Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 P 39/11
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 4/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 P 6/13 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 30.04.1965 (Zustimmungsgesetz vom 13.09.1965m BGBl II 1965 S. 1169), geändert durch das Zusatzabkommen vom 02.11.1984 (Zustimmungsgesetz vom 11.02.1986, BGBl II 1986, S. 1038), ist auf die deutschen Rechtsvorschriften über die soziale Pflegeversicherung nicht anwendbar.
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 15. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Parteien ist streitig, ob die Beklagte der Klägerin für die Dauer eines - noch durchzuführenden - Aufenthalts in der Türkei über die ersten sechs Wochen des Aufenthalts hinaus Pflegegeld nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) zu zahlen hätte.
Die bei der Beklagten versicherte Klägerin und ihr Ehemann sind türkische Staatsangehörige. Seit dem 16.04.1997 erhält die Klägerin Pflegegeld nach der Pflegestufe II. Am 25.01.2011 beantragte sie gegenüber der Beklagten, diese möge durch rechtsbehelfsfähigen Bescheid feststellen, dass die Klägerin im Falle eines Aufenthalts in der Türkei von vier Monaten Anspruch auf Pflegegeld über sechs Wochen hinaus habe. Nach dem "Abkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei 1980/V" seien türkischen Staatsbürgern sämtliche Leistungen zu gewähren, die EU-Staaten den Staatsbürgern anderer EU-Staaten gewähren.
Mit Schreiben vom 31.01.2011 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie keine Pflegegeldauszahlung vornehmen könne, wenn sich die Klägerin über sechs Wochen hinaus in der Türkei aufhalte. Das Schreiben enthielt eine Belehrung über die Möglichkeit, gegen die Entscheidung binnen eines Monats Widerspruch einzulegen.
Den hiergegen am 03.02.2011 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30.03.2011 zurück. Der Widerspruch sei bereits unzulässig, weil das Schreiben vom 31.01.2011 keinen Verwaltungsakt darstelle, sondern lediglich eine Auskunft zur gängigen Rechtslage gebe. Das Schreiben vom 31.01.2011 sei deshalb als schlichtes Verwaltungshandeln in der Form einer schriftlichen Information zu bewerten. Eine Beschwer der Klägerin liege nicht vor. Der Widerspruch sei auch nicht begründet. Nach § 34 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) ruhe der Anspruch auf Pflegeleistungen, solange sich der Versicherte im Ausland aufhalte. Bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt von bis zu sechs Wochen im Kalenderjahr sei das Pflegegeld weiter zu gewähren. Zwar komme nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) der Export von Pflegegeld für Versicherte deutscher Pflegekassen, die sich in einem anderen Staat des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) oder der Schweiz aufhalten, in Betracht. Jedoch gelte dies nur für den Export von Pflegeleistungen in andere EU/EWR-Staaten oder die Schweiz, nicht jedoch in andere Staaten. Es verbiete sich eine Übertragung der Rechtsprechung des EuGH auf Versicherte, die sich nicht nur vorübergehend in der Türkei aufhalten.
Hiergegen richtet sich die am 02.05.2011 beim Sozialgericht (SG) Augsburg erhobene Klage.
Die Klägerin hat sich darauf berufen, dass nach der Rechtsprechung des EuGH das Pflegegeld der deutschen Pflegeversicherung als Geldleistung bei Krankheit im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen sei. Türkische Staatsangehörige seien insoweit privilegiert, als auf sie sowohl die Verordnung Nr. 1408/71 als auch das Diskriminierungsverbot des Art. 12 Abs. 1 EG-Vertrag anwendbar seien. Weiter verbiete Art. 9 des Assoziationsabkommens zwischen dem EWR und der Türkei jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Schließlich verstoße die Beschränkung des Pflegegeldes auf sechs Wochen auch gegen den Beschluss Nr. 3/80 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen vom 19.09.1980. Das Pflegegeld unterfalle als Leistung bei Krankheit dem Art. 4 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses, Art. 3 Abs. 1 lege den Grundsatz der Gleichbehandlung fest, und Art. 6 Abs. 1 verbiete es, den in einem Mitgliedstaat erwobenen Anspruch auf Pflegegeld ruhen zu lassen, nur weil sich der Anspruchsberechtigte in der Türkei aufhalte. Ein längerer Aufenthalt in der Türkei werde der Klägerin faktisch unmöglich gemacht. Ihr Ehemann, der sie auch in der Türkei weiter versorgen wolle, verfüge nur über eine geringe Rente, mit der allein er seinen Lebensunterhalt nicht sicherstellen könne. Nach Art. 13 des Assoziationsabkommens zwischen der EWR und der Türkei sollten alle Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit aufgehoben werden; die Niederlassung in der Türkei werde der Klägerin durch die Verweigerung des Pflegegeldes unmöglich gemacht.
Prozessual sei es der Klägerin nicht zumutbar, sich zuerst in die Türkei zu begeben, die Einstellung des Pflegegeldes abzuwarten und dann dagegen zu klagen. Sie könne verlangen, dass diese Rechtsfrage vor Antritt des Türkeiaufenthalts geklärt werde.
Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt, den Bescheid vom 31.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.03.2011 aufzuheben, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin bei einem Aufenthalt in der Türkei über die Dauer von sechs Wochen hinaus Pflegegeld zu zahlen, hilfsweise den Rechtsstreit dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Das SG hat mit Urteil vom 15.12.2011 (Az. S 10 P 39/11) die Klage gegen den Bescheid vom 31.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.03.2011 abgewiesen. Die Klage sei zulässig, denn das Schreiben der Beklagten vom 31.01.2011 sei als Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X zu qualifizieren. Die Klage sei aber nicht begründet. Gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 1a SGB XI ruhe der Anspruch auf Pflegegeld bei Pflegebedürftigen, die sich länger als sechs Wochen im Ausland aufhielten, sofern es sich nicht um Angehörige eines Mitgliedstaats der EU, eines Vertragsstaats des EWR oder der Schweiz handle. Einen Anspruch könne die Klägerin auch nicht aus der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ableiten, die auch nach Inkrafttreten der Nachfolge-Verordnung (EG) Nr. 883/2004 für Drittstaatsangehörige noch anwendbar sei. Denn diese Verordnung gebe auch den Angehörigen der Drittstaaten nur Ansprüche auf Leistungen in den Mitgliedstaaten, nicht in Drittstatten. Außerdem fehle es an dem für die Anwendung auf Drittstaatsangehörige notwendigen Element, das über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweise. Eine Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit im Sinne des Art. 18 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEU-Vertrag) liege nicht vor, weil auch deutsche Staatsangehörige keinen Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld in Drittstaaten hätten. Ebenso wenig könne ein Anspruch auf Zahlung von Pflegegeld bei einem über sechswöchigen Aufenthalt in der Türkei aus dem Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei vom 12.09.1963 einschließlich des Zusatzprotokolls vom 23.11.1970 und des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 abgeleitet werden. Auch auf das zwischen Deutschland und der Türkei geschlossene Abkommen über soziale Sicherheit vom 30.04.1964 in der Fassung der Änderung vom 02.11.1984 könne die Klage nicht gestützt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 beziehe sich dieses Abkommen nur auf die deutschen Rechtsvorschriften über die Krankenversicherung sowie den Schutz der erwerbstätigen Mutter, die Unfallversicherung, die Rentenversicherung und das Kindergeld für Arbeitnehmer. Eine Einbeziehung auch der Pflegeversicherung in das Abkommen sei nicht erfolgt. Angesichts des klaren Wortlauts des Abkommens könne jedoch keine Anwendung auf die deutschen Vorschriften über die Pflegeversicherung erfolgen.
Die Klägerin hat gegen das Urteil des SG, das ihr am 22.12.2011 zugestellt worden ist, am 23.01.2012, einem Montag, beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt.
Die Klägerin hat ihre Berufung damit begründet, dass das SG zu Unrecht angenommen habe, dass das zwischen Deutschland und der Türkei geschlossene Abkommen über soziale Sicherheit vom 30.06.1964 in der Fassung der Änderung vom 02.11.1984 nicht einschlägig sei. Der Anspruch auf Pflegegeld falle nämlich unter den Begriff der "Krankenversicherung" im Sinne dieses Abkommens. Die Pflegeversicherung habe zum Zeitpunkt des Abschlusses des Abkommens noch nicht bestanden. Nachdem jedoch seinerzeit sämtliche sozialen Sicherungen einbezogen werden sollten, sei im Wege der Auslegung auch das System der Pflegeversicherung einzubeziehen. Im Gegensatz zur Auffassung des SG liege auch eine Diskriminierung der Klägerin aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit vor. Die Klägerin sei als türkische Staatsangehörige zwar in der Lage, ihr Pflegegeld überall in der EU über die Dauer von sechs Wochen hinaus zu erhalten, nicht jedoch in ihrem Heimatland. Da aber alle Bürger der EU Pflegegeld über sechs Wochen hinaus bei einem Aufenthalt in ihrem Heimatland erhielten, stelle dies eine ganz deutliche Diskriminierung dar.
Die Beklagte ist der Auffassung, dass keine Diskriminierung vorliege, weil die Leistungseinschränkung für Aufenthalte in der Türkei Inländer genauso treffe wie Ausländer. Das zwischenstaatliche Abkommen mit der Türkei sehe Leistungsaushilfe nur im Rahmen der Krankenversicherung vor, nicht aber im Rahmen der Pflegeversicherung.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung am 15.05.2013 erklärt, dass sich die Klägerin derzeit in der Türkei aufhalte. Nähere Angaben, wie lange der Aufenthalt geplant sei, hat er nicht machen können. Der Senat hat noch während der Sitzung festgestellt, dass die Klägerin noch in A-Stadt gemeldet ist. Die Beklagte hat dazu mitgeteilt, dass die Klägerin nach wie vor laufende Geldleistungen der Pflegestufe II erhält.
Die Klägerin und Berufungsklägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 15.12.2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 31.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.03.2011 aufzuheben und festzustellen, dass die Beklagte bei einem Aufenthalt der Klägerin in der Türkei verpflichtet ist, der Klägerin über die Dauer von sechs Wochen hinaus Pflegegeld zu zahlen.
Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Berufung bedarf gemäß § 144 SGG keiner Zulassung.
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage nach § 54 Abs. 1 und § 55 Nr. 1 SGG zulässig. Als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG bzw. kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG ist die Klage nicht zulässig, weil ein Anspruch auf Leistung im Ausland noch nicht entstanden ist, da die Klägerin noch in Deutschland lebt und Leistungen bezieht. Allein aus der Angabe des Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vom 15.05.2013, dass sich die Klägerin gerade in der Türkei aufhalte, kann nicht geschlossen werden, dass es sich um einen Aufenthalt von mehr als sechs Wochen handelt, zumal die Klägerin noch in A-Stadt gemeldet ist und der Beklagten keine Anzeige über einen längerfristigen Heimataufenthalt gemacht hat. Die Klägerin erstrebt also die Klärung einer Rechtsfrage für den noch nicht eingetretenen Fall, dass sie sich längerfristig - also für einen Zeitraum von über sechs Wochen - in die Türkei begibt. Abstrakte Rechtsfragen sind grundsätzlich kein zulässiger Gegenstand von gerichtlichen Streitigkeiten. Deshalb kann auch ein künftiges Rechtsverhältnis nicht Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung sein, solange wesentliche Elemente noch unbestimmt sind. Zukünftige Rechtsverhältnisse können nur dann ausnahmsweise zum Gegenstand einer Feststellungsklage gemacht werden, wenn ein besonderes Feststellungsinteresse vorliegt (Keller, in: Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, SGG, 10. A., 2012, § 55 Rdnr. 8b). Hierfür ist erforderlich, dass die maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen des zukünftigen Rechtsverhältnisses schon gelegt sind; in der Regel wird jedenfalls zu fordern sein, dass das dem Klagevortrag zugrunde liegende Geschehen zeitlich und örtlich festgelegt ist und die Beteiligten individualisiert sind (Keller, aaO.). Diese Voraussetzungen können im vorliegenden Fall bejaht werden, da die Absicht der Klägerin, sich mit ihrem Mann als Pflegeperson in die Türkei zu begeben, konkret ist, und es der Klägerin nicht zuzumuten ist, sich ohne vorherige Klärung dieser Rechtsfrage in die Türkei zu begeben, zumal die Klägerin und ihr Ehemann auf das Pflegegeld zu ihrer Existenzsicherung angewiesen sind und eine Prozessführung von der Türkei aus für alle Beteiligten sehr schwierig ist. Die Anfechtungsklage ist zulässig, weil das Schreiben der Beklagten vom 31.01.2011 einen Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X darstellte. Die Mitteilung, dass keine Pflegegeldauszahlung möglich wäre, wenn sich die Klägerin über sechs Wochen lang in der Türkei aufhielte, konnte sowohl als schlichte Auskunft im Sinne eines rein faktischen Handelns ohne Regelungscharakter als auch als hoheitliche verbindliche Regelung mit Außenwirkung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts im Sinne eines Verwaltungsakts nach § 31 SGB X ergehen. Ob rein faktisches Handeln oder eine hoheitliche verbindliche Regelung im Einzelfall vorlag, ist danach zu bestimmen, wie die Klägerin das Schreiben von ihrem Empfängerhorizont aus verstehen durfte. Da die Beklagte das Schreiben mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen hat, konnte das Schreiben vom Empfängerhorizont der Klägerin aus nur so verstanden werden, dass die Beklagte einen Verwaltungsakt erlassen wollte.
Die Feststellungsklage ist unbegründet, denn die Klägerin hat im Falle eines Aufenthalts in Türkei keinen Anspruch auf Fortzahlung des Pflegegeldes über die ersten sechs Wochen des Aufenthalts hinaus. Ein solcher Anspruch ergibt sich weder aus innerstaatlichem Recht noch aus primärem oder sekundärem Europarecht noch aus einem bilateralen Abkommen zwischen Deutschland und der Türkei.
1. Innerstaatliches Recht
Ein Anspruch auf Zahlung von Pflegegeld in die Türkei bei einem Aufenthalt von über sechs Wochen ist im SGB XI nicht vorgesehen. Nach § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI ruht der Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung, solange sich der Versicherte im Ausland aufhält. Bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt von bis zu sechs Wochen im Kalenderjahr ist das Pflegegeld nach § 37 weiter zu gewähren. § 34 Abs. 1a SGB XI zufolge ruht der Anspruch auf Pflegegeld nicht bei pflegebedürftigen Versicherten, die sich in einem Mitgliedstaat der EU, einem Vertragsstaat des Abkommens über den EWR oder der Schweiz aufhalten. Demnach besteht ein Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld bei einem sechs Wochen übersteigenden Auslandsaufenthalt zwar unabhängig davon, ob der Pflegebedürftige deutscher Staatsangehöriger, Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der EU, eines Vertragsstaats des EWR, der Schweiz oder eines Drittstaats ist. Jedoch besteht der Anspruch nur bei einem Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der EU, eines Vertragsstaats des EWR oder in der Schweiz. Ein Anspruch auf Pflegegeld bei über sechswöchigem Aufenthalt in einem Drittstaat wie der Türkei besteht nicht.
2. Europarecht
Europäisches Primärrecht ist nicht betroffen. Eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit im Sinne des Art. 18 AEU-Vertrags liegt schon deshalb nicht vor, weil auch deutsche Staatsangehörige keinen Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld bei einem Aufenthalt von über sechs Wochen in Drittstaaten haben. Die Argumentation des Klägers, eine Diskriminierung liege darin, dass die Angehörigen der EU das Pflegegeld in ihrer "Heimat" beziehen dürften, Drittstaatsangehörige nicht, geht fehl, denn § 34 SGB XI differenziert nicht nach der Heimat, sondern nach bestimmten Staaten, unabhängig davon, ob sie für die Betroffenen Heimat sind oder nicht. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß Art. 45 AEU-Vertrag gilt von vornherein nur innerhalb des Unionsgebiets und steht deshalb bei Benachteiligungen bei einem Umzug in Drittstaaten nicht entgegen, ganz davon abgesehen, dass die Klägerin nicht beabsichtigt, in der Türkei eine Beschäftigung aufzunehmen.
Auch aus sekundärem Europarecht lässt sich ein Anspruch auf Pflegegeld in Drittstaaten über die nationale Regelung hinaus nicht ableiten, und zwar weder aus den Verordnungen (EG) Nrn. 883/2004 und 1408/71 noch aus dem Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei und den aufgrund dieses Abkommens ergangenen Rechtsakten.
Zum 01.05.2010 ist die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Kraft getreten. Diese sieht in ihrem Art. 7 die Aufhebung von Wohnortklauseln vor, d. h. Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, dürfen nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt oder wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Unter Mitgliedstaaten sind jedoch nur solche der EU zu verstehen, wozu die Türkei nicht gehört. Darüber hinaus ist für die Klägerin auch nicht der persönliche Geltungsbereich nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung eröffnet, weil sie weder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats noch Familienangehörige eines solchen Staatsangehörigen ist.
Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ist mit ihrem Inkrafttreten grundsätzlich an die Stelle der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, getreten. Die Letztgenannte bleibt jedoch gemäß Art. 90 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 in Kraft für die Zwecke der Verordnung (EG) Nr. 859/2003 des Rates vom 14.05.2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen. Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 859/2003 sieht vor, dass die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen, sowie auf ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen Anwendung finden, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben und ihre Situation mit einem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist. Am letztgenannten Tatbestandsmerkmal scheitert die Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 auf die Klägerin, denn es ist kein Element ihrer Situation bzw. der Situation ihres Ehemannes bekannt, das über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist. Hierfür sind nämlich die Verbindungen in einen Drittstaat (hier: Türkei) nicht ausreichend, wie sich aus Nr. 12 der Erwägungsgründe ergibt, wonach eine Situation, die mit keinem Element über die Grenzen eines einzigen Mitgliedstaats hinausweist, insbesondere dann vorliegt, wenn die Situation eines Drittstaatsangehörigen ausschließlich Verbindungen zu einem Drittstaat und einem einzigen Mitgliedstaat ausweist. Doch selbst wenn die Klägerin oder ihr Ehemann noch Verbindungen zu weiteren Mitgliedstaaten der EU hätten und demnach der persönliche Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 eröffnet wäre, würde sich hieraus ein Anspruch auf Weiterzahlung des Pflegegeldes in die Türkei nicht ergeben. Der Gleichbehandlungsanspruch gegenüber Inländern nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung gibt insoweit nichts her, denn Deutschen steht ein Anspruch auf Zahlung von Pflegegeld in die Türkei ebenso wenig zu wie Türken. Die Ungleichbehandlung kann auch hier nicht dadurch konstruiert werden, dass Türken anders als Deutsche keinen Anspruch auf Zahlung in ihr "Heimatland" haben, denn der Begriff "Heimat" ist kein Anknüpfungsmerkmal der Regelung in § 34 SGB XI.
Die Aufhebung der Wohnortklauseln in Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 bezieht sich nur auf die Geldleistungen bei Invalidität, Alter oder für die Hinterbliebenen, die Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten und die Sterbegelder, nicht jedoch auf Leistungen bei Krankheit, unter die das Pflegegeld zu subsumieren ist.
Der Anspruch auf Fortzahlung von Pflegegeld in die Türkei ergibt sich auch nicht aus Art. 19 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 im Kapitel über Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft. Danach erhält ein Arbeitnehmer oder Selbstständiger, der im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates als des zuständigen Staates wohnt, im Wohnsitzstaat Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften. Zwar stellt das von der deutschen Pflegeversicherung zu zahlende Pflegegeld eine Geldleistung bei Krankheit im Sinne dieser Vorschrift dar (EuGH, Urteil vom 05.03.1998 Az. C-160/96, "Molenaar"). Jedoch gilt die Vorschrift nur bei Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat, worunter nicht die Türkei als Drittstaat zählt. Daran ändert auch die Einbeziehung von Drittstaatsangehörigen in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung nichts. Sie bewirkt nur, dass Drittstaatsangehörige in anderen Mitgliedstaaten der EU die gleichen Rechte haben wie Unionsbürger, nicht aber, dass diese Rechte auch bei Aufenthalten in den Drittstaaten bestehen.
3. Abkommen der EU mit der Türkei
Ebenso wenig kann ein Anspruch auf Zahlung von Pflegegeld bei einem über sechswöchigem Aufenthalt in der Türkei aus dem Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei vom 12.09.1963 einschließlich des Zusatzprotokolls vom 23.11.1970 und des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 abgeleitet werden, die Bestandteil des vorrangigen EU-Rechts sind. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist eine Bestimmung eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommens nur dann unmittelbar anwendbar, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Gegenstand und die Natur des Abkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen. Art. 12 des Assoziierungsabkommens, wonach die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise hergestellt werden soll, hat nur Programmcharakter und ist deshalb nicht unmittelbar anwendbar (Urteil des EuGH vom 30.09.1987, Az: C-12/86, "Demirel"). Den Vertragsparteien wird in der Vorschrift nur eine allgemeine Verpflichtung auferlegt, zur Verwirklichung der Ziele des Abkommens zusammenzuarbeiten. Dasselbe gilt für Art. 39 des Zusatzprotokolls vom 23.11.1970, dem zufolge der Assoziationsrat Bestimmungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer türkischer Staatsangehörigkeit erlässt, die von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu- oder abwandern, und wonach die Möglichkeit einer Ausfuhr der Alters-, Hinterbliebenen- und Invaliditätsrenten in die Türkei bestehen muss. Ein Verstoß gegen Art. 9 des Assoziierungsabkommens, der eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet, liegt nicht vor, da - wie oben bereits dargelegt wurde - keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit stattfindet.
Auch der Beschluss Nr. 3/80 des Assoziationsrates, der auf Grundlage von Art. 39 des Zusatzprotokolls erlassen wurde, enthält keine unmittelbar anwendbare Bestimmung, die einen Anspruch auf Pflegegeld bei einem über sechswöchigen Türkeiaufenthalt enthält. Zwar sind nach der Rechtsprechung des EuGH sowohl Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80, der die Gleichbehandlung der türkischen Staatsangehörigen mit den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats regelt, als auch Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses, der die Aufhebung von Wohnortklauseln für Geldleistungen bei Invalidität und Alter oder für Hinterbliebene sowie bei Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten festlegt, unmittelbar anwendbar (Urteile des EuGH vom 04.05.1999, Az: C-262/96, "Sürül" und vom 26.05.2011, Az: C-485/07). Jedoch handelt es sich im Fall der Klägerin weder um eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, noch um ein Ruhen einer Geldleistung bei Invalidität, Alter oder für Hinterbliebene beziehungsweise einer Rente bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten. Hinsichtlich der Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft, zu denen nach der Rechtsprechung des EuGH zur Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 auch das Pflegegeld der deutschen Pflegeversicherung zählt (Urteil vom 05.03.1998 Az. C-160/96, "Molenaar"), wird in Art. 10 und 11 des Beschlusses Nr. 3/80 auf die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 verwiesen, insbesondere auf deren Artikel 19. Dieser gilt jedoch nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 11 des Beschlusses Nr. 3/80 nur für die Gewährung der Leistungen und die Erstattung "zwischen Trägern der Mitgliedstaaten". Es führt also gerade nicht dazu, dass Art. 19 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 auf einen Aufenthalt in der Türkei anwendbar wäre, sondern erweitert lediglich den persönlichen Anwendungsbereich dieser Vorschrift auf türkische Staatsangehörige, wenn sich diese in einem anderen Mitgliedstaat der EU aufhalten.
4. Abkommen der Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei
Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 30.04.1964 (Zustimmungsgesetz vom 13.09.1965, BGBl II 1965, S. 1169), geändert durch das Zusatzabkommen vom 02.11.1984 (Zustimmungsgesetz vom 11.2.1986, BGBl II 1986, S. 1038), bezieht sich nach seinem Art. 2 Abs. 1 nur auf die deutschen Rechtsvorschriften über die Krankenversicherung sowie den Schutz der erwerbstätigen Mutter, die Unfallversicherung, die Rentenversicherung und die hüttenknappschaftliche Zusatzversicherung, die Altershilfe für Landwirte und das Kindergeld für Arbeitnehmer.
Angesichts des klaren Wortlauts der Vorschrift über den Geltungsbereich des Abkommens kann dieses auf die deutschen Vorschriften über die Pflegeversicherung nicht angewandt werden. Die Einbeziehung der deutschen Vorschriften über die Pflegeversicherung lässt sich auch nicht auf die Überlegung gründen, dass die Argumente, die den EuGH in seinem Urteil "Molenaar" dazu bewogen haben, die deutsche Pflegeversicherung als Krankenversicherung im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 anzusehen, auch auf das bilaterale Abkommen zwischen Deutschland und der Türkei zuträfen. Hierzu zählt insbesondere das Argument, dass die Leistungen der Pflegeversicherung im Wesentlichen eine Ergänzung der Leistungen der Krankenversicherung bezwecken, mit der sie auch organisatorisch verknüpft sind, um den Gesundheitszustand und die Lebensbedingungen der Pflegebedürftigen zu verbessern (EuGH, Urteil "Molenaar", Rdnr. 24 bei Juris). Gegen eine weite Auslegung des Begriffs der Krankenversicherung in Art. 2 Abs. 1 des deutsch-türkischen Abkommens, die die deutsche Pflegeversicherung mit einschließen würde, spricht nämlich der Umstand, dass es die Pflegeversicherung in Deutschland weder im Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens am 30.04.1964 noch bei Abschluss des Zusatzabkommens vom 02.11.1984 bereits gab. Vielmehr ist das SGB XI erst zum 01.04.1995 in Kraft getreten. Die vorher im deutschen Krankenversicherungsrecht geregelten Leistungen bei Pflegebedürftigkeit waren nicht annähernd mit dem an Pflegestufen orientierten System des SGB XI vergleichbar (s.u. § 57 SGB V i.d.F. des Gesetzes vom 20.12.1988, BGBl. I S. 2477). Um den Anwendungsbereich des deutsch-türkischen Abkommens von deutscher Seite aus auf einen neu geschaffenen Zweig der Sozialversicherung zu erstrecken, hätte es der ausdrücklichen Einbeziehung durch ein eigenes Zusatzabkommen bedurft. Es kann den Vertragspartnern nicht der Wille unterstellt werden, dass sie das Abkommen mit gleichem Inhalt auch für das später eingeführte neue Recht der deutschen Pflegeversicherung abgeschlossen hätten.
Da schon der Geltungsbereich des deutsch-türkischen Abkommens über soziale Sicherheit nicht eröffnet ist, braucht die Frage nicht beantwortet zu werden, welche Ansprüche sich aus Art. 12 Abs. 1 Buchst. a i. V. m. Art. 4a des Abkommens im vorliegenden Fall ergeben würden, wenn diese Vorschriften auf das Pflegegeld des deutschen Pflegeversicherungsrechts anwendbar wären. Nach diesen Vorschriften dürfte eine Geldleistung der einen Vertragspartei gegenüber Staatsangehörigen der anderen Vertragspartei nicht wegen eines Aufenthalts im Gebiet der anderen Vertragspartei verweigert werden, wenn der zuständige Träger nach Eintritt des Versicherungsfalles der Verlegung des Aufenthalts in das Gebiet der anderen Vertragspartei vor dem Umzug zugestimmt hat. Leider regelt das Abkommen in der Fassung des Zusatzabkommens vom 02.11.1984 nicht mehr, unter welchen Voraussetzungen der Versicherte Anspruch auf Erteilung der Zustimmung zu dem Umzug hat. In Art. 12 Satz 2 der Ursprungsfassung des Abkommens vom 30.04.1964 war noch ausdrücklich geregelt, dass die Zustimmung zur Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts dann zu erteilen ist, wenn keine ärztlichen Bedenken dagegen geltend gemacht werden, die Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich mindestens drei Monate dauern wird und die Person sich zu den Angehörigen begibt. Diese Voraussetzungen könnten im Falle der Klägerin vorliegen, jedoch stellt sich die Frage nicht, weil für die Vorschriften des deutschen Pflegeversicherungsrechts der Anwendungsbereich des deutsch-türkischen Abkommens über soziale Sicherheit nicht eröffnet ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG zuzulassen, weil die Frage, ob das deutsch-türkische Abkommen über soziale Sicherheit auch auf die deutschen Rechtsvorschriften über die soziale Pflegeversicherung anwendbar ist, grundsätzliche Bedeutung hat und höchstrichterlich noch nicht entschieden ist.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Parteien ist streitig, ob die Beklagte der Klägerin für die Dauer eines - noch durchzuführenden - Aufenthalts in der Türkei über die ersten sechs Wochen des Aufenthalts hinaus Pflegegeld nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) zu zahlen hätte.
Die bei der Beklagten versicherte Klägerin und ihr Ehemann sind türkische Staatsangehörige. Seit dem 16.04.1997 erhält die Klägerin Pflegegeld nach der Pflegestufe II. Am 25.01.2011 beantragte sie gegenüber der Beklagten, diese möge durch rechtsbehelfsfähigen Bescheid feststellen, dass die Klägerin im Falle eines Aufenthalts in der Türkei von vier Monaten Anspruch auf Pflegegeld über sechs Wochen hinaus habe. Nach dem "Abkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei 1980/V" seien türkischen Staatsbürgern sämtliche Leistungen zu gewähren, die EU-Staaten den Staatsbürgern anderer EU-Staaten gewähren.
Mit Schreiben vom 31.01.2011 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie keine Pflegegeldauszahlung vornehmen könne, wenn sich die Klägerin über sechs Wochen hinaus in der Türkei aufhalte. Das Schreiben enthielt eine Belehrung über die Möglichkeit, gegen die Entscheidung binnen eines Monats Widerspruch einzulegen.
Den hiergegen am 03.02.2011 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30.03.2011 zurück. Der Widerspruch sei bereits unzulässig, weil das Schreiben vom 31.01.2011 keinen Verwaltungsakt darstelle, sondern lediglich eine Auskunft zur gängigen Rechtslage gebe. Das Schreiben vom 31.01.2011 sei deshalb als schlichtes Verwaltungshandeln in der Form einer schriftlichen Information zu bewerten. Eine Beschwer der Klägerin liege nicht vor. Der Widerspruch sei auch nicht begründet. Nach § 34 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) ruhe der Anspruch auf Pflegeleistungen, solange sich der Versicherte im Ausland aufhalte. Bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt von bis zu sechs Wochen im Kalenderjahr sei das Pflegegeld weiter zu gewähren. Zwar komme nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) der Export von Pflegegeld für Versicherte deutscher Pflegekassen, die sich in einem anderen Staat des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) oder der Schweiz aufhalten, in Betracht. Jedoch gelte dies nur für den Export von Pflegeleistungen in andere EU/EWR-Staaten oder die Schweiz, nicht jedoch in andere Staaten. Es verbiete sich eine Übertragung der Rechtsprechung des EuGH auf Versicherte, die sich nicht nur vorübergehend in der Türkei aufhalten.
Hiergegen richtet sich die am 02.05.2011 beim Sozialgericht (SG) Augsburg erhobene Klage.
Die Klägerin hat sich darauf berufen, dass nach der Rechtsprechung des EuGH das Pflegegeld der deutschen Pflegeversicherung als Geldleistung bei Krankheit im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen sei. Türkische Staatsangehörige seien insoweit privilegiert, als auf sie sowohl die Verordnung Nr. 1408/71 als auch das Diskriminierungsverbot des Art. 12 Abs. 1 EG-Vertrag anwendbar seien. Weiter verbiete Art. 9 des Assoziationsabkommens zwischen dem EWR und der Türkei jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Schließlich verstoße die Beschränkung des Pflegegeldes auf sechs Wochen auch gegen den Beschluss Nr. 3/80 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen vom 19.09.1980. Das Pflegegeld unterfalle als Leistung bei Krankheit dem Art. 4 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses, Art. 3 Abs. 1 lege den Grundsatz der Gleichbehandlung fest, und Art. 6 Abs. 1 verbiete es, den in einem Mitgliedstaat erwobenen Anspruch auf Pflegegeld ruhen zu lassen, nur weil sich der Anspruchsberechtigte in der Türkei aufhalte. Ein längerer Aufenthalt in der Türkei werde der Klägerin faktisch unmöglich gemacht. Ihr Ehemann, der sie auch in der Türkei weiter versorgen wolle, verfüge nur über eine geringe Rente, mit der allein er seinen Lebensunterhalt nicht sicherstellen könne. Nach Art. 13 des Assoziationsabkommens zwischen der EWR und der Türkei sollten alle Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit aufgehoben werden; die Niederlassung in der Türkei werde der Klägerin durch die Verweigerung des Pflegegeldes unmöglich gemacht.
Prozessual sei es der Klägerin nicht zumutbar, sich zuerst in die Türkei zu begeben, die Einstellung des Pflegegeldes abzuwarten und dann dagegen zu klagen. Sie könne verlangen, dass diese Rechtsfrage vor Antritt des Türkeiaufenthalts geklärt werde.
Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt, den Bescheid vom 31.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.03.2011 aufzuheben, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin bei einem Aufenthalt in der Türkei über die Dauer von sechs Wochen hinaus Pflegegeld zu zahlen, hilfsweise den Rechtsstreit dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Das SG hat mit Urteil vom 15.12.2011 (Az. S 10 P 39/11) die Klage gegen den Bescheid vom 31.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.03.2011 abgewiesen. Die Klage sei zulässig, denn das Schreiben der Beklagten vom 31.01.2011 sei als Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X zu qualifizieren. Die Klage sei aber nicht begründet. Gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 1a SGB XI ruhe der Anspruch auf Pflegegeld bei Pflegebedürftigen, die sich länger als sechs Wochen im Ausland aufhielten, sofern es sich nicht um Angehörige eines Mitgliedstaats der EU, eines Vertragsstaats des EWR oder der Schweiz handle. Einen Anspruch könne die Klägerin auch nicht aus der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ableiten, die auch nach Inkrafttreten der Nachfolge-Verordnung (EG) Nr. 883/2004 für Drittstaatsangehörige noch anwendbar sei. Denn diese Verordnung gebe auch den Angehörigen der Drittstaaten nur Ansprüche auf Leistungen in den Mitgliedstaaten, nicht in Drittstatten. Außerdem fehle es an dem für die Anwendung auf Drittstaatsangehörige notwendigen Element, das über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweise. Eine Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit im Sinne des Art. 18 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEU-Vertrag) liege nicht vor, weil auch deutsche Staatsangehörige keinen Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld in Drittstaaten hätten. Ebenso wenig könne ein Anspruch auf Zahlung von Pflegegeld bei einem über sechswöchigen Aufenthalt in der Türkei aus dem Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei vom 12.09.1963 einschließlich des Zusatzprotokolls vom 23.11.1970 und des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 abgeleitet werden. Auch auf das zwischen Deutschland und der Türkei geschlossene Abkommen über soziale Sicherheit vom 30.04.1964 in der Fassung der Änderung vom 02.11.1984 könne die Klage nicht gestützt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 beziehe sich dieses Abkommen nur auf die deutschen Rechtsvorschriften über die Krankenversicherung sowie den Schutz der erwerbstätigen Mutter, die Unfallversicherung, die Rentenversicherung und das Kindergeld für Arbeitnehmer. Eine Einbeziehung auch der Pflegeversicherung in das Abkommen sei nicht erfolgt. Angesichts des klaren Wortlauts des Abkommens könne jedoch keine Anwendung auf die deutschen Vorschriften über die Pflegeversicherung erfolgen.
Die Klägerin hat gegen das Urteil des SG, das ihr am 22.12.2011 zugestellt worden ist, am 23.01.2012, einem Montag, beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt.
Die Klägerin hat ihre Berufung damit begründet, dass das SG zu Unrecht angenommen habe, dass das zwischen Deutschland und der Türkei geschlossene Abkommen über soziale Sicherheit vom 30.06.1964 in der Fassung der Änderung vom 02.11.1984 nicht einschlägig sei. Der Anspruch auf Pflegegeld falle nämlich unter den Begriff der "Krankenversicherung" im Sinne dieses Abkommens. Die Pflegeversicherung habe zum Zeitpunkt des Abschlusses des Abkommens noch nicht bestanden. Nachdem jedoch seinerzeit sämtliche sozialen Sicherungen einbezogen werden sollten, sei im Wege der Auslegung auch das System der Pflegeversicherung einzubeziehen. Im Gegensatz zur Auffassung des SG liege auch eine Diskriminierung der Klägerin aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit vor. Die Klägerin sei als türkische Staatsangehörige zwar in der Lage, ihr Pflegegeld überall in der EU über die Dauer von sechs Wochen hinaus zu erhalten, nicht jedoch in ihrem Heimatland. Da aber alle Bürger der EU Pflegegeld über sechs Wochen hinaus bei einem Aufenthalt in ihrem Heimatland erhielten, stelle dies eine ganz deutliche Diskriminierung dar.
Die Beklagte ist der Auffassung, dass keine Diskriminierung vorliege, weil die Leistungseinschränkung für Aufenthalte in der Türkei Inländer genauso treffe wie Ausländer. Das zwischenstaatliche Abkommen mit der Türkei sehe Leistungsaushilfe nur im Rahmen der Krankenversicherung vor, nicht aber im Rahmen der Pflegeversicherung.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung am 15.05.2013 erklärt, dass sich die Klägerin derzeit in der Türkei aufhalte. Nähere Angaben, wie lange der Aufenthalt geplant sei, hat er nicht machen können. Der Senat hat noch während der Sitzung festgestellt, dass die Klägerin noch in A-Stadt gemeldet ist. Die Beklagte hat dazu mitgeteilt, dass die Klägerin nach wie vor laufende Geldleistungen der Pflegestufe II erhält.
Die Klägerin und Berufungsklägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 15.12.2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 31.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.03.2011 aufzuheben und festzustellen, dass die Beklagte bei einem Aufenthalt der Klägerin in der Türkei verpflichtet ist, der Klägerin über die Dauer von sechs Wochen hinaus Pflegegeld zu zahlen.
Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Berufung bedarf gemäß § 144 SGG keiner Zulassung.
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage nach § 54 Abs. 1 und § 55 Nr. 1 SGG zulässig. Als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG bzw. kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG ist die Klage nicht zulässig, weil ein Anspruch auf Leistung im Ausland noch nicht entstanden ist, da die Klägerin noch in Deutschland lebt und Leistungen bezieht. Allein aus der Angabe des Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vom 15.05.2013, dass sich die Klägerin gerade in der Türkei aufhalte, kann nicht geschlossen werden, dass es sich um einen Aufenthalt von mehr als sechs Wochen handelt, zumal die Klägerin noch in A-Stadt gemeldet ist und der Beklagten keine Anzeige über einen längerfristigen Heimataufenthalt gemacht hat. Die Klägerin erstrebt also die Klärung einer Rechtsfrage für den noch nicht eingetretenen Fall, dass sie sich längerfristig - also für einen Zeitraum von über sechs Wochen - in die Türkei begibt. Abstrakte Rechtsfragen sind grundsätzlich kein zulässiger Gegenstand von gerichtlichen Streitigkeiten. Deshalb kann auch ein künftiges Rechtsverhältnis nicht Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung sein, solange wesentliche Elemente noch unbestimmt sind. Zukünftige Rechtsverhältnisse können nur dann ausnahmsweise zum Gegenstand einer Feststellungsklage gemacht werden, wenn ein besonderes Feststellungsinteresse vorliegt (Keller, in: Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, SGG, 10. A., 2012, § 55 Rdnr. 8b). Hierfür ist erforderlich, dass die maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen des zukünftigen Rechtsverhältnisses schon gelegt sind; in der Regel wird jedenfalls zu fordern sein, dass das dem Klagevortrag zugrunde liegende Geschehen zeitlich und örtlich festgelegt ist und die Beteiligten individualisiert sind (Keller, aaO.). Diese Voraussetzungen können im vorliegenden Fall bejaht werden, da die Absicht der Klägerin, sich mit ihrem Mann als Pflegeperson in die Türkei zu begeben, konkret ist, und es der Klägerin nicht zuzumuten ist, sich ohne vorherige Klärung dieser Rechtsfrage in die Türkei zu begeben, zumal die Klägerin und ihr Ehemann auf das Pflegegeld zu ihrer Existenzsicherung angewiesen sind und eine Prozessführung von der Türkei aus für alle Beteiligten sehr schwierig ist. Die Anfechtungsklage ist zulässig, weil das Schreiben der Beklagten vom 31.01.2011 einen Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X darstellte. Die Mitteilung, dass keine Pflegegeldauszahlung möglich wäre, wenn sich die Klägerin über sechs Wochen lang in der Türkei aufhielte, konnte sowohl als schlichte Auskunft im Sinne eines rein faktischen Handelns ohne Regelungscharakter als auch als hoheitliche verbindliche Regelung mit Außenwirkung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts im Sinne eines Verwaltungsakts nach § 31 SGB X ergehen. Ob rein faktisches Handeln oder eine hoheitliche verbindliche Regelung im Einzelfall vorlag, ist danach zu bestimmen, wie die Klägerin das Schreiben von ihrem Empfängerhorizont aus verstehen durfte. Da die Beklagte das Schreiben mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen hat, konnte das Schreiben vom Empfängerhorizont der Klägerin aus nur so verstanden werden, dass die Beklagte einen Verwaltungsakt erlassen wollte.
Die Feststellungsklage ist unbegründet, denn die Klägerin hat im Falle eines Aufenthalts in Türkei keinen Anspruch auf Fortzahlung des Pflegegeldes über die ersten sechs Wochen des Aufenthalts hinaus. Ein solcher Anspruch ergibt sich weder aus innerstaatlichem Recht noch aus primärem oder sekundärem Europarecht noch aus einem bilateralen Abkommen zwischen Deutschland und der Türkei.
1. Innerstaatliches Recht
Ein Anspruch auf Zahlung von Pflegegeld in die Türkei bei einem Aufenthalt von über sechs Wochen ist im SGB XI nicht vorgesehen. Nach § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI ruht der Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung, solange sich der Versicherte im Ausland aufhält. Bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt von bis zu sechs Wochen im Kalenderjahr ist das Pflegegeld nach § 37 weiter zu gewähren. § 34 Abs. 1a SGB XI zufolge ruht der Anspruch auf Pflegegeld nicht bei pflegebedürftigen Versicherten, die sich in einem Mitgliedstaat der EU, einem Vertragsstaat des Abkommens über den EWR oder der Schweiz aufhalten. Demnach besteht ein Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld bei einem sechs Wochen übersteigenden Auslandsaufenthalt zwar unabhängig davon, ob der Pflegebedürftige deutscher Staatsangehöriger, Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der EU, eines Vertragsstaats des EWR, der Schweiz oder eines Drittstaats ist. Jedoch besteht der Anspruch nur bei einem Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der EU, eines Vertragsstaats des EWR oder in der Schweiz. Ein Anspruch auf Pflegegeld bei über sechswöchigem Aufenthalt in einem Drittstaat wie der Türkei besteht nicht.
2. Europarecht
Europäisches Primärrecht ist nicht betroffen. Eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit im Sinne des Art. 18 AEU-Vertrags liegt schon deshalb nicht vor, weil auch deutsche Staatsangehörige keinen Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld bei einem Aufenthalt von über sechs Wochen in Drittstaaten haben. Die Argumentation des Klägers, eine Diskriminierung liege darin, dass die Angehörigen der EU das Pflegegeld in ihrer "Heimat" beziehen dürften, Drittstaatsangehörige nicht, geht fehl, denn § 34 SGB XI differenziert nicht nach der Heimat, sondern nach bestimmten Staaten, unabhängig davon, ob sie für die Betroffenen Heimat sind oder nicht. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß Art. 45 AEU-Vertrag gilt von vornherein nur innerhalb des Unionsgebiets und steht deshalb bei Benachteiligungen bei einem Umzug in Drittstaaten nicht entgegen, ganz davon abgesehen, dass die Klägerin nicht beabsichtigt, in der Türkei eine Beschäftigung aufzunehmen.
Auch aus sekundärem Europarecht lässt sich ein Anspruch auf Pflegegeld in Drittstaaten über die nationale Regelung hinaus nicht ableiten, und zwar weder aus den Verordnungen (EG) Nrn. 883/2004 und 1408/71 noch aus dem Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei und den aufgrund dieses Abkommens ergangenen Rechtsakten.
Zum 01.05.2010 ist die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Kraft getreten. Diese sieht in ihrem Art. 7 die Aufhebung von Wohnortklauseln vor, d. h. Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, dürfen nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt oder wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Unter Mitgliedstaaten sind jedoch nur solche der EU zu verstehen, wozu die Türkei nicht gehört. Darüber hinaus ist für die Klägerin auch nicht der persönliche Geltungsbereich nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung eröffnet, weil sie weder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats noch Familienangehörige eines solchen Staatsangehörigen ist.
Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ist mit ihrem Inkrafttreten grundsätzlich an die Stelle der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, getreten. Die Letztgenannte bleibt jedoch gemäß Art. 90 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 in Kraft für die Zwecke der Verordnung (EG) Nr. 859/2003 des Rates vom 14.05.2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen. Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 859/2003 sieht vor, dass die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen, sowie auf ihre Familienangehörigen und ihre Hinterbliebenen Anwendung finden, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben und ihre Situation mit einem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist. Am letztgenannten Tatbestandsmerkmal scheitert die Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 auf die Klägerin, denn es ist kein Element ihrer Situation bzw. der Situation ihres Ehemannes bekannt, das über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist. Hierfür sind nämlich die Verbindungen in einen Drittstaat (hier: Türkei) nicht ausreichend, wie sich aus Nr. 12 der Erwägungsgründe ergibt, wonach eine Situation, die mit keinem Element über die Grenzen eines einzigen Mitgliedstaats hinausweist, insbesondere dann vorliegt, wenn die Situation eines Drittstaatsangehörigen ausschließlich Verbindungen zu einem Drittstaat und einem einzigen Mitgliedstaat ausweist. Doch selbst wenn die Klägerin oder ihr Ehemann noch Verbindungen zu weiteren Mitgliedstaaten der EU hätten und demnach der persönliche Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 eröffnet wäre, würde sich hieraus ein Anspruch auf Weiterzahlung des Pflegegeldes in die Türkei nicht ergeben. Der Gleichbehandlungsanspruch gegenüber Inländern nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung gibt insoweit nichts her, denn Deutschen steht ein Anspruch auf Zahlung von Pflegegeld in die Türkei ebenso wenig zu wie Türken. Die Ungleichbehandlung kann auch hier nicht dadurch konstruiert werden, dass Türken anders als Deutsche keinen Anspruch auf Zahlung in ihr "Heimatland" haben, denn der Begriff "Heimat" ist kein Anknüpfungsmerkmal der Regelung in § 34 SGB XI.
Die Aufhebung der Wohnortklauseln in Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 bezieht sich nur auf die Geldleistungen bei Invalidität, Alter oder für die Hinterbliebenen, die Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten und die Sterbegelder, nicht jedoch auf Leistungen bei Krankheit, unter die das Pflegegeld zu subsumieren ist.
Der Anspruch auf Fortzahlung von Pflegegeld in die Türkei ergibt sich auch nicht aus Art. 19 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 im Kapitel über Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft. Danach erhält ein Arbeitnehmer oder Selbstständiger, der im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates als des zuständigen Staates wohnt, im Wohnsitzstaat Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften. Zwar stellt das von der deutschen Pflegeversicherung zu zahlende Pflegegeld eine Geldleistung bei Krankheit im Sinne dieser Vorschrift dar (EuGH, Urteil vom 05.03.1998 Az. C-160/96, "Molenaar"). Jedoch gilt die Vorschrift nur bei Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat, worunter nicht die Türkei als Drittstaat zählt. Daran ändert auch die Einbeziehung von Drittstaatsangehörigen in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung nichts. Sie bewirkt nur, dass Drittstaatsangehörige in anderen Mitgliedstaaten der EU die gleichen Rechte haben wie Unionsbürger, nicht aber, dass diese Rechte auch bei Aufenthalten in den Drittstaaten bestehen.
3. Abkommen der EU mit der Türkei
Ebenso wenig kann ein Anspruch auf Zahlung von Pflegegeld bei einem über sechswöchigem Aufenthalt in der Türkei aus dem Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei vom 12.09.1963 einschließlich des Zusatzprotokolls vom 23.11.1970 und des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 abgeleitet werden, die Bestandteil des vorrangigen EU-Rechts sind. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist eine Bestimmung eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommens nur dann unmittelbar anwendbar, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Gegenstand und die Natur des Abkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen. Art. 12 des Assoziierungsabkommens, wonach die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise hergestellt werden soll, hat nur Programmcharakter und ist deshalb nicht unmittelbar anwendbar (Urteil des EuGH vom 30.09.1987, Az: C-12/86, "Demirel"). Den Vertragsparteien wird in der Vorschrift nur eine allgemeine Verpflichtung auferlegt, zur Verwirklichung der Ziele des Abkommens zusammenzuarbeiten. Dasselbe gilt für Art. 39 des Zusatzprotokolls vom 23.11.1970, dem zufolge der Assoziationsrat Bestimmungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer türkischer Staatsangehörigkeit erlässt, die von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu- oder abwandern, und wonach die Möglichkeit einer Ausfuhr der Alters-, Hinterbliebenen- und Invaliditätsrenten in die Türkei bestehen muss. Ein Verstoß gegen Art. 9 des Assoziierungsabkommens, der eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet, liegt nicht vor, da - wie oben bereits dargelegt wurde - keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit stattfindet.
Auch der Beschluss Nr. 3/80 des Assoziationsrates, der auf Grundlage von Art. 39 des Zusatzprotokolls erlassen wurde, enthält keine unmittelbar anwendbare Bestimmung, die einen Anspruch auf Pflegegeld bei einem über sechswöchigen Türkeiaufenthalt enthält. Zwar sind nach der Rechtsprechung des EuGH sowohl Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80, der die Gleichbehandlung der türkischen Staatsangehörigen mit den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats regelt, als auch Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses, der die Aufhebung von Wohnortklauseln für Geldleistungen bei Invalidität und Alter oder für Hinterbliebene sowie bei Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten festlegt, unmittelbar anwendbar (Urteile des EuGH vom 04.05.1999, Az: C-262/96, "Sürül" und vom 26.05.2011, Az: C-485/07). Jedoch handelt es sich im Fall der Klägerin weder um eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, noch um ein Ruhen einer Geldleistung bei Invalidität, Alter oder für Hinterbliebene beziehungsweise einer Rente bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten. Hinsichtlich der Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft, zu denen nach der Rechtsprechung des EuGH zur Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 auch das Pflegegeld der deutschen Pflegeversicherung zählt (Urteil vom 05.03.1998 Az. C-160/96, "Molenaar"), wird in Art. 10 und 11 des Beschlusses Nr. 3/80 auf die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 verwiesen, insbesondere auf deren Artikel 19. Dieser gilt jedoch nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 11 des Beschlusses Nr. 3/80 nur für die Gewährung der Leistungen und die Erstattung "zwischen Trägern der Mitgliedstaaten". Es führt also gerade nicht dazu, dass Art. 19 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 auf einen Aufenthalt in der Türkei anwendbar wäre, sondern erweitert lediglich den persönlichen Anwendungsbereich dieser Vorschrift auf türkische Staatsangehörige, wenn sich diese in einem anderen Mitgliedstaat der EU aufhalten.
4. Abkommen der Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei
Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 30.04.1964 (Zustimmungsgesetz vom 13.09.1965, BGBl II 1965, S. 1169), geändert durch das Zusatzabkommen vom 02.11.1984 (Zustimmungsgesetz vom 11.2.1986, BGBl II 1986, S. 1038), bezieht sich nach seinem Art. 2 Abs. 1 nur auf die deutschen Rechtsvorschriften über die Krankenversicherung sowie den Schutz der erwerbstätigen Mutter, die Unfallversicherung, die Rentenversicherung und die hüttenknappschaftliche Zusatzversicherung, die Altershilfe für Landwirte und das Kindergeld für Arbeitnehmer.
Angesichts des klaren Wortlauts der Vorschrift über den Geltungsbereich des Abkommens kann dieses auf die deutschen Vorschriften über die Pflegeversicherung nicht angewandt werden. Die Einbeziehung der deutschen Vorschriften über die Pflegeversicherung lässt sich auch nicht auf die Überlegung gründen, dass die Argumente, die den EuGH in seinem Urteil "Molenaar" dazu bewogen haben, die deutsche Pflegeversicherung als Krankenversicherung im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 anzusehen, auch auf das bilaterale Abkommen zwischen Deutschland und der Türkei zuträfen. Hierzu zählt insbesondere das Argument, dass die Leistungen der Pflegeversicherung im Wesentlichen eine Ergänzung der Leistungen der Krankenversicherung bezwecken, mit der sie auch organisatorisch verknüpft sind, um den Gesundheitszustand und die Lebensbedingungen der Pflegebedürftigen zu verbessern (EuGH, Urteil "Molenaar", Rdnr. 24 bei Juris). Gegen eine weite Auslegung des Begriffs der Krankenversicherung in Art. 2 Abs. 1 des deutsch-türkischen Abkommens, die die deutsche Pflegeversicherung mit einschließen würde, spricht nämlich der Umstand, dass es die Pflegeversicherung in Deutschland weder im Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens am 30.04.1964 noch bei Abschluss des Zusatzabkommens vom 02.11.1984 bereits gab. Vielmehr ist das SGB XI erst zum 01.04.1995 in Kraft getreten. Die vorher im deutschen Krankenversicherungsrecht geregelten Leistungen bei Pflegebedürftigkeit waren nicht annähernd mit dem an Pflegestufen orientierten System des SGB XI vergleichbar (s.u. § 57 SGB V i.d.F. des Gesetzes vom 20.12.1988, BGBl. I S. 2477). Um den Anwendungsbereich des deutsch-türkischen Abkommens von deutscher Seite aus auf einen neu geschaffenen Zweig der Sozialversicherung zu erstrecken, hätte es der ausdrücklichen Einbeziehung durch ein eigenes Zusatzabkommen bedurft. Es kann den Vertragspartnern nicht der Wille unterstellt werden, dass sie das Abkommen mit gleichem Inhalt auch für das später eingeführte neue Recht der deutschen Pflegeversicherung abgeschlossen hätten.
Da schon der Geltungsbereich des deutsch-türkischen Abkommens über soziale Sicherheit nicht eröffnet ist, braucht die Frage nicht beantwortet zu werden, welche Ansprüche sich aus Art. 12 Abs. 1 Buchst. a i. V. m. Art. 4a des Abkommens im vorliegenden Fall ergeben würden, wenn diese Vorschriften auf das Pflegegeld des deutschen Pflegeversicherungsrechts anwendbar wären. Nach diesen Vorschriften dürfte eine Geldleistung der einen Vertragspartei gegenüber Staatsangehörigen der anderen Vertragspartei nicht wegen eines Aufenthalts im Gebiet der anderen Vertragspartei verweigert werden, wenn der zuständige Träger nach Eintritt des Versicherungsfalles der Verlegung des Aufenthalts in das Gebiet der anderen Vertragspartei vor dem Umzug zugestimmt hat. Leider regelt das Abkommen in der Fassung des Zusatzabkommens vom 02.11.1984 nicht mehr, unter welchen Voraussetzungen der Versicherte Anspruch auf Erteilung der Zustimmung zu dem Umzug hat. In Art. 12 Satz 2 der Ursprungsfassung des Abkommens vom 30.04.1964 war noch ausdrücklich geregelt, dass die Zustimmung zur Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts dann zu erteilen ist, wenn keine ärztlichen Bedenken dagegen geltend gemacht werden, die Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich mindestens drei Monate dauern wird und die Person sich zu den Angehörigen begibt. Diese Voraussetzungen könnten im Falle der Klägerin vorliegen, jedoch stellt sich die Frage nicht, weil für die Vorschriften des deutschen Pflegeversicherungsrechts der Anwendungsbereich des deutsch-türkischen Abkommens über soziale Sicherheit nicht eröffnet ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG zuzulassen, weil die Frage, ob das deutsch-türkische Abkommen über soziale Sicherheit auch auf die deutschen Rechtsvorschriften über die soziale Pflegeversicherung anwendbar ist, grundsätzliche Bedeutung hat und höchstrichterlich noch nicht entschieden ist.
Rechtskraft
Aus
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