L 1 KR 93/11

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 12 KR 164/08
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 93/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 12 KR 23/13 R
Datum
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 9. Februar 2011 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat hinsichtlich des Verfahrens des Klägers zu 1. die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu tragen.

Hinsichtlich des Verfahrens der Klägerin zu 2. hat die Beklagte die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen zu tragen.

Außergerichtliche Kosten des Beigeladenen sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger zu 1. in der Zeit vom 1. Mai 2006 bis zum 17. August 2011 bei der Klägerin zu 2. sozialversicherungspflichtig beschäftigt war.

Am 10. März 2006 beantragte der Kläger zu 1., der ausgebildeter Diplomkaufmann ist, die Feststellung seines versicherungsrechtlichen Status als Vertriebsleiter der Klägerin zu 2. Alleinige Gesellschafterin sowie Geschäftsführerin der Klägerin zu 2. (Stammkapital: 358.000 EUR) war ab Oktober 2005 die Ehefrau des Klägers zu 1. Seit dem 17. August 2011 ist auch der Kläger zu 1. Geschäftsführer der Klägerin zu 2.; die Eheleute sind jeweils einzelvertretungsberechtigt. Seit dem 13. März 2012 ist der Kläger zu 1. zudem Gesellschafter der Klägerin zu 2. und hält die Hälfte des Stammkapitals.

Unter dem 30. April 2006 vereinbarte die Klägerin zu 2. mit dem Kläger zu 1. einen Anstellungsvertrag. Hiernach ist der Kläger zu 1. Vertriebsleiter für die Bereiche Netze und Lockenwickler. Dienstantritt war der 1. Mai 2006. Sein monatliches Gehalt betrug zunächst 6.000 EUR und ab dem 1. November 2006 8.000 EUR. Es wurde Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die Dauer von drei Monaten sowie ein Anspruch auf Jahresurlaub von 30 Arbeitstagen vereinbart. Eine Beteiligung des Klägers zu 1. an anderen Unternehmen sowie die Mitgliedschaft in Organen fremder Gesellschaften sind anzeigepflichtig. Der Anstellungsvertrag wurde auf unbestimmte Zeit geschlossen. Eine Kündigung ist nur aus wichtigen Gründen möglich. Änderungen und Ergänzungen des Vertrages sowie Nebenabreden bedürfen der Schriftform. Zudem übernahm der Kläger zu 1. am 12. April 2001 zugunsten der Klägerin zu 2. u.a. eine Bürgschaft in Höhe von 384.000 EUR (im Jahr 2005 reduziert auf 375.000 EUR).

Der Kläger zu 1. war zudem Geschäftsführer der Firma BX. GmbH (Herstellung und Vertrieb von Kunststoffartikeln aller Art). Nach seinen Angaben hielt er 52 % des Stammkapitals dieser GmbH; die restlichen 48 % hielten seine vier Kinder. Mit Beschluss des AG Kassel vom 3. August 2008 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet und die BX. GmbH aufgelöst (Handelsregisterauszug vom 30. Oktober 2012, Bl. 210 d.A.).

Darüber hinaus war der Kläger zu 1. Geschäftsführer der Firma BY. GmbH (Vertrieb von Vogelschutz-, Weihnachtsbaum- und Blumenzwiebelnnetzen). Das Stammkapital dieser Gesellschaft halten der Kläger zu 1. zu 94 % und sein Bruder zu 6 %. Diese GmbH wiederum ist persönlich haftende Gesellschafterin der Firma BZ. GmbH & Co. KG. Deren Kommanditisten sind Dr. D. A. mit einer Einlage in Höhe von 102.258,37 EUR und der Kläger zu 1. mit einer Einlage in Höhe von 204.516,75 EUR.

Nach den Angaben des Klägers zu 1. verkaufte die BX. GmbH seit Ende der 80er Jahre Lockenwickler. Diesen Vertrieb habe die 1998 gegründete Klägerin zu 2. übernommen, um Konflikte mit dem Großhandel zu vermeiden. Der Vertrieb der Vogelschutznetze erfolge seit 2005 nicht mehr durch die BY. GmbH, sondern durch die Klägerin zu 2. Der Kläger zu 1. sei Ansprech- und Verhandlungspartner für alle Kunden dieser beiden Unternehmen sowie der Klägerin zu 2. Als Vertriebsleiter der Klägerin zu 2. sei er zuständig für die Akquisition von Kunden. Er sei frei in Preisgestaltung und Vertragsabschluss, habe Einfluss auf die Produktpalette, könne seine Arbeitszeit frei gestalten und sei frei in der Einstellung von Mitarbeitern. Er sei grundsätzlich nicht weisungsgebunden.

Mit Bescheiden vom 27. Juni 2007 stellte die Beklagte gegenüber dem Kläger zu 1. und der Klägerin zu 2. fest, dass der Kläger zu 1. dem Grunde nach als Vertriebsleiter der Klägerin zu 2. seit Aufnahme dieser Tätigkeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt sei. Er sei in die Arbeitsorganisation der Klägerin zu 2. eingebunden und weisungsabhängig.

Hiergegen haben die Kläger Widerspruch eingelegt. Bei der Klägerin zu 2. handele es sich um eine sogenannte Familien-GmbH. Aufgrund seiner Ausbildung und seiner besonderen Kenntnisse habe der Kläger zu 1. eine Stellung inne, die faktisch einem Alleininhaber entspreche. Seine Tätigkeit sei geprägt durch die familienhafte Rücksichtnahme. Die Gesellschafterin übe keinerlei Direktionsrecht aus. Zudem trage der Kläger zu 1. ein maßgebliches Unternehmerrisiko, da er Bürgschaftserklärungen für vereinbarte Kontokorrentkredite abgegeben habe.

Mit Widerspruchsbescheiden vom 21. Januar 2008 wies die Beklagte die Widersprüche zurück. Da der Kläger zu 1. weder Gesellschafter noch Geschäftsführer der Klägerin zu 2. sei, sei eine selbstständige Tätigkeit nicht anzunehmen. Der Kläger zu 1. trage allein aufgrund der Bürgschaften auch kein Unternehmerrisiko, das vorliegend zu einer anderen Beurteilung führen könne. Dass es sich um eine Familien-GmbH handele, sei unbeachtlich, da familienhafte Bindungen bzw. Rücksichtnahmen zu einer juristischen Person nicht bestehen könnten.

Am 7. Februar 2008 haben die Kläger vor dem Sozialgericht Kassel jeweils Klage erhoben. Mit Beschluss vom 4. Mai 2009 hat das Sozialgericht die beiden Verfahren (S 12 KR 36/08 und S 12 KR 164/08) zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Mit Bescheiden vom 14. Dezember 2009 hat die Beklagte gegenüber dem Kläger zu 1. sowie der Klägerin zu 2. unter Abänderung des Bescheides vom 27. Juni 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Januar 2008 festgestellt, dass hinsichtlich der Vertriebsleitertätigkeit des Klägers zu 1. für die Klägerin zu 2. Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, in der sozialen Pflegeversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung bestehe.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Kassel am 9. Februar 2011 hat die Beklagte erklärt, dass sie an der Versicherungspflicht des Klägers zu 1. in der gesetzlichen Krankenversicherung aufgrund dessen Einkommens nicht mehr festhalte und die Bescheide vom 14. Dezember 2009 insoweit aufhebe.

Mit Urteil vom 9. Februar 2011 hat das Sozialgericht die Bescheide vom 27. Juni 2007 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 21. Januar 2008, abgeändert durch die Bescheide vom 14. Dezember 2009, aufgehoben und festgestellt, dass es sich bei der Tätigkeit des Klägers zu 1. als Vertriebsleiter der Klägerin zu 2. um eine sozialversicherungsfreie Tätigkeit handele. Der Kläger zu 1. sei zwar weder Mitgesellschafter noch Geschäftsführer der Klägerin zu 2. Er übe als Vertriebsleiter jedoch gleichzeitig - ohne formal dazu berufen zu sein - die Tätigkeit eines Geschäftsführers aus. Er habe von Anbeginn wie ein Gesellschafter am Arbeitsprozess nicht nur dienend, sondern bestimmend teilgenommen. Aufgrund der Verschachtelung der Geschäftsbereiche der Klägerin zu 2. und der weiteren Gesellschaften nehme der Kläger zu 1. keine fremden, sondern seine ureigenen wirtschaftlichen Interessen wahr. Eine tatsächliche, rechtlich relevante Weisungsgebundenheit gegenüber der Alleingesellschafterin sei nicht zu erkennen. Seine Ehefrau sei formal zur Geschäftsführerin bestimmt worden. Sie habe allein nach außen die Geschäftsführertätigkeit innegehabt. Der Kläger zu 1. habe bei seiner Tätigkeit völlig freie Hand. Ein Unternehmerrisiko sei zwar nur in "abgeschwächter" Form vorhanden. In der vorliegenden Fallgestaltung reichten die seitens des Klägers zu 1. abgegebenen Bürgschaften jedoch zur Annahme eines maßgeblichen Unternehmerrisikos aus.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 4. März 2011 zugestellte Urteil am 29. März 2011 vor dem Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt und angeführt, dass der Kläger zu 1. weder Geschäftsführer noch Gesellschafter der Klägerin zu 2. sei und somit keinen maßgeblichen Einfluss auf die Geschicke der Gesellschaft nehmen könne. Mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei eine selbstständige Tätigkeit auszuschließen.

In der mündlichen Verhandlung am 22. November 2012 hat die Beklagte die Berufung insoweit zurückgenommen, als das angegriffene Urteil den Zeitraum nach dem 17. August 2011 betrifft.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 9. Februar 2011 insoweit aufzuheben als es sich auf den Zeitraum bis 17. August 2011 bezieht und die Klagen abzuweisen.

Die Kläger beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie halten die angegriffene Entscheidung für zutreffend. Seit August 2011 sei der Kläger zu 1. als weiterer Geschäftsführer der Klägerin zu 2. bestellt. Darüber hinaus könne aufgrund der Verschachtelung der Geschäftsbereiche der Klägerin zu 2. mit der BY. GmbH und der BX. GmbH nicht von einer abhängigen Beschäftigung ausgegangen werden. Ferner habe der Kläger zu 1. regelmäßig auf einen Teil des vertraglich vereinbarten Jahresurlaubs verzichtet. Aufgrund der miteinander verflochtenen Unternehmen habe der Kläger zu 1. ein besonderes Interesse am wirtschaftlichen Erfolg der Klägerin zu 2. Er bringe neben dem Know-how auch den Kundenstamm mit. Seine Ehefrau sei gelernte Zahnarzthelferin und ausgebildete Bürokauffrau und verfüge über keine Branchenkenntnisse. Er habe in seiner Tätigkeit als Vertriebsleiter frei "schalten und walten" können und die Klägerin zu 2. als "sein" Unternehmen geführt, völlig unabhängig von den gesellschaftsvertraglichen Vereinbarungen. Ende der 90er Jahre sei es aufgrund von Nachfragen zweier Großkunden notwendig geworden, durch eine entsprechende Gestaltung der Vertrags- und Firmenverhältnisse nicht offenkundig werden zu lassen, an welche Abnehmer die Klägerin zu 2. liefere. Andernfalls hätten wichtige Großkunden aus Konkurrenzgründen keine Aufträge mehr erteilt. Aus diesem Grunde sei nach Beratung des Steuerberaters die Ehefrau des Klägers zu 1. alleinige Geschäftsführerin und Gesellschafterin der Klägerin zu 2. geworden.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat die Ehefrau des Klägers zu 1. ausgeführt, dass sie sich um die Firmen überhaupt nicht gekümmert habe. Der Kläger zu 1. habe die Firmen mit in die Ehe gebracht und seitdem auch geführt. Sie selbst habe sich um die vier gemeinsamen Kinder gekümmert. Kontakt zu den Großkunden und deren Vertretern habe sie nicht gehabt.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.

Zutreffend hat das Sozialgericht festgestellt, dass der Kläger zu 1. bei der Klägerin zu 2. in der streitigen Zeit nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist und die Bescheide der Beklagten aufgehoben.

Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, unterliegen in der Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung der Versicherungs- und Beitragspflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch - SGB V; § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Elften Buches Sozialgesetzbuch - SGB XI; § 1 Satz 1 Nr. 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch - SGB VI; § 25 Abs. 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch - SGB III). Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ist § 7 Abs. 1 Satz 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV). Danach ist Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen. Maßgebend ist stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung. Weichen die Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen ab, geben diese den Ausschlag (BSG, Urteil vom 28. September 2011 – B 12 KR 17/09 R mwN).

Der Geschäftsführer einer GmbH, der am Stammkapital nicht beteiligt ist (sog. Fremdgeschäftsführer), ist grundsätzlich abhängig Beschäftigter der GmbH und versicherungspflichtig, soweit nicht besondere Umstände vorliegen, die eine Weisungsgebundenheit im Einzelfall ausnahmsweise aufheben (BSG, Urteile vom 18. Dezember 2001 - B 12 KR 10/01 R -, vom 6. März 2003 - B 11 AL 25/02 R - und vom 4. Juli 2007 B 11a AL 5/06 R; Hessisches LSG, Urteil vom 18. November 2010 – L 1 KR 346/09; Seewald in: Kassler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, § 7 SGB IV Rn. 93; Segebrecht, jurisPK § 7 SGB IV, Rn 121 ff.). Vergleichbares gilt auch bei Geschäftsführern, die zwar zugleich Gesellschafter sind, jedoch weder über die Mehrheit der Gesellschaftsanteile noch über eine so genannte Sperrminorität verfügen. Auch für diesen Personenkreis ist im Regelfall von einer abhängigen Beschäftigung auszugehen. Eine hiervon abweichende Beurteilung kommt wiederum nur dann in Betracht, wenn besondere Umstände des Einzelfalls den Schluss zulassen, es liege keine Weisungsgebundenheit vor (BSG, Urteile vom 4. Juli 2007 – B 11a AL 5/06 R – und 6. März 2003 – B 11 AL 25/02 R; Hessisches LSG, Urteil vom 10. März 2011 – L 1 KR 41/10).

Besondere Umständen im o. g. Sinne können z.B. bei einem Geschäftsführer einer Familiengesellschaft vorliegen, wenn die Gesamtwürdigung der Umstände ergibt, dass dieser aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehungen die Geschäfte der Gesellschaft nach eigenem Gutdünken führen kann, ohne dass ihn die Gesellschafter daran hindern und es daher an der für eine Beschäftigung unabdingbaren Voraussetzung der persönlichen Abhängigkeit fehlt (BSG, Urteil vom 8. Dezember 1987 - 7 Rar 25/86). Besondere Umstände können auch bei einem Geschäftsführer einer Familiengesellschaft anzunehmen sein, wenn es an der unabdingbaren Voraussetzung seiner Unterordnung unter das Weisungsrecht eines anderen fehlt, weil niemand da ist, der die Arbeitgeberfunktion ausüben könnte (vgl. LSG Hamburg, Urteil vom 1. März 2012 L 1 KR 11/10). Ausnahmsweise kann zudem von Selbstständigkeit des Fremd-Geschäftsführers auszugehen sein, wenn dieser allein über das nötige Fachwissen verfügt und dieses nicht ersetzt werden kann (Hessisches LSG, Urteile vom 23. November 2006 - L 1 KR 763/03 - und vom 28. Juni 2012 - L 1 KR 190/10).

Dabei ist zu beachten, dass es im Hinblick auf größtmögliche Rechtssicherheit geboten ist, eine von Anfang an latent vorhandene Rechtsmacht auch dann als ein für abhängige Beschäftigung sprechendes Kriterium zu berücksichtigen, wenn von ihr konkret (noch) keinen Gebrauch gemacht wird. Ob von der bestehenden Rechtsmacht tatsächlich Gebrauch gemacht und damit auf die Tätigkeit eines Geschäftsführers oder leitenden Angestellten tatsächlich Einfluss genommen wurde, ist auch deshalb unbeachtlich, weil die versicherungsrechtliche Beurteilung ansonsten wesentlich davon abhinge, ob die Tätigkeit aus Sicht der Rechtsmachtinhaber beanstandungsfrei ausgeübt wurde. Dies kann jedoch kein rechtlich entscheidendes Kriterium zur Unterscheidung von abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit sein (vgl. Hessisches LSG, Urteile vom 27. Oktober 2011 - L 8 KR 335/09 - und 10. März 2011 - L 1 KR 41/10; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25. März 2010 - L 16 (5) KR 190/08 - jeweils mwN).

Soweit die Rechte und Pflichten des Geschäftsführers durch den Gesellschafts- und Geschäftsführervertrag festgelegt sind und den (anderen) Gesellschaftern zumindest nach den vertraglichen Grundlagen auch die Rechtsmacht zusteht, den Geschäftsführer zu entlassen, ihm in bestimmten Fällen Weisungen zu erteilen und die Unternehmenspolitik selbst zu bestimmen, wird daher in aller Regel auch bei einer Familiengesellschaft von einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung des Geschäftsführers auszugehen sein. Denn in "ruhigen Zeiten" mag die Rechtsmacht der Gesellschafter gegenüber dem Geschäftsführer zwar durch familiäre Bindungen überlagert sein, so dass von ihr faktisch kein Gebrauch gemacht wird. Diese Rechtsmacht entfällt jedoch nicht dadurch, dass rechtliche Vereinbarungen erst im Konfliktfall Bedeutung erlangen, wenn z.B. nach einer familiären Trennung die familiären Rücksichtsnahmen ein Ende haben. Maßgeblich ist daher regelmäßig die abstrakte Rechtsmacht (Hessisches LSG, Urteile vom 18. November 2010 – L 1 KR 346/09 - und vom 28. Juni 2012 – L 1 KR 190/10). Familiäre Verbundenheit oder Rücksichtsnahme ist grundsätzlich nicht geeignet, die Rechtsmacht, wie sie sich nach dem Gesellschaftsrecht ergibt, gänzlich zu negieren. Eine bloße "Schönwetter-Selbstständigkeit" mit Blick auf zwar bestehende, jedenfalls bis zu einem ungewissen Konfliktfall tatsächlich aber nicht ausgeübte Kontrollrechte scheidet aus (vgl. BSG, Urteil vom 29. August 2012 - B 12 KR 25/10 R). Das Fehlen einer (maßgeblichen) Unternehmensbeteiligung führt jedoch nicht zwingend zu einer abhängigen Beschäftigung. Vielmehr kann in sehr eng begrenzten Einzelfällen eine selbstständige Beschäftigung anzunehmen sein. Ein solcher Ausnahmefall kann z. B. bei Familienunternehmen vorliegen, wenn es aufgrund der familienhaften Rücksichtnahme an der Ausübung eines Direktionsrechts völlig mangelt. Hiervon kann insbesondere bei demjenigen auszugehen sein, der - obwohl nicht maßgeblich am Unternehmenskapital beteiligt - aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehungen faktisch wie ein Alleininhaber die Geschäfte des Unternehmens nach eigenem Gutdünken führt und frei schalten und walten kann (vgl. BSG, Urteil vom 8. Dezember 1987 - 7 RAr 25/86; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 31. März 2010 - L 6 R 3/09).

Der Kläger zu 1. war in der streitigen Zeit am Stammkapital der Klägerin zu 2. nicht beteiligt und verfügte über keine Sperrminorität.

Wie das Sozialgericht zutreffend festgestellt hat, ist vorliegend davon auszugehen, dass der Kläger zu 1. auch in der noch streitigen Zeit vollkommen freie Hand in der Führung der Geschicke der Klägerin zu 2. hatte und wie ein Alleininhaber frei schalten und walten konnte. Er war auch im hier maßgeblichen Zeitraum nicht in einem fremden, sondern vielmehr in seinem eigenen Betrieb tätig und unterlag dabei keinen Weisungen. Er war Gesellschafter und Geschäftsführer der BX. GmbH und hat diese Stellung auch in der BY. GmbH inne. Seine Ehefrau ist lediglich aus wirtschaftlichen Erwägungen in die Stellung als Gesellschafterin und Geschäftsführerin gerückt, ohne dass sie zu irgendeiner Zeit die Geschicke der Klägerin zu 2. beeinflusst oder gar bestimmt hätte. Sie hat sich vielmehr um die vier Kinder gekümmert und die Firmentätigkeit ihrem Ehemann - dem Kläger zu 1. - überlassen. Dieser hatte durch seine Ausbildung als Diplomkaufmann und seine einschlägige Berufserfahrung aufgrund seiner Tätigkeit für die anderen maßgeblichen Firmen seiner Familie - im Gegensatz zu seiner Ehefrau - die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, um die Firmengeschäfte führen zu können. Im Konfliktfall mit seiner Ehefrau als Alleingesellschafterin und Geschäftsführerin der Klägerin zu 2. hätte der Kläger zu 1. zudem aufgrund seiner maßgeblichen Stellung in den anderen Firmen die Kunden der Klägerin zu 2. abziehen können. Damit standen dem Kläger zu 1. erhebliche wirtschaftliche Einflussmöglichkeiten zur Verfügung. Im Konfliktfall hätte er daher maßgeblichen Einfluss auf die Klägerin zu 2. nehmen und ihm nicht genehme Weisungen abwenden können. Darüber hinaus hat der Kläger zu 1. gegenüber der Klägerin zu 2. eine Bürgschaft über einen Betrag in einer Höhe abgegeben, welche in etwa dem Stammkapital der Klägerin zu 2. entspricht.

Aufgrund der subjektiven Klagenhäufung sind getrennte Kostenentscheidungen zu treffen (vgl. Schreiber/Moritz-Ritter, Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, S. 154). Die Kostenentscheidung hinsichtlich des Klägers zu 1. beruht auf § 193 SGG und die Kostenentscheidung hinsichtlich der Klägerin zu 2. auf § 197a SGG. Da der Beigeladene keinen Antrag gestellt hat, sind dessen außergerichtlichen Kosten nicht zu erstatten.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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