L 33 R 1058/09

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
33
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 36 R 139/08
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 33 R 1058/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 30. März 2009 und der Bescheid der Beklagten vom 11. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2007 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Änderung der Bescheide vom 10. Januar 2008, 06. Juni 2008 und 24. Mai 2011 verurteilt, der Klägerin Witwenrente ohne Anrechnung der
Verletztenrente zu bewilligen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin aus dem erst- und zweitinstanzlichen Verfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Anrechnung von Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung auf ihre große Witwenrente.

Die 1940 geborene Klägerin ist die Witwe des 1940 geborenen und 1984 verstorbenen Versicherten K S. Vom 01. Dezember 1984 bis zum 30. November 1986 bezog sie Übergangs-Hinterbliebenenrente in der DDR.

Mit Bescheid vom 10. Januar 2002 gewährte die Beklagte der Klägerin auf deren Antrag vom 29. Dezember 2000 rückwirkend ab dem 01. Dezember 1999 große Witwenrente unter Anrechnung ihres Einkommens aus abhängiger Beschäftigung, wobei im Hinblick auf die Prüfung von AAÜG-Zeiten der Bescheid "vorläufig" war.

Unter anderem mit Bescheiden vom 05. Juni 2002, 04. September 2002 (hier endgültige Rentenfeststellung wegen der AAÜG-Zeiten) und 24. Mai 2003 wurde die Rente jeweils neu festgestellt. Unter anderem im Bescheid vom 24. Mai 2003 hieß es auf Seite 1: "Die im früheren Rentenbescheid genannten Mitteilungspflichten gelten nach wie vor. Deshalb sind uns Umstände, die den Leistungsanspruch oder die Höhe der Leistung beeinflussen können, umgehend mitzuteilen. Wir behalten uns vor, überzahlte Beträge zurückzufordern." Auf Seite 2 wurde ferner ausgeführt: "Ferner ist auch der Bezug, das Hinzutreten, die Veränderung oder Abfindung von Hinterbliebenenrenten aus der gesetzlichen Unfallversicherung ( ) unverzüglich mitzuteilen. Darüber hinaus besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns auch die Beantragung einer Rentenleistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung oder die Einleitung eines Rentenverfahrens durch den Unfallversicherungsträger unverzüglich mitzuteilen." Auf Seite 3 wurde ergänzt: "Wir behalten uns vor, überzahlte Beträge zurückzufordern, wenn der Mitteilungspflicht nicht genügt werden sollte."

Ab dem 03. März 2003 war die Klägerin wegen eines Arbeitsunfalls arbeitsunfähig und bezog ab dem 16. April 2003 Verletztengeld von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), woraufhin die Beklagte mit Bescheid vom 18. September 2003 den Bescheid vom 10. Januar 2002 gemäß § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) mit Wirkung vom 16. April 2003 teilweise aufhob und die Witwenrente neu berechnete. Die Klägerin erhielt eine Nachzahlung i. H. v. 148,92 Euro. Dieser Bescheid enthielt dieselben Hinweise auf Mitteilungspflichten wie der Bescheid vom 24. Mai 2003.

Am 28. Dezember 2004 beantragte die Klägerin die Überprüfung ihrer Witwenrente, da sie ab dem 03. Januar 2005 kein Verletztengeld mehr erhalte. Eine Altersrente werde voraussichtlich im Januar 2005 bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA; jetzt: Deutsche
Rentenversicherung (DRV) Bund) beantragt. Der Bescheid über die Einstellung des Verletztengeldes erging am 31. Januar 2005, laut telefonischer Nachricht der BGW erfolgte die Einstellung zum 31. Januar 2005. Aufgrund Bescheides der BfA vom 05. Januar 2005 – den die Klägerin der Beklagten ohne die Rentenberechnung am 04. Februar 2005 zur Verfügung stellte - wurde der Klägerin rückwirkend ab dem 01. September 2004 Altersrente für Frauen gewährt.

Mit Bescheid vom 15. Februar 2005 wurde die mit Bescheid vom 04. September 2002 festgestellte Witwenrente hinsichtlich der Einkommensanrechnung gemäß § 48 Abs. 1 SGB X mit Wirkung vom 01. Februar 2005 aufgehoben und die Rente neu berechnet unter Berücksichtigung der Einstellung des Verletztengeldes zum 31. Januar 2005 sowie der Bewilligung von Altersrente.

Mit Bescheiden vom 05. Juni 2005 und 21. Mai 2006 erfolgten Neufeststellungen im Hinblick auf die Rentenanpassungsverordnung. Mit Bescheid vom 07. November 2006 erfolgte eine weitere Neuberechnung der Witwenrente ab dem 01. Juli 2005 unter Anrechnung der
Altersrente der Klägerin. Der Bescheid enthielt die üblichen Hinweise zu den Mitteilungspflichten.

Auf Nachfrage der Beklagten teilte die BGW mit Fax vom 19. April 2007 mit, dass die Klägerin aufgrund Bescheides vom 26. April 2005 ab dem 02. Februar 2005 Anspruch auf Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v. H. habe und seit dem 31. Mai 2005 laufend Rente erhalte. Die Rente belaufe sich auf monatlich 384,51 Euro.

Daraufhin hob die Beklagte mit Bescheid vom 07. Mai 2007 den Bescheid vom 10. Januar 2002 in der Fassung des Bescheides vom 04. September 2002 mit Wirkung für die Zeit vom 02. Februar 2005 hinsichtlich der Rentenhöhe gemäß § 48 Abs. 1 SGB X auf und forderte eine Überzahlung i. H. v. 2.623,29 Euro gemäß § 50 SGB X von der Klägerin zurück. Die Voraussetzungen für eine rückwirkende Bescheidaufhebung seien gegeben, da die Klägerin der ihr obliegenden Mitteilungspflicht nicht nachgekommen sei.

Auf den Widerspruch der Klägerin half die Beklagte mit Bescheid vom 07. Juni 2007 dem Widerspruch ab, hob den bisherigen Bescheid hinsichtlich der Rentenhöhe gemäß § 48 SGB X auf, berechnete die große Witwenrente ab dem 02. Februar 2005 neu und zahlte wieder
Witwenrente ohne Anrechnung der Verletztenrente (ab dem 01. Juli 2007; 550,77 Euro monatlich).

Mit Bescheid vom 11. Oktober 2007 nahm die Beklagte den Bescheid vom 07. Juni 2007 mit Wirkung für die Zeit vom 01. November 2007 an nach § 45 Abs. 1 SGB X hinsichtlich der Rentenhöhe zurück und gewährte ab dem 01. November 2007 Witwenrente i. H. v. monatlich 436,54 Euro unter Anrechnung der Verletztenrente. Der Bescheid vom 07. Juni 2007 sei von Anfang an rechtswidrig, da sich das für die Einkommensanrechnung nach § 97 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) bisher berücksichtigte Einkommen nach erneuter Prüfung als unrichtig erwiesen habe. Nach Wegfall des Verletztengeldes am 31. Januar 2005 werde der Klägerin ab dem 02. Februar 2005 von der BGW eine Verletztenrente gewährt, welche neben der eigenen Altersrente gemäß § 18 a Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB VI i. V. m. § 97 SGB VI auf die Witwenrente anzurechnen sei. Da die Anrechnung der Leistung der BGW nach § 97 SGB VI gesetzlich festgelegt sei, sei die Abhilfe zum Widerspruch vom 09. Mai 2007 und die damit verbundene Rücknahme des Bescheides vom 07. Mai 2007 rechtswidrig. Mit ihrem
Rentenantrag habe sich die Klägerin verpflichtet, den Rentenversicherungsträger unverzüglich zu benachrichtigen, wenn nach Stellung des Rentenantrages eine Änderung in den
Einkommensverhältnissen eintrete. Auf diese Mitteilungspflicht sei sie außerdem in den Bescheiden vom 10. Januar 2002 und 04. September 2002 unter der Rubrik "Mitteilungspflichten" hingewiesen worden. Insoweit sei erkennbar gewesen, dass die Leistung der BGW Auswirkungen auf die zu leistende Witwenrente haben werde. Für die Vergangenheit dürfe ein rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakt nur unter weiteren einschränkenden Tatbestandsvoraussetzungen
zurückgenommen werden, die jedoch im Falle der Klägerin nicht erfüllt seien, so dass lediglich eine Rücknahme für die Zukunft in Betracht komme. Die Rente sei daher ab dem 01. November 2007 in der materiell-rechtlich zustehenden Höhe zu zahlen. Unter Berücksichtigung des bisherigen Vorbringens der Klägerin sei geprüft worden, ob es angemessen oder gerechtfertigt sei, von der Rücknahme Abstand zu nehmen. Nach Prüfung des Sachverhaltes sei die Beklagte zu dem Ergebnis gekommen, dass das öffentliche Interesse der Versichertengemeinschaft an der Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides gegenüber den Interessen der Klägerin, die zu hohen Leistungen weiterhin in Anspruch zu nehmen, überwiege. Die Rücknahme sei in diesem Falle bis zum Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe des Bescheides vom 07. Juni 2007 zulässig.

Ihren Widerspruch vom 15. Oktober 2007 begründete die Klägerin u. a. damit, dass Verletztenrente gemäß § 18 a Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) nicht anzurechnen sei. Außerdem habe sie nie Informationen über die Verletztenrente vorenthalten. Die DRV Bund sei stets über die Verletztenrente informiert gewesen, die Verletztenrentenzahlung sei aus den Bescheiden der DRV Bund ersichtlich. Im Übrigen sei die Zwei-Jahres-Frist verstrichen, die Zehn-Jahres-Frist des § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X sei nicht eröffnet. Letztlich habe die Beklagte es versäumt, sie ordnungsgemäß anzuhören. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2007 zurück. Die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB X lägen vor.

Hiergegen hat die Klägerin am 07. November 2007 Klage vor dem Sozialgericht Potsdam (SG) erhoben und Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt (S 36 R 138/08 ER). Den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hat das SG mit Beschluss vom 09. April 2008 abgelehnt, da bei summarischer Prüfung keine erheblichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 11. Oktober 2007 bestünden. Die Beschwerde ist mit Beschluss vom 18. Juli 2008 vom
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) zurückgewiesen worden (L 33 B 1193/08 R ER).

Mit Bescheid vom 10. Januar 2008 hat die Beklagte große Witwenrente bereits ab dem 01. Januar 1992 (Nachzahlung für die Zeit ab dem 01. Januar 1996) bewilligt unter Anrechnung der Verletztenrente. Mit Bescheid vom 06. Juni 2008 hat die Beklagte die Rente für die Zeit ab dem 01. Juli 2008 neu berechnet.

Das SG hat die auf Aufhebung des Bescheides vom 11. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2007 sowie der nach dem 30. Oktober 2007 ergangenen Bescheide, soweit sie die Verletztenrente als Einkommen berücksichtigen oder die
Verletztenrente als Einkommen für berücksichtigungsfähig erklären, insbesondere die Bescheide vom 10. Januar 2008 und 06. Juni 2008, gerichtete Klage durch Urteil vom 30. März 2009 abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 11. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2007 sowie der nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum Gegenstand des Klageverfahrens gewordenen Bescheide vom 10. Januar 2008 und 06. Juni 2008 sei rechtmäßig. Rechtsgrundlage für die mit dem Bescheid vom 11. Oktober 2007 verfügte Aufhebung der Witwenrentenbewilligung sei § 48 Abs. 1 SGB X. Zwar habe die Beklagte selbst den Bescheid auf § 45 SGB X gestützt. Die Rechtsgrundlage lasse sich beim Wechsel von § 45 SGB X zu § 48 SGB X jedoch ohne Weiteres austauschen, ohne dass es einer Umdeutung bedürfe, da es beim ursprünglichen Verfügungssatz – Aufhebung für die Zukunft – verbleibe. Die angefochtenen Bescheide seien zunächst formell rechtmäßig. Die erforderliche Anhörung sei jedenfalls durch das Widerspruchsverfahren nachgeholt worden. Die Bescheide seien auch materiell rechtmäßig, denn nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X sei insoweit eine wesentliche Änderung eingetreten, als die BGW mit Bescheid vom 26. April 2005 Verletztenrente bewilligt habe und dies nach Erlass des Bewilligungsbescheides vom 10. Januar 2002 in der Fassung des
Bescheides vom 04. September 2002 sowie der danach ergangenen Änderungsbescheide erfolgt sei. Die Verletztenrente sei entgegen der Auffassung der Klägerin auch nach § 97 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI i. V. m. § 18 a Abs. 3 Nr. 4 SGB IV auf die Witwenrente anzurechnen. Der Bescheid vom 11. Oktober 2007 sei außerdem hinreichend bestimmt. Ferner sei es nach Auffassung der Kammer unschädlich, dass im Tenor des Bescheides vom 11. Oktober 2007 als Aufhebungsbescheid nur der Bescheid vom 07. Juni 2007 benannt werde. Es sei nach dem Empfängerhorizont erkennbar, dass sich die Aufhebung auf die der Gewährung der Witwenrente zugrunde liegenden Bescheide insgesamt, also auf alle seit 2002 ergangenen Bewilligungs- und
Anpassungsbescheide, habe erstrecken sollen, soweit sie Grundlage für die ohne Anrechnung der Verletztenrente gewährte Witwenrente gewesen seien. Einer Ermessensausübung bedürfe es für die zukunftsgerichtete Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht, auch Fristen spielten keine Rolle. Selbst wenn man der Auffassung der Kammer nicht folgen wollte und die Aufhebung auf § 45 SGB X stützen wollte, wären die angefochtenen Bescheide rechtmäßig. Bereits aus den im Beschluss vom 09. April 2008 genannten Erwägungen könne sich die Klägerin für eine zukunftsgerichtete Rücknahme nicht auf Vertrauensschutz berufen. Darüber hinaus könne sich die Klägerin aber nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 SGB X nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen. Angesichts der deutlichen und unmissverständlichen Hinweise in sämtlichen Anpassungsbescheiden, in denen insbesondere die Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung als anzurechnendes und anzuzeigendes Erwerbsersatzeinkommen aufgeführt sei, habe die Klägerin jedenfalls grob fahrlässig unvollständige Angaben zu ihren Einkommensverhältnissen gemacht. Wer klar erkennbaren Hinweisen in Bescheiden nicht folge, handele ohne Weiteres grob fahrlässig. Dies gelte zumal, da die Verletztenrente auch bei der Altersrente der Klägerin angerechnet worden sei. Ferner habe die Klägerin selbst im Jahr 2004 die Anrechnung von Verletztengeld anstelle ihres Erwerbseinkommens geltend gemacht. Soweit man auf die Kenntnis oder Unkenntnis des bevollmächtigten Sohnes der Klägerin abstelle, sei diese der Klägerin analog § 116 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zuzurechnen. Da hiernach die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2, 3 SGB X vorlägen, fände nach § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X hier die Zehn-Jahres-Frist Anwendung. Unabhängig von der Einreichung des Rentenbescheides der DRV Bund, in welchem die Verletztenrente ausgewiesen sei, wäre auch die Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X gewahrt, da Kenntnis aller für die Rücknahme erforderlichen Tatsachen erforderlich sei. Ermessensfehler seien nicht erkennbar.

Gegen das am 08. September 2009 zugestellte Urteil richtet sich die am 07. Oktober 2009 bei dem LSG eingegangene Berufung der Klägerin, mit welcher sie ihr erstinstanzliches Begehren voll umfänglich weiter verfolgt.

Die Beklagte hat die Witwenrente mit Wirkung ab dem 01. Juli 2011 mit Bescheid vom 24. Mai 2011 neu festgestellt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 30. März 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung der Bescheide vom 10. Januar 2008 und 06. Juni 2008 sowie des Bescheides vom 24. Mai 2011 zu verpflichten, ihr große Witwenrente ohne Anrechnung von Verletztenrente zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig.

Der Senat hat die Gerichtsakten zu den Verfahren S 36 R 138/08 ER und L 33 R 445/11 ER beigezogen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten (11 Bände) und der Gerichtsakten zu den Verfahren L 33 R 445/11 ER sowie S 36 R 138/08 ER verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Gegenstand des Klage- bzw. Berufungsverfahrens ist nach §§ 153 Abs. 1, 96 Abs. 1 SGG der Bescheid vom 11. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2007 in der Fassung der Bescheide vom 10. Januar 2008, 06. Juni 2008 und 24. Mai 2011. Über den Bescheid vom 24. Mai 2011 ist kraft Klage zu entscheiden. Entgegen der Auffassung des SG in seinem Urteil vom 30. März 2009 erweisen sich die angefochtenen Bescheide als rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.

Die Aufhebungsentscheidung der Beklagten ist – anders als das SG meint - an § 45 SGB X zu messen, denn Regelungsgehalt des angefochtenen Bescheides vom 11. Oktober 2007 ist nach dem eindeutigen Wortlaut des Bescheides 1. die teilweise Rücknahme des Bescheides vom 07. Juni 2007 ab dem 01. November 2007 und 2. die Neufeststellung der Höhe des Witwenrentenanspruchs ab dem 01. November 2007. Keinesfalls kann an dem insoweit eindeutigen Wortlaut des Bescheides vorbei in ihn hineingelesen werden, es sollten alle seit 2002 ergangenen Bewilligungs- und Anpassungsbescheide aufgehoben werden. Eine solche Interpretation würde die Grenzen zulässiger Auslegung überschreiten.

Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter Einschränkungen ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 1 SGB X). Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (§ 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X), wobei Schutzwürdigkeit in der Regel dann vorliegt, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder Vermögensdispositionen getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte allerdings u. a. dann nicht berufen, wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). In diesen Fällen wird der Verwaltungsakt nach § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Rücknahme für die Vergangenheit ist nur innerhalb der in Abs. 3 der Vorschrift genannten Fristen möglich, d. h. gemäß Satz 1 kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt nach Abs. 2 grundsätzlich nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Abweichend hiervon kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung u. a. nach Abs. 2 bis zum Ablauf von 10 Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 gegeben sind. Nach Abs. 4 Satz 2 derselben Vorschrift muss die Behörde dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.

Der Bescheid vom 07. Juni 2007 ist zum Zeitpunkt seines Erlasses zumindest teilweise rechtswidrig gewesen. Regelungsgehalt des Bescheides vom 07. Juni 2007 ist 1. die Rücknahme des Bescheides vom 07. Mai 2007 (Seite 3 des Bescheides) im Rahmen der Abhilfe, 2. die teilweise Aufhebung des "bisherigen" Bescheides mit Wirkung ab dem 02. Februar 2005 hinsichtlich der Höhe des Witwenrentenanspruchs gemäß § 48 Abs. 1 SGB X sowie 3. die Neufeststellung der Höhe des Witwenrentenanspruchs ab dem 02. Februar 2005.

Die Zweifel an der Bestimmtheit (§ 33 Abs. 1 SGB X) des Bescheides vom 07. Juni 2007 hinsichtlich der Aufhebungsentscheidung nach § 48 Abs. 1 SGB X hintan gestellt, ist der Bescheid vom 07. Juni 2007 jedenfalls hinsichtlich der Festsetzung der Höhe des
Witwenrentenanspruchs – und insoweit ist der Bescheid vom 07. Juni 2007 auch ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - von Anfang an rechtswidrig, da er bei der Berechnung die von der Klägerin rückwirkend ab dem 02. Februar 2005 bezogene Verletztenrente nicht berücksichtigt, obwohl diese nach § 97 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI i. V. m. § 18 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB IV anzurechnen war. Der Senat schließt sich zur Frage der Anrechenbarkeit von Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung auf die Witwenrente der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach die Verletztenrente der gesetzlichen Unfallversicherung auch nach dem seit dem 01. Januar 2002 geltenden Recht als Erwerbsersatzeinkommen auf die Witwenrente anzurechnen ist, nach eigener Prüfung an und verweist zur Begründung insoweit auf das Urteil des BSG vom 17. April 2012 – B 13 R 15/11 E – (in juris). In einer weiteren Entscheidung des BSG (- B 5 R 16/12 R – vom 20. März 2013), hat sich der 5. Senat nicht mit dieser Frage auseinander setzen müssen, weil die streitige Rücknahmeentscheidung der Beklagten bereits wegen Unbestimmtheit rechtswidrig war. Substantiierte Einwände gegen die Berechnung der Rentenhöhe sind hier nicht ersichtlich.

Die Rücknahme ist jedoch ausgeschlossen, da die Klägerin sich auf Vertrauensschutz berufen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 1). Entgegen der Auffassung der Beklagten liegen die subjektiven Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X nicht vor. Im Sinne der Vorschrift verhält sich grob fahrlässig, wer schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (vgl. Urteile des BSG vom 11. Juni 1987 - 7 RAr 105/85 –, in SozR 4100 § 71 Nr. 2 und vom 31. August 1976 - 7 RAr 112/74 -, in SozR 4100 § 152 Nr. 3). Dabei ist jedoch nicht ein objektiver Maßstab anzulegen, sondern auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten der Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Falles abzustellen (vgl. z. B. Urteil des BSG vom 27. Juli 2000 – B 7 AL 88/99 R -, in SozR 3-1300 § 45 Nr. 42). Bezugspunkt für das grobfahrlässige Nichtwissen ist schon nach dem Wortlaut des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes - also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R -, in SozR 3-1300 § 45 Nr. 45). Im Allgemeinen besteht für den Betroffenen kein Anlass, einen Verwaltungsakt auf Richtigkeit zu überprüfen, wenn im Verwaltungsverfahren zutreffende Angaben gemacht worden sind. Anderenfalls würde das Risiko der rechtmäßigen Umsetzung der korrekten Angaben des Begünstigten von der Behörde auf diesen übergewälzt (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2001 - B 11 AL 21/00 R -, a. a. O.). Allerdings sind die Beteiligten im Sozialrechtsverhältnis verpflichtet, sich gegenseitig vor vermeidbarem, das Versicherungsverhältnis betreffendem Schaden zu bewahren (vgl. Urteile des BSG vom 14. Dezember 1995 - 11 RAr 75/95 –, in SozR 3-4100 § 105 Nr. 2 und vom 23. März 1972 - 5 RJ 63/70 -, in SozR Nr. 25 zu § 29 RVO). Daher ist der Adressat eines Verwaltungsakts rechtlich gehalten, einen ihm günstigen Bewilligungsbescheid auch zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2001 - B 11 AL 21/00 R -, a. a. O.). Die Unkenntnis ist daher grob fahrlässig, wenn der Adressat, hätte er den Bewilligungsbescheid gelesen und zur Kenntnis genommen, auf Grund einfachster und nahe liegender Überle-gungen sicher hätte erkennen können, dass der zuerkannte Anspruch nicht oder jedenfalls so nicht besteht (vgl. Urteil des BSG vom 26. August 1987 - 11a RA 30/86 -, in SozR 1300 § 48 Nr. 39). Davon ist bei Fehlern auszugehen, die sich erstens aus dem begünstigenden
Verwaltungsakt selbst oder anderen Umständen ergeben und zweitens für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2001 - B 11 AL 21/00 R -, a. a. O.).

Diese Voraussetzungen liegen hier angesichts der Vorgeschichte zu dem Bescheid vom 07. Juni 2007 nicht vor. Mit Bescheid vom 07. Mai 2007 hatte die Beklagte versucht, den Bescheid vom 10. Januar 2002 in der Fassung des Bescheides vom 04. September 2002 mit Wirkung für die Zeit vom 02. Februar 2005 hinsichtlich der Rentenhöhe gemäß § 48 Abs. 1 SGB X aufzuheben, und eine Überzahlung i. H. v. 2.623,29 Euro gemäß § 50 SGB X von der Klägerin zurückgefordert. Auf den Widerspruch der Klägerin gegen die Aufhebung des Verwaltungsaktes vom 04. September 2002 und die damit verbundene Neufeststellung der Witwenrente und gegen das Erstattungsbegehren "wegen offensichtlicher Unwirksamkeit" (so wörtlich der Widerspruch), hat die Beklagte mit Bescheid vom 07. Juni 2007 ohne Begründung den Bescheid vom 07. Mai 2007 im Wege der Abhilfe aufgehoben und die Witwenrente weder für die Zukunft angerechnet noch die Prüfung einer zukünftigen Anrechnung angekündigt. Die Klägerin musste daher davon ausgehen, dass die Beklagte ihrer Auffassung folgt und die Anrechnung der Witwenrente nicht für zulässig hält. Es ist nicht ersichtlich, wie die Klägerin anhand einfachster und nahe liegender Überlegungen hätte zu dem Schluss kommen können, dass ihr die Witwenrente nicht in der mit Bescheid vom 07. Juni 2007 festgestellten Höhe zusteht und der
Bescheid rechtswidrig ist. Auch wenn man davon ausgeht, dass die Frage der Anrechenbarkeit der Verletztenrente als Erwerbsersatzeinkommen auf die Witwenrente umstritten war (immerhin haben auch das LSG Baden-Württemberg in seiner Entscheidung vom 25. Januar 2011 – L 9 R 153/09 – und das LSG Rheinland-Pfalz in seiner Entscheidung vom 21. März 2012 – L 4 R 316/10 – die Rechtsauffassung der Klägerin vertreten), folgt hieraus keine Kenntnis der Rechtswidrigkeit oder grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit.

Auch die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X liegen nicht vor, denn zum Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes vom 07. Juni 2007 kann der Klägerin keine Verletzung ihrer Mitteilungspflichten mehr vorgeworfen werden. Die Beklagte war zu diesem Zeitpunkt voll umfänglich über den Bezug von Verletztenrente unterrichtet, der Verwaltungsakt beruhte also gerade nicht mehr auf unrichtigen oder unvollständigen Angaben der Klägerin.

Das Vertrauen der Klägerin ist nach Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse und dem privaten Interesse der Klägerin auch schutzwürdig. Zwar nimmt der Bescheid vom 11. Oktober 2007 den Bescheid vom 07. Juni 2007 hinsichtlich der Gewährung und Neufeststellung von Witwenrente nur mit Wirkung für die Zukunft, d. h. ab dem 01. November 2007, zurück. Auch ist die Rücknahme bereits rund vier Monate nach Erlass des Bescheides vom 07. Juni 2007 erfolgt. Ferner ist bei einer Dauerleistung das Interesse der Allgemeinheit stark belastet, die Solidargemeinschaft - und damit die Interessen jedes einzelnen Versicherten - wird durch eine fortwährende Gewährung rechtswidriger Leistungen gravierend beeinträchtigt. Auf der anderen Seite steht zunächst lediglich allgemein das finanzielle Interesse der Klägerin auf eine gute Versorgung. Langfristige finanzielle Dispositionen oder sonstige finanzielle Notlagen der Klägerin sind nicht bekannt. Neben der Witwenrente erhält sie sowohl Verletztenrente als auch Altersrente aus ihrer eigenen Versicherung. Allerdings ist es ausschließlich das Verschulden der Beklagten, dass der Klägerin mit Bescheid vom 07. Juni 2007 trotz des Bezugs von Verletztenrente Witwenrente ohne deren Anrechnung gewährt wurde. Der grobe Fehler der Beklagten im Rahmen des Widerspruchsverfahrens, in dem gerade die Frage der Anrechenbarkeit der Verletztenrente auf die Witwenrente Streitpunkt war, stärkt nachhaltig das Vertrauen der Klägerin im Rahmen der Abwägung und führt im vorliegenden Einzelfall dazu, dass der rechtswidrige Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden darf.

Dementsprechend war der Berufung stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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