L 7 AS 455/13

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 53 AS 75/13
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 455/13
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Abweisung einer verfrühten Klage (Klage vor Abschluss eines notwendigen Vorverfahrens) als unzulässig entspricht § 78 SGG und ist, wenn der Kläger die Notwendigkeit des vorherigen Vorverfahrens kennen musste, grundsätzlich nicht zu beanstanden. Der Kläger ist in dieser Situation nicht schutzbedürftig und ihm ist ein Verfahrensfehler anzulasten.
Eine Zurückverweisung an das Sozialgericht ist daher nicht auf einen Verfahrensfehler des Sozialgerichts zu stützen (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG), sondern darauf, dass das Sozialgericht die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache zu entscheiden (§ 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Durch die Zurückverweisung wird die Situation wieder hergestellt, die bestünde, wenn der Kläger sich an das geltende Recht gehalten hätte.
I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 16. Januar 2013, Az. S 53 AS 75/13 aufgehoben und der Rechtsstreit an das Sozialgericht München zurückverwiesen.

II. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Der 1966 geborene Kläger bezieht laufend Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Beklagten. Er strengte in diesem Zusammenhang diverse Klagen an.

Mit Bescheid 04.01.2013 bewilligte der Beklagte dem Kläger für die Zeit von 01.02.2013 bis 31.07.2013 Leistungen von monatlich jeweils 682,- Euro. Für den Regelbedarf wurden dabei 382,- Euro angesetzt, für die Kosten von Unterkunft und Heizung 300,- Euro.

Der Kläger erhob am 10.01.2013 mit Telefax zum Sozialgericht ausdrücklich Widerspruch und Klage gegen den Bescheid vom 04.01.2013. Für den 16.01.2013 waren mehrere anderen Klagen zwischen den Beteiligten zur Sitzung geladen.

In der mündlichen Verhandlung vom 16.01.2013 erklärten sich die Beteiligten damit einverstanden, dass dieses Verfahren ebenfalls verhandelt und entschieden wird. Der Kläger beantragte in dieser Verhandlung, ihm zusätzlich monatlich 10,- Euro für Stromkosten und einen ernährungsbedingten Mehrbedarf von monatlich 100,- Euro zu gewähren. In einem Parallelverfahren zu einem anderen Bewilligungszeitraum hatte das Sozialgericht zur Frage eines ernährungsbedingten Mehrbedarfs ein internistisches Gutachten eingeholt.

Das Sozialgericht wies die Klage mit Urteil vom 16.01.2013 ab. Die Klage sei unzulässig, weil das notwendige Vorverfahren noch nicht durchgeführt worden sei. Eine Aussetzung des Verfahrens sei nicht erforderlich. Der Kläger könne im Anschluss an den zu erlassenden Widerspruchsbescheid eine zulässige Klage erheben. Die Klage als unzulässig abzuweisen trage den Funktionen des Widerspruchsverfahrens, erstens der Selbstkontrolle der Verwaltung, zweitens der Erweiterung der Rechtsschutzmöglichkeiten für den Betroffenen und drittens der Entlastung der Gerichte, besser Rechnung. Im Übrigen wäre die Klage auch unbegründet. Die Berufung sei nicht zulässig, weil für sechs Monate insgesamt 660,- Euro streitig seien.

Der Kläger hat 22.04.2013 Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil eingelegt. Die Rechtssache habe erhebliche Bedeutung. Er beantrage ein Gerichtsverfahren am Landessozialgericht (LSG).

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.05.2013 hat der Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 04.01.2013 als unbegründet zurückgewiesen. Die Berufung wurde mit Beschluss des LSG vom 16.07.2013 zugelassen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 16. Januar 2013, Az. S 53 AS 75/13, aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 04.01.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.05.2013 zu verpflichten, dem Kläger für die Zeit von 01.02.2013 bis 31.07.2013 ein um monatlich 110,- Euro höheres Arbeitslosengeld II zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Akte des Sozialgerichts und die Akte des Berufungsgerichts verwiesen.



Entscheidungsgründe:


Die Berufung ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und Zurückverweisung an das Sozialgericht begründet (§ 159 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Zurückverweisung beruht auf § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG). Streitgegenstand ist der Bescheid vom 04.01.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.05.2013, in dem der Beklagte über die Bewilligung von Arbeitslosengeld II für die Zeit von 01.02.2013 bis 31.07.2013 entschieden hat. Der Kläger begehrt für diese sechs Monate jeweils 110,- Euro höhere Leistungen, mithin insgesamt 660,- Euro. Die gemäß § 144 Abs. 1 SGG erforderliche Zulassung der Berufung ist durch Beschluss des LSG erfolgt. Der Widerspruchsbescheid wurde gemäß §§ 95, 153 Abs. 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens.

Das Sozialgericht hat die Klage mangels Durchführung des Vorverfahrens als unzulässig abgewiesen. Dies entspricht § 78 SGG und ist, wenn der Kläger die Notwendigkeit des Vorverfahrens kennen musste und gleichwohl eine Klage erhebt, grundsätzlich nicht zu beanstanden. Das Berufungsgericht sieht in der Abweisung einer verfrühten Klage (Klage vor Abschluss des Vorverfahrens) als unzulässig demzufolge auch keinen Verfahrensfehler des Sozialgerichts. Es stützt die Zurückverweisung deshalb nicht auf § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb der Kläger sich nicht an die eindeutige Regelung des § 78 SGG zu halten hat, dass das Vorverfahren vor Erhebung einer Anfechtungsklage, ggf. auch in Verbindung mit einer anderen Klage, durchzuführen ist.

Das Berufungsgericht ist sich dessen bewusst, dass eine in der Literatur verbreitete Auffassung (Leitherer in Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 10. Auflage 2012, § 78 Rn. 3a, und Breitkreuz in Breitkreuz / Fichte, SGG, 1. Auflage 2008, § 78 Rn. 8) bei einer verfrühten Klage generell vom Gericht fordert, das Gerichtsverfahren auszusetzen, um dem Kläger Gelegenheit zu geben, das ausstehende Vorverfahren nachzuholen. Diese Auffassung bezieht sich auf mehrere Urteile des BSG, insbesondere auf die Urteile vom 22.06.1966, Az. 3 RK 64/62; vom 03.03.1999, Az. B 6 KA 10/98 R, und vom 13.12.2000, B 6 KA 1/00R. Diesen Urteilen lagen allerdings Konstellationen zu Grunde, in denen der betreffende Kläger nicht erkennen konnte, ob ein Vorverfahren erforderlich war. Das Berufungsgericht bezweifelt, dass diese Rechtsprechung so verallgemeinert werden kann, dass eine Aussetzung des Gerichtsverfahrens zur Nachholung des Vorverfahrens auch dann zu erfolgen hat, wenn ein Verwaltungsakt mit eindeutiger Rechtsbehelfsbelehrung zum Widerspruch vorliegt. Wenn ein Kläger in einer solchen Situation bewusst oder aus Nachlässigkeit das Vorverfahren nicht abwartet und eine verfrühte Klage erhebt, ist er nicht schutzbedürftig.

Das gilt auch in Hinblick auf eine theoretisch denkbare Untätigkeitsklage, wenn, wie hier, die dreimonatige Wartefrist nach § 88 Abs. 2 SGG noch nicht abgelaufen ist. Von einer Untätigkeitsklage darf das Gericht im Übrigen erst dann ausgehen, wenn ein Kläger - ggf. nach gerichtlichem Hinweis gemäß § 106 Abs. 1 SGG, dass dies sachdienlich wäre - diese Klage tatsächlich erhoben hat. Eine dann ggf. erhobene und zulässige Untätigkeitsklage ändert aber nichts an der Unzulässigkeit einer parallelen verfrühten Klage in der Sache. Eine mögliche Untätigkeitsklage wurde im Urteil des BSG vom 13.12.2000, B 6 KA 1/00 R, Rn. 25, als weitere Begründung für die Nachholung des Widerspruchsverfahrens angeführt.

Das Berufungsgericht sieht auch keinen Grund dafür, einen Kläger bei einer verfrühten Klage durch die Aussetzung des Verfahrens dergestalt zu privilegieren, dass er die einmonatige Klagefrist nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids (§ 87 SGG) nicht mehr versäumen kann.

Die Zurückverweisung beruht auf § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Danach kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden.

Das Sozialgericht hat die Klage gemäß § 78 SGG als unzulässig abgewiesen. Dies ergibt sich bei einem erstinstanzlichen Urteil nicht aus dem Tenor, sondern aus den Entscheidungsgründen (Keller in Meyer-Ladewig, a.a.O., § 131 Rn. 3). Fehlt eine Zulässigkeitsvoraussetzung, darf ein Sachurteil schon wegen der unterschiedlichen Rechtskraft des Urteils (§ 141 SGG) nicht ergehen. Erst Recht kann eine tatsächlich unzulässige Klage nicht hilfsweise "Im Übrigen auch als unbegründet" abgewiesen werden.

Die Zulässigkeitsvoraussetzungen sind vom Gericht in jeder Instanz bis zur letzten mündlichen Verhandlung zu prüfen (Keller, a.a.O., Rn. 20 vor § 51). Zulässigkeitsvoraussetzungen, die im Klageverfahren fehlten, können im Berufungs- oder Beschwerdeverfahren noch eintreten. Während der laufenden Nichtzulassungsbeschwerde ist der Widerspruchsbescheid vom 28.05.2013 ergangen. Damit wurde die Klage nachträglich zulässig. Dass eine derartige Rückwirkung besteht, ergibt sich auch aus den vorgenannten vom BSG veranlassten Zurückverweisungen zur Nachholung des Vorverfahrens.

Damit wäre nunmehr - in der Berufungsinstanz - eine Entscheidung in der Sache möglich. Eine Zurückverweisung ist die Ausnahme. Das Berufungsgericht verweist den Rechtsstreit gleichwohl an das Sozialgericht zurück. Diese Ermessensentscheidung (vgl. Keller, a.a.O., § 159 Rn. 5 ff) beruht auf folgenden Erwägungen: Die durch die Zurückverweisung entstehende Verzögerung trifft vor allem den Kläger, der höhere existenzsichernde Leistungen begehrt. Er hatte es aber selbst in der Hand, nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids, entsprechend der Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheids und den Hinweisen im Urteil des Sozialgerichts, die nunmehr zulässige Klage zum Sozialgericht zu erheben. Der Kläger hat sich die durch die Zurückverweisung entstehende Verzögerung selbst zuzuschreiben. Weiter spricht für die Zurückverweisung, dass die gesamte bisherige Verfahrensdauer gering ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.

Die Revision wurde nicht zugelassen, weil keine Gründe nach § 160 Abs. 2 SGG ersichtlich sind. Ob neben der Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG auch eine Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG vertretbar wäre, ist für die Zurückverweisung nicht entscheidungserheblich.
Rechtskraft
Aus
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