkeit allein durch den auf chirurgischem Gebiet bestehenden Befund geprägt gesehen und nicht aufgrund der Anpassungsstörung. Dass diese dem Einsatz an der unfallverursachenden Maschinen entgegenstehe, sei nachvollziehbar, führe jedoch zu keinem weiter bestehenden Anspruch auf Verletztengeld, da der Klägerin auch andere Tätigkeiten zumutbar seitens des früheren Arbeitgebers angeboten worden seien. Damit habe der Anspruch auf Verletztengeld spätestens am 23.10.2007 geendet. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf Verletztenrente. Die auf unfall-/hand-chirurgischem Gebiet bestehenden Unfallfolgen bedingten nach der schlüssigen Beurteilung von Dr. Feldhaus eine MdE von unter 10 v.H. Auch unter Einbeziehung der von Prof. Dr. E. als Unfallfolge gewerteten Anpassungsstörung ergebe sich keine rentenberechtigende MdE von 20 v.H.

Gegen den am 8.2.2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 23.2.2010 Berufung eingelegt und vorgetragen, der Gerichtsbescheid berücksichtige lediglich die Teilamputation des linken Fingers im Mittelgliedschaftbereich. Das SG habe dabei jedoch nicht berücksichtigt, dass sie sich im Juli 2008 einer weiteren Operation habe unterziehen müssen, wobei der Zeigefinger der linken Hand komplett habe amputiert werden müssen. Seitdem leide sie unter ständigen Schmerzen der linken Hand, weswegen nunmehr eine MdE um mindestens 20 v.H. gerechtfertigt sei.

Aufgrund der von der Klägerin geltend gemachten Verschlimmerung und des am 12.05.2009 gestellten Verschlimmerungsantrags holte die Beklagte – nach Beiziehung von Leistungsauszügen der AOK T. betreffend die Arbeitsunfähigkeitszeiten vom 17.5.1994 bis 15.4.2008 und Einholung von Auskünften bei den behandelnden Ärzte der Klägerin – Gutachten auf handchirurgischem und psychiatrischem Gebiet ein.

Prof. Dr. B., Direktor der Klinik für Plastische, Hand- und Ästhetische Chirurgie am S.-B.-Klinikum, stellte in dem zusammen mit Oberärztin Dr. V. erstatteten Gutachten vom 25.7.2011 bei der Klägerin als Unfallfolgen einen Verlust des 2. Strahles links mit Minderung der groben Kraft, gering verminderte Feinmotorik sowie Schmerzen im Bereich der linken Hand fest. Die MdE hierfür schätzte er seit der Operation am 16.7.2008 auf 20 v.H.

Dr. R.-K., Arzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, diagnostizierte bei der Klägerin im am 25.10.2011 bei der Beklagten eingegangenen Gutachten eine chronische Schmerzstörung mit somatoformem Schmerzstörungsanteil (F45.41) und Angst und depressive Störung, gemischt (F41.2). Einen Hinweis auf eine posttraumatische Belastungsstörung fand er nicht. Als Unfallfolgen sah er einen Zustand nach Fingerteilamputationen am linken Zeigefinger und den organisch zuzuweisenden Anteil der chronische Schmerzstörung an, was von handchirurgischer bzw. gegebenenfalls neurologischer Seite zu beurteilen sei. Die psychosomatischen Krankheitsbilder seien dagegen als unfallunabhängig anzusehen. Sie stünden im Zusammenhang mit dem maladaptiven Krankheitsbewältigungsprozess, der maßgeblich durch prämorbide persönlichkeitsstrukturelle Gegebenheiten geprägt sei. Hierzu zähle auch der somatoforme Schmerzstörungsanteil der chronischen Schmerzstörung.

Mit Bescheid vom 24.4.2012 gewährte die Beklagte der Klägerin ab 24.7.2008 (Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nach Wiedererkrankung an Unfallfolgen) eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 20 v.H. Als Unfallfolgen berücksichtigte sie dabei die Amputation des Zeigefingers und des körperfernen Endes des 2. Mittelhandknochens mit Minderung der groben Kraft, die gering verminderte Feinmotorik sowie belastungsabhängige Beschwerden. Nicht als Unfallfolgen sah sie die depressive Störung, die Persönlichkeitsstörung und den Zustand nach Nasenoperation an.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat Dr. S., Neurologe und Psychiater sowie Arzt für Sozialmedizin, mit der Begutachtung der Klägerin beauftragt. In dem am 27.12.2012 beim Senat eingegangenen Gutachten hat er folgende Gesundheitsstörungen diagnostiziert: Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1), peritrauma-tische Belastungsstörung (ICD-10:F 43.2), Angst-Depressions-Schmerz-Syndrom mit Angststörung mit überwiegendem psychischen Teil und depressiver Störung im Sinne einer leichten bis mittelgradigen Depression (ICD-10: F41.2 und F32.1) sowie einen Zustand nach Halswirbelsäulen-Distorsion (HWS-Distorsion) im Sinne eines mittelgradigen myogenen HWS-Syndroms ohne radikuläre Affektion (ICD-10: S13.4). Er hat ausgeführt, die HWS-Distorsion sei mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar auf das Unfallereignis zurückzuführen. Bei den anderen Störungen handle es sich um mittelbare Unfallfolgen. Die psychische Störung der Klägerin müsse als stärker behindernd mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit angesehen und mit einer MdE um 40 v.H. bewertet werden. Ab dem Unfallereignis sei aufgrund der psychischen Unfallfolgen von einer dauernden Arbeitsunfähigkeit auszugehen.

Die Beklagte hat eine beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. G., Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, vorgelegt. Diese hat in der Stellungnahme vom 5.2.2013 u.a. ausgeführt, Dr. S. gehe in der Sozialanamnese nicht auf den beruflichen Werdegang, den Ausbildungsstand, die berufliche Situation und die Arbeitsplatzprobleme ein. Ein aktueller Tagesablauf fehle völlig. Die neurologischen Untersuchungsbefunde seien dürftig; auch der psychopathologische Befund müsse als unvollständig bezeichnet werden. Angaben zur Antriebslage oder zu vegetativen Auffälligkeiten (Schlaf, Appetenz, Suizidalität) fehlten völlig. Typische Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung wie Intrusionen, Flash-backs, Albträume usw. würden nicht aufgeführt. Eine posttraumatische Belastungsstörung liege nicht vor, wie Prof. Dr. S., Dr. Maier und Prof. Dr. E. schlüssig dargelegt hätten. Den Begriff einer "peritraumatischen Belastungsstörung" gebe es so nach ICD-Kriterien oder auch nach DSM-4-Kriterien nicht. Die Diagnose "Angst-Depression-Schmerz-Syndrom mit Überwiegen des psychischen Teils" (ICD-10, F41.2) existiere ebenfalls so nicht. Unter ICD-10, F41.2 werde die Diagnose "Angst und depressive Störung, gemischt" subsumiert. Die Diagnose sollte nur dann gestellt werden, wenn beide Störungen in nicht ausreichendem Maße vorlägen, um eine entsprechende Einzeldiagnose zu rechtfertigen. Die Symptome erfüllten nicht die Bedingungen für eine isolierte Angststörung oder eine depressive Episode. Weder anhand des recht dürftigen psychologischen Befundes noch anhand der diesen Bereich betreffenden Test-Diagnostik könne dieser Diagnosestellung gefolgt werden. Inwieweit eine etwaige Flucht-Reaktion der Klägerin noch nach Jahren Symptome einer etwaigen HWS-Distorsion mit einem kaudalen myogenen HWS-Syndrom rechts bedingen soll, sei für sie in keiner Weise nachvollziehbar. Inwieweit bei der Klägerin überhaupt psychische Auffälligkeiten im Sinne psychoreaktiver Folgen eines Unfallgeschehens vorliegen sollen, sei nicht ersichtlich. Die Ausführungen des Sachverständigen genügten in keiner Weise den Kausalitätsanforderungen in der gesetzlichen Unfallversicherung; seine Begründungen seien nicht in sich schlüssig und nicht nachvollziehbar.

Dr. S. hat in der ergänzenden Stellungnahme, die am 11.04.2013 beim Senat eingegangen ist, an seiner Beurteilung festgehalten.

Die Klägerin hat ausgeführt, mit dem Bescheid vom 24.4.2012 sei sie nicht einverstanden, weil darin die psychischen Beeinträchtigungen, die depressiven Störungen und die Persönlichkeitsstörung nicht berücksichtigt seien. Diese seien ebenfalls auf den Arbeitsunfall zurückzuführen. Deswegen sei die MdE mit 20 v.H. zu gering bewertet. Durch den Arbeitsunfall sei sie völlig aus der Bahn geworfen worden. Sie habe ihre Arbeitstätigkeit nicht mehr ausüben können. Auch Dr. G. habe bereits im Jahr 2007 eine posttraumatische Belastungsstörung festgestellt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 3. Februar 2010 sowie den Bescheid vom 4. März 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides 8. Mai 2008 aufzuheben und den Bescheid vom 29. Januar 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. März 2008, abgeändert durch den Bescheid vom 24. April 2012, abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 5. März 2007 über den 23. Oktober 2007 hinaus Verletztengeld und anschließend Verletztenrente bzw. Verletztenrente nach einer höheren MdE als 20 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 24. April 2012 abzuweisen.

Sie erwidert, ihre angefochtenen Bescheide seien nicht zu beanstanden. Das Gutachten von Dr. S. sei nicht geeignet, einen Anspruch auf Anerkennung von Unfallfolgen auf psychiatrischem Gebiet sowie eine MdE zu begründen, wie sich auch aus der Stellungnahme von Dr. G. vom 5.2.2013 ergebe.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entschieden hat, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung der Klägerin ist jedoch nicht begründet, soweit ihr nicht durch den Bescheid vom 24.4.2012 abgeholfen worden ist.

Der Bescheid vom 24.4.2012 ist gemäß § 96 Abs. 1 S. 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden, da er den Bescheid vom 29.1.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.3.2008 abgeändert hat. Über diesen Bescheid entscheidet das Landessozialgericht auf Klage (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, 10. Aufl., § 96 Rn. 7).

Die Klägerin hat wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 5.3.2007 vor dem 24.7.2008 keinen Anspruch auf eine Verletztenrente und ab dem 24.7.2008 keinen Anspruch auf eine höhere Verletztenrente als nach einer MdE um 20 v.H. (nachfolgend 1). Ferner hat sie auch keinen Anspruch auf Verletztengeld über den 23.10.2007 bzw. 28.10.2007 hinaus (nachfolgend 2).

1. Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, haben gem. § 56 Abs. 1 S. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 S. 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern.

Versicherungsfälle im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Für einen Arbeitsunfall ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitsschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls (BSG, Urteil vom 2.4.2009 – B 2 U 29/07 R – in Juris m.w.N.).

Voraussetzung für die Berücksichtigung einer Gesundheitsstörung bzw. Funktionseinschränkung als Unfallfolge bei der Bemessung der MdE ist grundsätzlich u. a. ein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis bzw. dem dadurch eingetretenen Gesundheitserstschaden und der fortdauernden Gesundheitsstörung (sog. haftungsausfüllende Kausalität). Dabei müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, zu denen - neben der versicherten Tätigkeit - der Gesundheitserstschaden und die eingetretenen fortdauernden Gesundheitsstörungen gehören, mit einem der Gewissheit nahekommenden Grad der Wahrscheinlichkeit erwiesen sein. Für die Bejahung eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Gesundheitserstschaden und den fortdauernden Gesundheitsstörungen gilt in der gesetzlichen Unfallversicherung die Kausalitätstheorie der "wesentlichen Bedingung". Diese hat zur Ausgangsbasis die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie. In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob das Ereignis nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Auf Grund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen. Nach der Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (vgl. die zusammenfassende Darstellung der Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung im Urteil des BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17 = BSGE 96, 196-209 und Juris).

Bei mehreren konkurrierenden Ursachen muss die rechtlich wesentliche Bedingung nach dem Urteil des BSG vom 9.5.2006 (a.a.O. Rn. 15) nicht "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig" sein. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die anderen Ursachen keine überragende Bedeutung haben. Kommt einer der Ursachen gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, ist sie allein wesentliche Ursache und damit allein Ursache im Rechtssinn.

Im Urteil vom 9.5.2006 (a.a.O. Rn. 21) hat das BSG keinen Zweifel daran gelassen, dass die Theorie der wesentlichen Bedingung auch uneingeschränkt auf die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Arbeitsunfällen und psychischen Störungen anzuwenden ist, die nach Arbeitsunfällen in vielfältiger Weise auftreten können. Die Feststellung der psychischen Störung sollte angesichts der zahlreichen in Betracht kommenden Erkrankungen und möglichen Schulenstreiten aufgrund eines der üblichen Diagnosesysteme und unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erfolgen. Denn je genauer und klarer die beim Versicherten bestehenden Gesundheitsstörungen bestimmt sind, desto einfacher sind ihre Ursachen zu erkennen und zu beurteilen sowie letztlich die MdE zu bewerten (BSG a.a.O. Rn. 22). Das BSG hat im Weiteren darauf hingewiesen, dass es wegen der Komplexität von psychischen Gesundheitsstörungen im Bereich des Arbeitsunfalls keine Beweisregel des Inhalts gebe, dass bei fehlender Alternativursache (etwa wenn eine Vorerkrankung oder Schadensanlage nicht nachweisbar sind) die versicherte naturwissenschaftliche Ursache (also die Einwirkung durch den Arbeitsunfall, festgestellt auf der ersten Stufe der Ursächlichkeitsprüfung) damit auch automatisch zu einer wesentlichen Ursache (im Sinne der Ursächlichkeitsprüfung auf der zweiten Stufe) wird. Dies würde angesichts der Komplexität psychischer Vorgänge und des Zusammenwirkens gegebenenfalls lange Zeit zurückliegender Faktoren zu einer Umkehr der Beweislast führen, für die keine rechtliche Grundlage erkennbar sei (BSG a.a.O. Rn. 39). Andererseits schließt eine "abnorme seelische Bereitschaft" die Annahme der psychischen Reaktion als Unfallfolge nicht aus. Wunschbedingte Vorstellungen sind aber als konkurrierende Ursachen zu würdigen und können der Bejahung eines wesentlichen Ursachenzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und der psychischen Reaktion entgegenstehen (BSG a.a.O. Rn. 37 und 38).

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22.6.2004, B 2 U 14/03 R in SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind die Entscheidungen der Beklagten nicht zu beanstanden. Bei der Bewertung der MdE für die Folgen des Arbeitsunfalls der Klägerin, den die Beklagte anerkannt hat, waren bis zu der am 16.07.2008 durchgeführten Operation als Unfallfolgen auf chirurgischem Gebiet eine Bewegungseinschränkung des linken Zeigefingers bei Zustand nach Amputation im Mittelgliedschaftbereich, ein fehlender Faustschluss der linken Hand sowie eine Kraftminderung im Seitenvergleich zu berücksichtigen. Die MdE hierfür beträgt unter 10 v.H., wie Dr. F. und Dr. M. für den Senat nachvollziehbar und überzeugend im Gutachten vom 27.12.2007 dargelegt haben. Die Ärzte der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik T. haben im Bericht vom 9.8.2007 ebenfalls eine rentenberechtigende MdE wegen der Unfallfolgen auf chirurgischem Gebiet verneint.

Für die Zeit nach der Operation bzw. dem Ende der dadurch bedingten Arbeitsunfähigkeit sind bei der Klägerin als Unfallfolgen der Verlust des 2. Strahles links, eine Minderung der groben Kraft der linken Hand, eine gering verminderte Feinmotorik sowie Schmerzen im Bereich der linken Hand zu berücksichtigen. Die MdE dafür beträgt seit dem Ende der Arbeitsunfähigkeit wegen der Operation bzw. dem Ende des Verletztengeldes ab 24.7.2008 20 v.H., wie Prof. Dr. B. und Dr. V. im Gutachten vom 24.7.2011 für den Senat überzeugend dargelegt haben.

Unfallfolgen auf psychiatrischem Gebiet vermag der Senat seit dem 23.10.2007, dem von der Beklagten zu Grunde gelegten Ende der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit, bei der Klägerin nicht festzustellen. Die bei ihr seitdem vorliegenden Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Gebiet sind seit diesem Zeitpunkt nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen. Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat aufgrund des Befundberichts von Prof. Dr. S. vom 17.9.2007, den Gutachten von Dr. M. vom 13.12.2007 und Dr. R.-K. vom 25.10.2011 sowie der beratungsärztlichen Stellungnahme von Dr. G. vom 5.2.2013, die im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden. Aber selbst wenn man eine Anpassungsstörung als Unfallfolge berücksichtigen könnte, die Prof. Dr. E. im Gutachten vom 18.6.2009 mit 0 bis 10 v.H. bewertet hat, würde sich dadurch keine Erhöhung der MdE insgesamt und kein Anspruch auf Verletztenrente für die Zeit bis 24.07.2008 und kein höherer Rentenanspruch als nach einer MdE um 20 v.H. für die Zeit ab 24.07.2008 ergeben.

Der Beurteilung von Dr. S. vermag sich der Senat dagegen nicht anzuschließen. So ist für den Senat schon nicht nachgewiesen, dass bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung vorliegt bzw. vorlag.

Nach der nach dem Urteil des BSG vom 9.5.2006 (aaO) anzuwendenden Internationalen Klassifikation ICD-10 F43.1 bzw. DMS-IV-TR 309.81 entsteht eine posttraumatische Belastungsstörung als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Nach DMS-IV ergeben sich fünf bzw. sechs Kriterien, die jeweils erfüllt sein müssen, damit die Diagnose gestellt werden kann.

Das A- oder Trauma-Kriterium verlangt, dass der Betroffene mit einem extrem traumatischen Ereignis konfrontiert wird, welches den tatsächlichen oder drohenden Tod oder die schwere Verletzung oder eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhaltet (Kriterium A1). Die Reaktion des Betroffenen auf das Ereignis muss intensive Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen umfassen (Kriterium A2).

Das B- oder Wiedererlebens-Kriterium verlangt, dass es bei dem Betroffenen zu wiederkehrenden und eindringlichen belastenden Erinnerungen oder Wiedererleben durch aufdringliche Nachhallerinnerungen tagsüber oder nachts in Form von Albträumen kommt.

Der Senat vermag schon nicht festzustellen, dass der Teilverlust des Fingers ein derartig extrem traumatisches Ereignis darstellt, das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde und das mit Ereignissen wie gewalttätigen Angriffen, Entführung, Geiselnahme, Terroranschlag, Folter und Kriegsgefangenschaft gleichgesetzt werden kann. Darüber hinaus ist weder dem Gutachten von Dr. S. noch den sonstigen nervenärztlichen Befunden zu entnehmen, dass bei der Klägerin aufdringliche Nachhallerinnerungen tagsüber oder nachts in Form von Albträumen vorkamen und vorkommen. Für den Senat nachvollziehbar haben angesichts dessen Prof. Dr. S., Dr. M., Prof. Dr. E. und Dr. G. das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung verneint.

Soweit die Klägerin sich darauf beruft, dass auch Dr. G. eine solche diagnostiziert hat, ist zu berücksichtigen, dass diese Diagnose von behandelnden Ärzten oft unkritisch nach belastenden Ereignissen gestellt wird, ohne dass die Kriterien für diese Diagnose im Einzelnen exakt durchgeprüft und belegt werden, wie dies im Rahmen eines Gutachtens erforderlich ist. Die Tatsache, dass die Konfrontation mit der Unfallmaschine bzw. einer anderen Maschine zu einer Reaktuali-sierung von Ängsten bei der Klägerin geführt hat, reicht nicht aus, um die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung zu stellen.

Die weiteren von Dr. S. gestellten Diagnosen (peritraumatische Belastungsstörung und Angst-Depression-Schmerz-Syndrom mit Überwiegen des psychischen Teils und depressiver Störung im Sinne einer leichten bis mittelgradige Depression) existieren so nach der einschlägigen Klassifikation des ICD-10 bzw. DSM-4 nicht, wie Dr. Grips nachvollziehbar dargelegt hat.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass die von der Klägerin seit 18.03.2007 geschilderten psychischen Probleme zu unfallbedingten Anpassungsstörungen bzw. depressiven Störungen geführt haben, ist nicht feststellbar, dass sie nach dem 23.10.2007 zu einer nennenswerten MdE geführt haben.

So hat der Psychiater Dr. G. im Arztbrief vom 9.8.2007 mitgeteilt, dass nach acht weiteren Gesprächsterminen nach dem 22.3.2007 die traumatische Verarbeitung zwar noch nicht völlig abgeklungen sei, sich in den letzten Monaten jedoch vieles gebessert bzw. relativiert habe. Außerdem hat er darauf hingewiesen, dass der Arbeitsunfall in einem erweiterten Rahmen gesehen werden müsse, da sich die Klägerin nach Arbeitsgerichtsprozessen von der Firmenleitung unter Druck gesetzt gefühlt habe. Dr. M. hat in seinem danach erstellten Gutachten vom 13.12.2007 aufgrund der Anpassungsstörung bei der Klägerin keine nennenswerte MdE festgestellt und Prof. Dr. E. hat lediglich eine MdE um 0 bis 10 v.H. angenommen, so dass letztlich auch dadurch kein früherer Beginn der Verletztenrente bzw. keine höhere Verletztenrente begründet werden könnte. Dr. R.-K. hat im Gutachten vom 25.10.2011 – wie zuvor schon Prof. Dr. S. im Befundbericht vom 17.9.2007 – Unfallfolgen auf psychiatrischem Gebiet verneint.

2. Gemäß § 45 Abs. 1 SGB VII wird Verletztengeld erbracht, wenn Versicherte infolge des Versicherungsfalls arbeitsunfähig sind oder wegen einer Maßnahme der Heilbehandlung eine ganztägige Erwerbstätigkeit nicht ausüben können und unmittelbar vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder Heilbehandlung Anspruch auf Arbeitsentgelt, Arbeitseinkommen, Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld, Übergangsgeld, Unterhaltsgeld, Kurzarbeitergeld, Arbeitslosengeld, nicht nur darlehensweise gewährtes Arbeitslosengeld II oder nicht nur Leistungen für Erstausstattungen für Bekleidung bei Schwangerschaft und Geburt nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch oder Mutterschaftsgeld hatten. Gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 SGB VII wird Verletztengeld von dem Tag an gezahlt, ab dem die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird oder mit dem Tag des Beginns einer Heilbehandlungsmaßnahme, die den Versicherten an der Ausübung einer ganztägigen Erwerbstätigkeit hindert.

Arbeitsunfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles liegt anknüpfend an die Rechtsprechung zum Begriff der Arbeitsunfähigkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung vor, wenn ein Versicherter aufgrund der Folgen eines Versicherungsfalles nicht in der Lage ist, seiner zuletzt ausgeübten oder einer gleich oder ähnlich gearteten Tätigkeit nachzugehen (vgl. etwa Urteil des BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 31/06 R -, Rn. 12 m.w.N. in Juris). Arbeitsunfähigkeit ist danach gegeben, wenn der Versicherte seine zuletzt vor Eintritt des Versicherungsfalles konkret ausgeübte Tätigkeit wegen Krankheit nicht (weiter) verrichten kann. Dass er möglicherweise eine andere Tätigkeit trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung noch ausüben kann, ist unerheblich.

Der Senat stellt zunächst aufgrund der Ausführungen der Beklagten in den Schriftsätzen vom 27.8. und 19.9.2012, denen die Klägerin nicht widersprochen hat, fest, dass die Klägerin bis 28.10.2007 Verletztengeld erhalten hat. Dabei hat die Beklagte den Verletztengeldanspruch lediglich bis 23.10.2007 anerkannt, weswegen die Krankenkasse der Beklagten das Verletztengeld, das der Klägerin für die Zeit vom 24.10. bis 28.10.2007 gezahlt wurde, erstattet hat. Ferner stellt der Senat aufgrund der Leistungsauszüge der AOK vom 13.7.2010 fest, dass Arbeitsunfähigkeit über diesen Zeitpunkt hinaus bis 15.04.2008 ärztlich bescheinigt worden ist, dabei ab 13.9.2007 wegen einer Anpassungsstörung (F43.2).

Der Senat vermag jedoch nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festzustellen, dass die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin vom 23.10. bzw. 28.10.2007 bis 15.04.2008 unfallbedingt war. Denn weder Dr. M. (Gutachten vom 13.12.2007) noch Prof. Dr. E. (Gutachten vom 18.06.2009) und auch nicht Dr. R.-K. (Gutachten vom 25.10.2011) vermochten eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit über den 23.10. bzw. 28.10.2007 hinaus zu bestätigen. Der hiervon abweichenden Auffassung von Dr. S. folgt der Senat nicht, zumal die von ihm genannten Unfallfolgen – wie oben dargelegt – für den Senat nicht nachgewiesen sind. Für die Zeit ab 16.4.2008 fehlt es schon an einer ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit, so dass schon angesichts dessen kein Anspruch auf Verletztengeld besteht (§ 46 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. SGB VII).

Nach alledem war der angefochtene Gerichtsbescheid des SG nicht zu beanstanden, soweit darin ein Anspruch der Klägerin auf weiteres Verletztengeld und auf Verletztenrente für die Zeit vor dem 24.07.2008 verneint worden ist. Für die Zeit nach dem 24.07.2008 musste die Berufung zurückgewiesen werden, soweit ihr nicht durch den Bescheid vom 24.04.2012 abgeholfen worden ist.

Der Bescheid der Beklagten vom 24.4.2012 war nicht zu beanstanden, da die Klägerin – wie oben dargelegt – keinen Anspruch auf eine höhere Verletztenrente als 20 v.H. ab 24.07.2008 hat, weswegen die Klage gegen den Bescheid vom 24.04.2012 abgewiesen werden musste.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Berufung hinsichtlich der Verletztenrente teilweise Erfolg hatte.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved