L 7 KA 24/12

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 79 KA 168/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 7 KA 24/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ob den Zulassungsgremien oder der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigung in einem Verfahren zur Entziehung der vertrags(zahn)ärztlichen Zulassung Versäumnisse anzulasten sind - etwa wegen zu zögerlicher Bearbeitung oder wegen unzureichender Ermittlungen -, ist für die Frage, ob ein Vertrags(zahn)arzt seine fehlende Eignung wiedererlangt hat, ohne Bedeutung.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Januar 2012 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2 bis 6), die diese selbst tragen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung, die mit der Abrechnung nicht erbrachter Leistungen begründet wird.

Der 1951 geborene Kläger nimmt seit 1984 als Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde an der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung im B Stadtteil W teil. Gegen ihn ermittelten seit September 2000 die Berliner Strafverfolgungsbehörden, nachdem ihnen im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen einen anderen Vertragsarzt bekannt geworden war, dass beide zu einer Gruppe von Ärzten gehörten, die Gefälligkeitsüberweisungen von sogenannten "Phantompatienten" ausgetauscht hatten. Zahlreiche Patienten, für die der Kläger in den Quartalen IV/97 bis III/98 Leistungen gegenüber der Beigeladenen zu 1) abgerechnet hatte, gaben bei ihrer polizeilichen Vernehmung an, ihn nicht zu kennen. Ferner wurde dem Kläger vorgeworfen, Gebührenordnungspositionen (GOP) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) abgerechnet zu haben, obwohl in seiner Praxis die sachlichen Voraussetzungen hierfür nicht vorgelegen hätten.

Die Beigeladene zu 1), die Kassenärztliche Vereinigung, erfuhr spätestens im Mai 2000 aufgrund eines polizeilichen Amtshilfeersuchens erstmals von den Verdachtsmomenten gegen den Kläger. In der Folgezeit übermittelte die Beigeladene zu 1) den Strafverfolgungsbehörden aufgrund entsprechender Anfragen im Rahmen des gegen den Kläger gerichteten Ermittlungsverfahrens zahlreiche medizinische und abrechnungstechnische Informationen. Am 30. Januar 2001 wurden die Praxis und die Privatwohnung des Klägers auf der Grundlage eines richterlichen Beschlusses durchsucht und hierbei zahlreiche Krankenunterlagen sowie ein PC (in der Privatwohnung des Klägers) beschlagnahmt. Auf eine Anfrage vom 6. Februar 2002 hin erhielten die Beigeladene zu 1) und der Zulassungsausschuss den polizeilichen Sachstandsbericht vom 19. Februar 2002 nebst einiger beigefügter Zeugenaussagen. Am 29. Mai 2002 beschloss der Vorstand der Beigeladenen zu 1), beim Disziplinarausschuss die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den Kläger und beim Zulassungsausschuss die Entziehung der vertragsärztlichen Zulassung zu beantragen.

Die Entscheidung über den Disziplinarantrag vertagte der Disziplinarausschuss der Beigeladenen zu 1) in seinen Sitzungen vom 4. Dezember 2002 und 8. Oktober 2003, jeweils im Hinblick auf die laufenden strafrechtlichen Ermittlungen. In seiner Sitzung vom 14. Januar 2004 (Beschluss vom 14. Juni 2004) beschloss der Disziplinarausschuss, das Ruhen der klägerischen Zulassung für zwei Jahre sowie die sofortige Vollziehung seiner Entscheidung anzuordnen. Nachdem zunächst das Sozialgericht mit Beschluss vom 10. September 2004 (Az.: S 71 KA 151/04 ER) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Disziplinarbescheid wiederhergestellt hatte, hob die Beigeladene zu 1) im Rahmen eines gerichtlichen Vergleiches vom 22. März 2006 den Disziplinarbescheid vom 14. Juni 2004 auf und verpflichtete sich, nach Abschluss des Strafverfahrens erneut über die Festsetzung einer Disziplinarmaßnahme zu entscheiden.

Der Zulassungsausschuss, bei dem der Antrag auf Zulassungsentziehung am 11. Juni 2002 eingegangen war, führte seine für den 13. Januar 2003 bzw. 24. November 2004 anberaumten Verhandlungstermine auf Anregung der Beigeladenen zu 1) bzw. der Klägerseite nicht durch.

Mit Urteil vom 21. August 2006 verurteilte das Amtsgericht Tiergarten in Berlin (Az.: 243 Cs 131/04) den Kläger wegen Betruges in fünf Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 360 Tagessätzen zu je 200 Euro. Es ging hierbei davon aus, dass der Kläger in den Quartalen IV/97 bis III/98 für 78 namentlich benannte Patienten Leistungen in Höhe von 2.375,39 Euro abgerechnet habe, obwohl diese Personen an den im Einzelnen aufgeführten Tagen die klägerische Praxis nicht aufgesucht hätten und vom Kläger auch nicht behandelt worden seien. Darüber hinaus habe der Kläger in den Quartalen I/98 bis IV/98 sonographische Leistungen nach der GOP 375 in Höhe von 15.702,83 Euro abgerechnet, obwohl er die hierfür vorgeschriebene Bilddokumentation in keinem der Fälle erbracht habe. Von insgesamt 98 als Zeugen vernommenen angeblichen Patienten des Klägers hätten 78 in der Hauptverhandlung ausgesagt, sie kennten weder den Kläger noch seine Praxis und seien dort auch sicher nie behandelt worden.

Im Berufungsverfahren änderte das Landgericht Berlin mit Urteil vom 1. Februar 2010 das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch dahin, dass der Kläger zu einer Gesamtgeldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 80,00 Euro verurteilt wurde, von denen 10 Tagessätze als Entschädigung für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten. Die Berufung der Staatsanwaltschaft wurde verworfen. Beide Seiten hatten während des landgerichtlichen Berufungsverfahrens ihr Rechtsmittel auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Landgericht aus, strafmildernd sei neben der überlangen Verfahrensdauer, die der Kläger überwiegend nicht zu vertreten habe, berücksichtigt worden, dass er neben der Beschränkung des Rechtsmittels eine gewisse Einsicht und Reue in der Berufungshauptverhandlung habe erkennen lassen, dass er nicht vorbestraft sei und sich nach Beginn der letzten Tat vor mehr als elf Jahren straffrei verhalten habe, sowie dass gegen ihn bei der Beigeladenen zu 1) ein offenes Disziplinarverfahren anhängig sei. Strafverschärfend hätten sich die Sozialschädlichkeit der Taten, der Missbrauch der ärztlichen Vertrauensstellung, die Länge der Tatzeit und die Schadenshöhe ausgewirkt.

Nachdem die Beigeladene zu 1) Ende März 2010 dem Zulassungsausschuss dieses Urteil übersandt hatte, nahm dieser das Zulassungsentziehungsverfahren wieder auf und beschloss in seiner Sitzung vom 20. Oktober 2010, dem Kläger die Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung zu entziehen. Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Beschluss vom 26. Januar 2011 mit folgender Begründung zurück: Nach seiner Auffassung sei eine gröblichere Pflichtverletzung als ein Betrug zu Lasten der Beigeladen zu 1) kaum vorstellbar. Für die Pflichtverletzung gegenüber der Beigeladenen zu 1) sei es nicht maßgeblich, ob der Schaden sich zu ihren oder zu Lasten der Sozialämter auswirke. Dass der Kläger falsch abgerechnet habe, stehe aufgrund der gegen ihn ergangenen Strafurteile fest, ohne dass die Falschabrechnungen im Einzelnen nochmals durch die Zulassungsgremien zu ermitteln wären. Entgegen der klägerischen Auffassung dürften die tatsächlichen Feststellungen in einem rechtskräftigen Strafurteil der Entscheidung ohne erneute eigene Prüfung zugrunde gelegt werden. Die klägerischen Einwendungen, wonach die Entscheidungsfindung des Amtsgerichts fehlerhaft erfolgt sei, Zeugen manipuliert oder deren Aussagen unzutreffend gewürdigt worden seien, seien zum Teil bereits vom Amtsgericht als Schutzbehauptungen gewertet worden, jedenfalls aber durch keinerlei konkrete Nachweise belegt. Auf ein Fehlverhalten seines angeblichen Praxisvertreters namens "I A" könne sich der Kläger nicht berufen, weil eine solche Vertretung durch die Beigeladene zu 1) nicht genehmigt worden sei und daher für sich genommen schon eine Verletzung vertragsärztlicher Pflichten darstelle. Auch der Einwand des Klägers, die erforderlichen Bilddokumentationen habe er – entgegen der geltenden Aufbewahrungsfristen – bereits entsorgt, überzeuge nicht, da auch eine solche Entsorgung bereits eine Pflichtverletzung bedeute. Ein sogenanntes Wohlverhalten komme dem Kläger nicht zugute. Ein Wohlverhalten bedeute nicht das bloße Unterlassen weiterer Straftaten, vielmehr müsse nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine nachhaltige Verhaltensänderung eingetreten sein, die eine positive Prognose rechtfertige. Ein solches Wohlverhalten sei beim Kläger nicht festzustellen, da er sich weiterhin uneinsichtig zeige.

Seine Klage hat der Kläger zum einen auf die Behauptung gestützt, ihm sei kein betrügerisches Verhalten vorzuwerfen, zum anderen auf die Auffassung, ein solches könne zwischenzeitlich nicht mehr das Vertrauensverhältnis zur Beigeladenen zu 1) stören. Im Einzelnen hat der Kläger vorgebracht: In das Visier der Ermittlungsgruppe Medicus sei er nur geraten, weil diese ihren Prüfauftrag überschritten habe. Seine Abrechnungsunterlagen aus dem Jahre 1998 seien nur deshalb zufällig nicht vernichtet gewesen, weil bei ihm eine routinemäßige Wirtschaftlichkeitsprüfung stattgefunden habe. Die schon im November 2000 angeordnete Durchsuchung, durch die er habe überrascht werden sollen, habe dazu geführt, dass er jedes nach mehr als zwei Jahren nicht mehr oder gerade nicht vorhandene Gerät habe erklären und die zu diesem Zeitpunkt leider recht ungeordneten Karteikarten von vor mehr als zwei Jahren habe herausgeben müssen; außerdem seien Dinge in der Zwischenzeit, insbesondere wohl anlässlich einer Renovierung, weggekommen. Zu diesen Problemen wäre es nicht gekommen, hätte die Ermittlungsgruppe auch ihm gegenüber zeitgerecht gehandelt. Im Verfahren vor dem Amtsgericht sei es nicht mehr möglich gewesen, hinsichtlich der Phantompatienten den wahren Sachverhalt in Erfahrung zu bringen. Ein großer Teil der Zeugen sei alt und der deutschen Sprache nicht mächtig gewesen und habe sich – meist ohne dies zum Ausdruck zu bringen – nicht erinnern können. Der Mangel, dass das Amtsgericht sein Urteil erst weit nach der gesetzlichen Frist abgesetzt habe, mache das Urteil nur wegen der Möglichkeit der Berufung nicht unwirksam. Gleichwohl habe es sich im vorliegenden Fall ausgewirkt, weil er – der Kläger – sich, um nicht als der uneinsichtige Querulant dazustehen, als den ihn die Beigeladene zu 1) darstelle, und auch, um endlich Ruhe zu haben, auf den vom Gericht vorgeschlagenen Deal eingelassen und die Berufung auf das Strafmaß beschränkt habe. Allein unter diesem Gesichtspunkt dürfe der Urteilsbegründung nicht die Bedeutung zugemessen werden, die einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung sonst zugemessen werde. Bei sachlicher Betrachtung könne die Beigeladene zu 1), nachdem so viel Zeit vergangen sei, nicht der Meinung sein, wegen des nunmehr vorliegenden rechtskräftigen Urteils sei das Vertrauen zu ihm – dem Kläger – gestört. Im Übrigen habe die Beigeladene zu 1) weder die Urteilsverkündung noch die im Mai 2008 schließlich vorliegende Urteilsbegründung zum Anlass genommen, das Zulassungsentziehungsverfahren wieder aufzunehmen. Es entspreche der Lebenserfahrung, dass eine zu beanstandende Handlung nach einem gewissen Zeitraum ihre Bedeutung verliere. Auf diesem Grundgedanken beruhten z.B. die Vorschriften über die strafrechtliche Verjährung. Der "Täter" sei, wenn er sein Fehlverhalten nicht fortsetze, längst ein anderer und die Rechtsverletzung sei, wenn sie nicht – wie hier – in Akten konserviert sei, in der Regel so gut wie vergessen. Er – der Kläger – habe außerdem seit 1998 inzwischen mehr als 12 Jahre Gelegenheit gehabt, sein grundsätzlich vertragsgerechtes Verhalten unter Beweis zu stellen. Denn er habe sich in dieser Zeit – auch schon bevor er von den Ermittlungen gegen ihn wusste – nichts zuschulden kommen lassen. Weil die Entziehung einen schwerwiegenden Eingriff in seine Berufsfreiheit darstelle, könne der angefochtene Beschluss des Beklagten keinen Bestand haben.

Mit Urteil vom 25. Januar 2012 hat das Sozialgericht den Beschluss des Beklagten vom 26. Januar 2011 aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Im vorliegenden Fall habe zwar eine gröbliche Pflichtverletzung zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten vorgelegen, die eine Zulassungsentziehung rechtfertigen könne. Die Entziehung der Zulassung folge hieraus jedoch nicht zwangsläufig. Denn die durch eine gröbliche Pflichtverletzung verlorene Eignung könne im Laufe eines lange dauernden Verfahrens wiedererlangt werden, wenn die Entziehung der Zulassung mit der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des vertragsärztlichen Systems nicht mehr gerechtfertigt werden könne. Nach der Rechtsprechung des BSG sei bei nicht sofort vollziehbaren Zulassungsentziehungen aus verfassungsrechtlichen Gründen zu würdigen, ob sich die Sachlage während des Prozesses zu Gunsten des Vertragsarztes in einer Weise geändert habe, die eine Entziehung nicht mehr als angemessen erscheinen lasse. Diese vom BSG vor allem zum sogenannten Wohlverhalten bei der Zulassungsentziehung wegen gröblicher Pflichtverletzung entwickelten Grundsätze seien erst recht auf solche Fallgestaltungen anzuwenden, in denen Zulassungsgremien ohne ersichtlichen Grund über einen langen Zeitraum untätig blieben, etwa um den Ausgang eines Strafverfahrens abzuwarten, obwohl dies nicht erforderlich sei. Die strafrechtliche Würdigung des Fehlverhaltens eines Arztes, insbesondere im Bereich der Falschabrechnung, sei für die Entscheidung der Zulassungsgremien nicht ausschlaggebend, da es auf strafrechtlich vorwerfbares Handeln nicht ankomme. Gerade der vorliegende Fall zeige, dass es sinnvoll gewesen wäre, wenn die Zulassungsgremien mit Unterstützung der Beigeladenen zu 1) eigene Ermittlungen unter Rückgriff auf die Akten der Staatsanwaltschaft vorgenommen hätten. Denn bei zeitnaher Begehung der Praxis des Klägers hätte sich dann auch noch klären lassen, ob die Praxis seinerzeit über einen schallisolierten Raum verfügt habe bzw. ob das zu Erbringung und Abrechnung der Ziffer 1604 EBM alte Fassung (aF) benötigte Gerät vorhanden sei. Diese Vorwürfe hätten im Strafverfahren keine Rolle mehr gespielt. Im hiesigen Fall sei ein Abwarten auf den Ausgang des strafrechtlichen Verfahrens nicht erforderlich gewesen. Seit Eingang des Antrags auf Zulassungsentziehung bis zur Entscheidung durch den Beklagten seien ca. neun Jahre vergangen. Auch nach Auffassung des BSG solle bei einer Wiederzulassung eines Vertragsarztes eine Bewährungszeit von fünf Jahren nur in besonderen Fällen überschritten werden. Im gerichtlichen Verfahren sei der Wegfall der ursprünglich gegebenen Ungeeignetheit bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in einer Tatsacheninstanz zu berücksichtigen, wobei ein bloßer Zeitablauf im Sinne einer "Bewährungszeit" nicht automatisch zu einer Wiedererlangung der Eignung führe. Entscheidend seien vielmehr einzelfallbezogene Gesichtspunkte. Im vorliegenden Fall könne die Kammer keine ernsthaften Zweifel an einer nachhaltigen Verhaltensänderung des Klägers erkennen. Weder die Beigeladene zu 1) noch die übrigen Beigeladenen hätten auf Nachfrage des Gerichts entsprechende Tatsachen vorgetragen. Die Kammer verkenne nicht, dass der Kläger in einer besonders schweren Weise gegen seine Pflichten als Vertragsarzt verstoßen habe und auch heute noch die Ansicht vertrete, im strafrechtlichen Verfahren seien die Vorwürfe nicht hinreichend zu seinen Gunsten geklärt worden. Auch habe eine Schadenswiedergutmachung nicht stattgefunden. In diesem Zusammenhang müsse aber auch der Beigeladenen zu 1) angelastet werden, dass der Kläger zu keinem Zeitpunkt zur Begleichung eines Schadens aufgefordert worden sei. Im Übrigen sei es auch nicht nachvollziehbar, weshalb nicht unverzüglich nach Kenntnis der Vorwürfe der Falschabrechnungen Honorarberichtigungsbescheide mit Kürzung des vertragsärztlichen Honorars aufgrund von Schätzungen bzw. aufgrund von sachlich-rechnerischen Berichtigungen stattgefunden hätten. Im Rahmen einer Gesamtwürdigung erweise sich die Zulassungsentziehung bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten im Hinblick auf die durch Artikel 12 Abs. 2 Grundgesetz (GG) geschützte Berufswahlfreiheit als rechtswidrig.

Gegen dieses ihm am 1. März 2012 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten vom 27. März 2012, zu deren Begründung er vorträgt: Auch wenn eine durch gröbliche Pflichtverletzung verloren gegangene Eignung im Laufe eines lange dauernden Verfahrens wiedererlangt werden könne, habe das Sozialgericht nicht hinreichend die Besonderheiten des vorliegenden Falles beachtet. Indem das Sozialgericht auf die unterlassene Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen durch die Beigeladene zu 1) sowie die erst späte Wiederaufnahme des Zulassungsentziehungsverfahrens durch den Zulassungsausschuss, letztlich also allein auf den Zeitablauf von etwa zehn Jahren, abstelle, führe es ein im Gesetz nicht vorgesehenes Kriterium, nämlich ein bestimmtes Verhalten seinerseits – des Beklagten – bzw. der Beigeladenen zu 1), als entscheidungserheblich ein. Zur Wiedergewinnung des Vertrauens könne jedoch nur ein Verhalten des Klägers führen. Es möge auch zutreffen, dass er – der Beklagte –schon vor Abschluss des Strafverfahrens Rückgriff auf die Akten der Staatsanwaltschaft hätte nehmen können. Daraus folge aber nicht, dass das, was möglich sei, auch sinnvoll sei. Dass er eigene Ermittlungen hätte anstellen können, erweise sich als hypothetisch, denn damit sei nicht gesagt, dass er über bessere Ermittlungsmöglichkeiten verfüge als Polizei und Staatsanwaltschaft. Vielmehr verfüge er – anders als Polizei und Staatsanwaltschaft – über keine Zwangsmittel: Durchsuchungen seien nicht durchsetzbar, Zeugen müssten bei ihm nicht aussagen. Auch wenn die Beantragung der Vernehmung von Zeugen durch das Sozialgericht nach § 22 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) möglich wäre, würde dies zu einer weiteren Verzögerung des Verfahrens führen und es sei nicht ersichtlich, welche anderen Erkenntnisse aus einer derartigen Verfahrensweise hätten gewonnen werden können. Hinsichtlich des "Wohlverhaltens" komme es darauf an, dass dieses schwerer wiege als die früheren Verstöße. Hierzu treffe das angefochtene Urteil keine Aussagen. Aus seiner – des Beklagten – Sicht erscheine eine Verhinderung der Zulassungsentziehung allein aufgrund Zeitablaufs ausgeschlossen. Der vorliegende Fall zeige deutlich, dass der Zeitablauf auch wesentlich in der Hand des Klägers liege, der durch Rechtsbehelfe verhindern könne, dass das Verfahren zügig abgeschlossen werde.

Der Beklagte und die Beigeladene zu 1) beantragen,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Januar 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene zu 1) nimmt Bezug auf die Berufungsbegründung des Beklagten. Ferner trägt sie vor: Zwischenzeitlich habe das BSG seine langjährige Rechtsprechung zum sogenannten Wohlverhalten aufgegeben. Da im vorliegenden Fall die "Bewährungszeit" von fünf Jahren seit der Entscheidung des Beklagten noch nicht abgelaufen sei, sei die neue Rechtsprechung des BSG auf ihn anzuwenden. Ausführungen zum Wohlverhalten seien in diesem Verfahren somit irrelevant und könnten im Verfahren um die Wiederzulassung des Klägers zur Geltung kommen. Maßgeblich sei demnach die Sachlage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, also dem 26. Januar 2011. Dass die Annahme gröblicher Pflichtverletzungen sich auf Tatsachenfeststellungen in anderweitigen bestandskräftigen Entscheidungen und deren Inhalt stützen könne, insbesondere auf Strafurteile und -befehle, aber auch Disziplinarentscheidungen und Bußgeldbescheide, sei in der Rechtsprechung des BSG anerkannt. Dass der Beklagte bzw. sie – die Beigeladene zu 1) – nicht schon nach den Feststellungen des Amtsgerichts im Mai 2008 tätig geworden sei, liege schlicht und ergreifend darin, dass sie keine Kenntnis vom erstinstanzlichen Urteil gehabt hätten. Auf eine Negativprognose für das zukünftige Verhalten im Sinne einer Wiederholungsgefahr komme es nach der Rechtsprechung des BSG ebenfalls nicht an, da es für ein solches Erfordernis keinen Ansatz in § 95 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) gebe. Selbst wenn es auf eine Prüfung des Wohlverhaltens ankommen sollte, ergäbe sich nichts anderes. "Wohlverhalten" erfordere somit retrospektiv eine Verhaltensänderung und prospektiv eine positive Prognose. Es knüpfe dabei nicht an einen bloßen Zeitablauf an, sondern es bedürfe darüber hinaus neben der bereits dargestellten Würdigung des bisherigen Verhaltens einer prognostischen Wertung des zukünftigen Verhaltens. Eine an sich indizierte Ungeeignetheit könne nur dann durch eine bloße lange Zeitdauer relativiert werden, wenn ein zukünftiges rechtmäßiges Verhalten prognostiziert werden könne. Eine solche zweifelsfrei nachhaltige Ver¬haltensänderung sei beim Kläger nicht erkennbar. Denn er leugne nach wie vor seinen durch die Strafgerichte festgestellten Tatbeitrag. Fehle es indes dem Kläger bis heute an der erforderlichen Einsicht, bedürfe es auch keiner positiven Prognose hinsichtlich seines künftigen Verhaltes.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bringt ergänzend zu seinen erstinstanzlich Ausführungen vor: Auch nach seiner – sehr milden – strafrechtlichen Verurteilung stehe es ihm frei, sich außerhalb des Strafverfahrens gegen eine aus seiner Sicht unberechtigte und ehrverletzende Beschuldigung zu wehren. Dies tue er nicht aus Uneinsichtigkeit, sondern aufgrund des in vielfacher Hinsicht fehlerhaften strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens bzw. Strafprozesses. Nach wie vor sei er der Auffassung, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, die er selbst nicht als entschuldbar ansehen würde, wenn sie denn zuträfen, unberechtigt seien. Schritte zur Wiedergutmachung des Schadens habe er bislang nicht unternehmen können, da er bis heute nicht nachvollziehen könne, ob die Schadensberechnung, von der das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten ausgehe, zutreffend sei. Zeitungsmeldungen zufolge könnten sich Menschen mehr als vier Jahre später nicht mehr erinnern.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte und Akten der Strafverfolgungsbehörden, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Bescheid des Beklagten vom 26. Januar 2011 aufgehoben. Dieser Bescheid ist rechtmäßig, da die Voraussetzungen für eine Zulassungsentziehung im Falle des Klägers erfüllt sind.

I. Rechtsgrundlage der angefochtenen Entscheidung des Beklagten ist § 95 Abs 6 Satz 1 SGB V. Danach ist einem Vertragsarzt die Zulassung unter anderem dann zu entziehen, wenn er seine vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt.

1. Eine Pflichtverletzung ist gröblich, wenn sie so schwer wiegt, dass ihretwegen die Entziehung zur Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung notwendig ist. Davon ist nach der Rechtsprechung des BVerfG wie auch des BSG auszugehen, wenn die gesetzliche Ordnung der vertragsärztlichen Versorgung durch das Verhalten des Arztes in erheblichem Maße verletzt wird und das Vertrauensverhältnis zu den vertragsärztlichen Institutionen tiefgreifend und nachhaltig gestört ist, sodass ihnen eine weitere Zusammenarbeit mit dem Vertrags(zahn)arzt nicht mehr zugemutet werden kann (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. Urteil vom 17. Oktober 2012 – B 6 KA 49/11 R –, juris, m.w.N.). Wiederholt unkorrekte Abrechnungen können die Zulassungsentziehung insbesondere deswegen rechtfertigen, weil die Funktionsfähigkeit des von anderen geschaffenen und finanzierten Leistungssystems der gesetzlichen Krankenversicherung, an dem der Arzt durch seine Zulassung teilnimmt, in dem hier zu betrachtenden Teil der vertragsärztlichen Versorgung entscheidend mit davon abhängt, dass die Kassenärztliche Vereinigung (KV) und die Krankenkassen auf die ordnungsgemäße Leistungserbringung und auf die peinlich genaue Abrechnung der zu vergütenden Leistungen vertrauen können. Dieses Vertrauen ist deshalb von so entscheidender Bedeutung, weil ordnungsgemäße Leistungserbringung und peinlich genaue Abrechnung lediglich in einem beschränkten Umfang der Überprüfung durch diejenigen zugänglich sind, die die Gewähr für die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung zu tragen haben, nämlich die KV und die Krankenkassen (BSG, Urteil vom 24. November 1993 – 6 RKa 70/91 –, juris). Damit kommt zum Ausdruck, dass die Entziehung dem Schutz des vertragsärztlichen Systems gegen Störungen dient, nicht aber der Sanktionierung strafwürdigen Verhaltens (BSG, Beschluss vom 09. Februar 2011 – B 6 KA 49/10 B –, juris; Urteil vom 25. Oktober 1989 – 6 RKa 28/88 –, juris; jeweils m.w.N.). Für den Tatbestand einer gröblichen Pflichtverletzung i.S.v. § 95 Abs 6 SGB V ist nicht erforderlich, dass den Vertragsarzt ein Verschulden trifft; auch unverschuldete Pflichtverletzungen können zur Zulassungsentziehung führen (BSG, Urteil vom 17. Oktober 2012, a.a.O.).

2. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Zulassungsentziehung ist sowohl bei vollzogenen als auch bei nicht vollzogenen Entziehungsentscheidungen grundsätzlich (nur noch) die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung. Auf bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht eingetretene Änderungen kommt es – auch im Hinblick auf das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) – nach der neueren Rechtsprechung des BSG (a.a.O.) hingegen nicht mehr an.

Bezogen auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, d.h. den Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten, haben die Gerichte alle durch den betroffenen Arzt bis dahin begangenen Pflichtverletzungen zu berücksichtigen, und zwar unabhängig davon, ob sie von dem Berufungsausschuss verwertet worden sind oder nicht (vgl. BSG, a.a.O.). Dies bedeutet indes nicht, dass die Gerichte von sich aus alle Umstände zu ermitteln hätten, die geeignet sein könnten, die Voraussetzungen für eine Zulassungsentziehung zu erfüllen. Denn die Gerichte sind nicht selbst Zulassungsgremien. Sie prüfen vielmehr nur, ob die Umstände, auf die die Zulassungsgremien die Entziehung gestützt haben, die Zulassungsentziehung rechtfertigen bzw. – ergänzend – ob die Zulassungsentziehung aufgrund sonstiger Umstände gerechtfertigt ist, die im Laufe des gerichtlichen Verfahrens von den Verfahrensbeteiligten geltend gemacht worden oder auf andere Weise bekannt geworden sind (BSG SozR 4-2500 § 95 Nr. 9).

II. Hieran gemessen hat die Zulassungsentziehung Bestand.

1. Wie vom SG zutreffend dargestellt, hat der Kläger seine vertragsärztlichen Pflichten durch die – auch strafgerichtlich – festgestellten Abrechnungsverstöße (besonders) gröblich verletzt. Er hat danach einerseits Leistungen für Patienten abgerechnet, die er nicht behandelt hat (und von den Strafverfolgungsbehörden daher als Phantompatienten bezeichnet wurden): 5 Patienten im Quartal IV/97, 11 Patienten im Quartal I/98, 36 Patienten im Quartal II/98, 26 Patienten im Quartal III/98. Andererseits hat er in allen Quartalen des Jahres 1998 insgesamt 2098-mal Leistungen nach der GOP 375 ("Sonographische Untersuchung der Nasennebenhöhlen und/ oder von Organen der Gesichts- und Halsregion mit Ausnahme der Schilddrüse, mittels Real-Time-Verfahren (B-Mode), einschl. Bilddokumentation") des damals geltenden EBM abgerechnet, ohne die erforderlichen Bilddokumentation erstellt zu haben. Diese Pflichtverletzungen als solche, aber auch jeder der beiden Tatkomplexe ("Phantompatienten" einerseits, fehlende Bilddokumentation andererseits) für sich genommen, sind gravierend und geeignet, eine Entziehung der Zulassung zu tragen.

a. Bei der Annahme gröblicher Pflichtverletzungen dürfen sich die Zulassungsgremien und die Gerichte – ggf. auch ausschließlich – auf die Tatsachenfeststellungen in anderweitigen bestandskräftigen Entscheidungen und deren Inhalt stützen, insbesondere auf Strafurteile und Strafbefehle, aber z.B. auch auf Disziplinarentscheidungen und Bußgeldbescheide wegen Qualitätsmängeln (BSG, Beschluss vom 05. Mai 2010 – B 6 KA 32/09 B –, juris). Die diesbezüglichen Rügen der Klägerseite sind demzufolge unberechtigt.

b. Auch die Einwände des Klägers gegen die Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts gehen fehl. Dieses hat überzeugend dargelegt, auf welchen von ihm festgestellten Tatsachen der Vorwurf des mehrfachen Betruges beruht und aus welchen Gründen den Einwänden des Klägers nicht zu folgen ist.

aa. Hinsichtlich der fehlenden Bilddokumentationen, welche für die Abrechnung der GOP 375 erforderlich waren, ist es demnach widersprüchlich, dass einerseits die beiden Arzthelferinnen des Klägers nach eigenen Angaben für alle verwaltungstechnischen Vorgänge einschließlich der Führung der Karteikarten und den darauf zu notierenden Eintragungen zuständig gewesen sein sollen, sich aber an die Anfertigung von Bilddokumentationen nicht erinnern konnten, andererseits der Kläger aber auch nicht behauptet habe, diese Anfertigung selbst vorgenommen zu haben. So bleibt in der Tat unerfindlich, durch wen diese Dokumentation bewirkt wurde.

bb. 78 vom Amtsgericht als Zeugen vernommene angebliche Patienten des Klägers kannten weder ihn noch seine Praxis, und sie waren sich außerdem sicher, dort niemals behandelt worden zu sein. Vielen Zeugen waren die Namen der aus den Überweisungsscheinen ersichtlichen Vertragsärzte bekannt, Überweisungen an einen HNO-Arzt erfolgten indes nur in Einzelfällen und führten nicht zu Behandlungen durch den Kläger. Die Angaben dieser Zeugen, die nahezu sämtlichen Altersgruppen entstammen und alle sozialen Schichten repräsentieren, hielt das Amtsgericht aus nachvollziehbaren Gründen für glaubhaft. Dass – so das klägerische Vorbringen – eine große Zahl der Zeugen alt und der deutschen Sprache nicht mächtig gewesen sei, ist dem Urteil des Amtsgerichts gerade nicht zu entnehmen.

c. Entgegen der klägerischen Ansicht steht der vom Landgericht offensichtlich vorgeschlagene "Deal" einem Rückgriff der Zulassungsgremien bzw. des Senats auf die Feststellungen des Amtsgerichts nicht entgegen. Aus welchen Gründen der Kläger im Verfahren vor dem Landgericht seine Berufung auf das Strafmaß beschränkte, ist für die Verwertbarkeit der amtsgerichtlichen Feststellungen grundsätzlich irrelevant. Durch die Berufungsbeschränkung hat er vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass er die Tatsachenfeststellungen des Amtsgerichts nicht weiter in Frage stellt, offensichtlich in der Hoffnung auf ein geringeres Strafmaß (so jedenfalls der Schriftsatz seiner ihn auch im hiesigen Verfahren vertretenden Verteidigerin vom 12. November 2009). Dann aber stellt es sich als unzulässiges "Rosinenpicken" dar, wenn der Kläger im strafgerichtlichen Verfahren die gegen ihn gerichteten Vorwürfe in der Erwartung eines persönlichen Vorteils hinnimmt, im sozialrechtlichen Verfahren aber in der Hoffnung auf einen anders gearteten Vorteil (Fortbestand der Zulassung) diese Vorwürfe wieder grundlegend bestreitet.

2. Der erhebliche Zeitraum zwischen der letzten strafgerichtlich festgestellten Pflichtverletzung des Klägers und dem streitgegenständlichen Beschluss des Beklagten rechtfertigt im vorliegenden Fall keine andere Bewertung.

a. Die Möglichkeit, einem Vertragsarzt die Zulassung wegen gröblicher Pflichtverletzung zu entziehen, schränkt das Grundrecht auf Berufsfreiheit in einem Maße ein, das in seiner Wirkung der Beschränkung der Berufswahl im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG nahe kommt. Gröbliche Pflichtverletzungen rechtfertigen eine Entziehung der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung – wie bereits dargelegt – nur, wenn sie den Vertragsarzt als ungeeignet für die Teilnahme an der vertragszahnärztlichen Versorgung erscheinen lassen (BVerfGE 69, 233-248). Die Zulassungsentziehung darf deshalb unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur ausgesprochen werden, wenn sie das einzige Mittel zur Sicherung und zum Schutz der vertragsärztlichen Versorgung ist (BSG, Urteil vom 24. November 1993 – 6 RKa 70/91 –, veröffentlicht in Juris), sich – mit anderen Worten – als ultima ratio darstellt (Pawlita, in: jurisPK-SGB V, 2. A., § 95 Rd. 621).

b. Daher muss in allen Fällen, in denen die Zulassungsentziehung erst Jahre nach dem letzten ihr zugrunde liegenden Fehlverhalten des Vertragsarztes erfolgt, geprüft werden, ob in Anbetracht einer gravierenden Pflichtverletzung noch die Annahme gerechtfertigt ist, hierdurch werde das Vertrauensverhältnis zu den vertragsärztlichen Institutionen so tiefgreifend und nachhaltig gestört, dass ihnen eine weitere Zusammenarbeit mit dem Vertragsarzt nicht mehr zugemutet werden kann. Allerdings enthält die gesetzliche Regelung keine ausdrückliche "Verjährungsfrist", die die Zulassungsgremien daran hindern würde, bereits länger zurückliegende gröbliche Pflichtverletzungen zur Begründung einer Zulassungsentziehung heranzuziehen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet es aber, Pflichtverletzungen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung der Zulassungsgremien bereits länger als die übliche Bewährungszeit von fünf Jahren zurück liegen, nur dann noch zur Grundlage einer Zulassungsentziehung zu machen, wenn sie besonders gravierend sind (z.B. Fälle systematischen Fehlverhaltens im Behandlungs- oder Abrechnungsbereich) oder aus anderen Gründen – etwa bei fortgesetzter Unwirtschaftlichkeit – bis in die Gegenwart hinein fortwirken (BSG, Urteil vom 19. Juli 2006 – B 6 KA 1/06 R –, juris).

c. Auch unter Beachtung dieses Maßstabs erweist sich die Zulassungsentziehung im hiesigen Fall als rechtmäßig.

aa. Die Berücksichtigung von Pflichtverletzungen, die, gerechnet vom Zeitpunkt der ersten Entziehungsentscheidung durch den Zulassungsausschuss an, mehr als fünf Jahre zurückliegen, ist im Falle des Klägers nicht zu beanstanden, weil sie Ausdruck eines systematischen Fehlverhaltens im Abrechnungsbereich und daher besonders gravierend sind.

Die besondere Schwere der Pflichtverletzung beruht bei der fehlenden Bilddokumentation im Rahmen der Abrechnung von Leistungen nach der GOP 375 insbesondere auf der außerordentlich hohen Anzahl dieses Leistungsansatzes. Der Kläger hat diese Leistung durchschnittlich mehr als 500 Mal je Quartal des Jahres 1998 geltend gemacht und lag hiermit fast 90 % über dem Fachgruppendurchschnitt. Hinzukommt, dass nach den Feststellungen des Amtsgerichts der Kläger die Bedeutung dieser Bilddokumentation im Zusammenhang mit seiner Pflicht zur vollständigen Leistungserbringung bzw. zur peinlich genauen Abrechnung offenkundig völlig verkennt. Denn zum einen konnten bei der Durchsuchung der Praxisräume keinerlei Bilddokumentationen gefunden werden. Zum anderen hatten seine als Zeuginnen vernommenen Arzthelferinnen P und F – wie bereits dargelegt – nach ihren eigenen Angaben die Bilddokumentation nicht gefertigt bzw. noch nicht einmal Kenntnis hiervon, obwohl sie für alle verwaltungstechnischen Vorgänge bis hin zur Führung der Karteikarten und den darauf zu notierenden Eintragungen verantwortlich waren. Der Kläger hat aber auch nicht für sich in Anspruch genommen, die Bilddokumentation selbst verwaltet zu haben. Dies alles lässt nur den Schluss zu, dass der Kläger die Erstellung einer Bilddokumentation und somit eine vollständige Erbringung der Leistung nicht für erforderlich hielt.

Noch schwerer wiegt indes die Abrechnung von Leistungen für sog. Phantompatienten. Diese war dem Kläger nur möglich, indem er mit anderen Vertragsärzten Patientendaten austauschte. Offensichtlich um die darin liegende Missachtung sämtlicher datenschutzrechtlicher Bestimmungen zu bemänteln, stellten die beteiligten Vertragsärzte zusätzlich Überweisungsscheine für diese Patienten aus, was ihnen die Abrechnung einer weiteren GOP (Nr. 42 EBM – "Konsiliarische Erörterung zwischen zwei oder mehr behandelnden Ärzten über die bei demselben Patienten in demselben Quartal erhobenen Befunde") ermöglichte. Ein solches Vorgehen erfordert kriminelle Energie von besonderer Intensität.

Aufgrund dieser besonders schweren Pflichtverletzungen erwies sich der Kläger zumindest seit ihrer Begehung als für die vertragsärztliche Versorgung ungeeignet.

bb. Diese fehlende Eignung hat sich in der Zwischenzeit nicht durch etwaiges "Wohlverhalten" des Klägers wieder in die erforderliche Eignung umgewandelt.

(1) Für die Frage, welche Voraussetzungen zur Wiedererlangung der einmal verloren gegangenen Eignung eines Vertragsarztes erfüllt sein müssen, kann im Rahmen einer Zulassungsentziehung auf die Kriterien zurückgegriffen werden, die für eine Wiederzulassung nach vorangegangener Zulassungsentziehung entwickelt wurden. Denn die fehlende Eignung eines Arztes steht nach § 21 Zulassungsverordnung-Ärzte (Ärzte-ZV) seiner Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung entgegen, bildet aber gemäß § 95 Abs. 6 SGB V ("Die Zulassung ist zu entziehen, wenn ihre Voraussetzungen nicht oder nicht mehr vorliegen [ ]") auch einen Entziehungsgrund. Das Tatbestandsmerkmal der fehlenden Eignung ist daher sowohl im Zulassungs- als auch im Entziehungsverfahren am selben Maßstab zu messen.

(2) "Eignung" meint die Fähigkeit und Bereitschaft des (Zahn-)Arztes, an der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung mitzuwirken. Hat sich ein (Zahn-)Arzt in der Vergangenheit als ungeeignet für die vertragsärztliche Versorgung erwiesen, so lässt dies in der Regel auch auf seine fehlende Eignung in der Zukunft schließen. Dass bedeutet zwar nicht, dass eine Wiederzulassung in derartigen Fällen generell ausgeschlossen ist, doch setzt sie in jedem Fall voraus, dass das Vertrauensverhältnis im Zeitpunkt der Entscheidung durch die Zulassungsgremien wieder hergestellt ist. Dies erfordert eine entsprechende Prognose hinsichtlich einer vertrauensvollen Kooperation, bei der grundsätzlich alle Umstände des Einzelfalles in Betracht zu ziehen und zu würdigen sind. Hierbei ist zu beachten, dass eine an sich aufgrund gröblicher Pflichtverletzungen in der Vergangenheit indizierte Ungeeignetheit des Vertrags(zahn)arztes, die eine Zulassungsentziehung rechtfertigt, nur dann infolge veränderter Umstände relativiert werden kann, wenn die Prognose künftig ordnungsgemäßen Verhaltens des betreffenden (Zahn-)Arztes zweifelsfrei zur Überzeugung des Gerichts feststeht. Durch Tatsachen belegte ernstliche Zweifel an einer nachhaltigen – eine positive Prognose rechtfertigenden – Verhaltensänderung führen dazu, dass ein rechtlich relevantes "Wohlverhalten" zu verneinen ist (BSG, Beschluss vom 09. Februar 2011 – B 6 KA 49/10 B –, juris).

Ein für die Wiederherstellung des Vertrauens wie auch für eine positive Prognose wesentlicher Umstand ist dabei typischerweise die Frage der Einsicht des Betroffenen in den Unrechtsgehalt seines Verhaltens und einer hieraus ggf. resultierenden Einstellungs- und Verhaltensänderung für die Zukunft. Andernfalls ließe sich nicht feststellen, ob der (Zahn-)Arzt die Sanktionierung seines Fehlverhaltens – etwa durch eine Zulassungsentziehung, eine Disziplinarmaßnahme oder eine strafrechtliche Verurteilung – zum Anlass genommen hat, sein Fehlverhalten zu korrigieren. Ungeachtet der Rechte des betroffenen (Zahn-)Arztes in einem etwaigen Strafverfahren ist ein Vertragsarzt, der an der Aufklärung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe kooperativ mitwirkt und glaubhaft machen kann, sich in Zukunft korrekt zu verhalten, anders zu behandeln als ein (Zahn-)Arzt, der auch nach bestands- bzw. rechtskräftiger Feststellung der Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens keine geänderte Einstellung erkennen lässt (BSG a.a.O.). Zwar muss dem betroffenen Arzt die Ausübung insbesondere seiner Rechte im Strafverfahren unbenommen bleiben, und es muss ihm möglich sein, sich im Streit um die Rechtmäßigkeit der Zulassungsentziehung mit dem Unrechtsgehalt des ihm zur Last gelegten Verhaltens auseinanderzusetzen. Mit einer derartigen prozessualen Vorgehensweise wird der Betroffene regelmäßig die (gröbliche) Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens in Abrede stellen, also das Vorliegen der Voraussetzungen des § 95 Abs. 6 SGB V im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung. Das Vorbringen ist daher bei der Prüfung des Vorliegens einer groben Pflichtwidrigkeit zu würdigen. Kommen die Zulassungsgremien oder ein Gericht dann allerdings zu dem Ergebnis, dem Arzt sei eine gröbliche Pflichtverletzung vorzuwerfen, so sind sie verfassungsrechtlich nicht gehindert, das entsprechende Vorbringen auch bei der Prüfung zur berücksichtigen, ob sich die Sachlage während des Prozesses zugunsten des Betroffenen geändert hat (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22. Dezember 2008 – 1 BvR 3457/08 –, juris).

Aufgrund dessen steht außer Frage, dass ein bloßer Zeitablauf nicht geeignet ist, (erneut) eine Eignung des (Zahn-)Arztes zu begründen (BSG a.a.O.). Denn die Zulassungsentziehung dient – wie bereits dargelegt – nicht der Sanktionierung ärztlichen Fehlverhaltens, sodass der Verjährungsgedanke des Strafrechts oder des Disziplinarrechts der Beamten (vgl. § 15 Bundesdisziplinargesetz) unanwendbar ist, sondern sie soll einzig und allein das Funktionieren des vertragsärztlichen Systems sichern.

Ob der Beigeladenen zu 1) oder den Zulassungsgremien im Zusammenhang mit dem Entziehungsverfahren Versäumnisse anzulasten sind, etwa wegen zu zögerlicher Bearbeitung oder wegen unzureichender Ermittlungen, ist – wie in der mündlichen Verhandlung auch von der Klägerseite eingeräumt wurde – für die Frage der (wiedererlangten) Eignung eines Vertragsarztes naturgemäß ohne Bedeutung.

(3) Dass der Kläger über die gebotene Unrechtseinsicht (derzeit) nicht verfügt, liegt nach Auffassung des Senats auf der Hand. Sein nach wie vor beharrliches Leugnen jedweden Fehlverhaltens, welches er auch im Klage- und Berufungsverfahren fortführt, belegt, dass er weiterhin jede Einsicht in die Pflichtwidrigkeit früheren Verhaltens vermissen lässt, da er an verschiedener Stelle Fehler der beteiligten Institutionen anführt, obwohl diese für die maßgebliche Frage seiner Eignung ohne Bedeutung sind, während er andererseits die Umstände, die Veranlassung dazu gegeben haben, ihm die Zulassung rechtskräftig zu entziehen, nicht einmal ansatzweise reflektiert.

Selbst seine Erklärungsversuche belegen ein eklatantes Maß an Unkenntnis des vertragsärztlichen Pflichtengefüges. So sieht er es als Zufall an, dass im Jahre 2000 bei den beteiligten Institutionen der vertragsärztlichen Versorgung noch Abrechnungsunterlagen für das Jahr 1998 vorhanden waren. Auch geht er offenkundig davon aus, dass er ohne die strafrechtlichen Ermittlungsbemühungen im Jahre 2000 nicht mehr in der Lage hätte sein müssen, eine vollständige Leistungserbringung nachzuweisen. In beiden Fällen ist ihm offensichtlich nicht bekannt, dass die Beigeladene zu 1) grundsätzlich bis zu 4 Jahre nach Bekanntgabe des jeweiligen Honorarbescheids zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung (BSG, Urteil vom 6. September 2006 – B 6 KA 40/05 R –, juris) bzw. die Prüfeinrichtungen zur Wirtschaftlichkeitsprüfung befugt sind (BSG, Urteil vom 5. Mai 2010 – B 6 KA 5/09 R, juris), was eine entsprechende Aufbewahrungspflicht oder zumindest -obliegenheit nach sich zieht.

Die fehlende Einsicht wird auch daran deutlich, dass der Kläger zwar den langen Zeitraum zwischen Pflichtverletzung und Entziehungsentscheidung kritisiert, jedoch nicht in Betracht zieht, dass dieser Zeitraum nicht (ausschließlich) fremdbestimmt ist, sondern maßgeblich von seinem Verhalten mitbestimmt wurde.

Soweit der Kläger in der Berufungshauptverhandlung vor dem Landgericht nach der Urteilsbegründung eine "gewisse Einsicht und Reue" hat erkennen lassen, sind diese im Zulassungsentziehungsverfahren bislang noch nicht zu Tage getreten. Der Wortlaut der entsprechenden Äußerungen des Klägers sind weder dem Protokoll der Berufungshauptverhandlung noch dem Urteil des Landgerichts zu entnehmen, sodass der Senat den Umfang dieser "Einsicht und Reue" nicht ermessen kann.

(4) Steht schon die fehlende Unrechtseinsicht des Klägers der Wiedererlangung der vertragsärztlichen Eignung entgegen, können die weiteren für eine fortbestehende Ungeeignetheit sprechenden Umstände im Grunde dahinstehen. Allerdings konstatiert der Senat, dass der Kläger – aus seiner Sicht möglicherweise konsequent – auch keinerlei Bemühungen zur Wiedergutmachung des entstandenen Schadens unternommen hat. Dass er die Schadensberechung im Urteil des Amtsgerichts nicht nachvollziehen kann, rechtfertigt fehlende Anstrengungen nicht. Denn es ist nicht ersichtlich, dass sich der Kläger um eine Erläuterung etwa durch die Beigeladene zu 1), auf deren Angaben im Ermittlungsverfahren die Schadensberechnung des Amtsgerichts maßgeblich beruht, bemüht hat. Es hätte dem Kläger selbstverständlich freigestanden, von sich aus bei der Beigeladenen zu 1) entsprechend nachzufragen. Darüber hinaus hätte es nahe gelegen, dass der Kläger zumindest den nach seiner Berechnung entstandenen Schaden ausgleicht.

(5) Angesichts fehlender Unrechtseinsicht und mangelnder Bemühungen um eine Wiedergutmachung kann allein der Umstand, dass seit Ende des Quartals IV/98 keinerlei Pflichtverletzungen des Klägers mehr bekannt geworden sind, keine Wiedererlangung der Eignung begründen. Insofern darf nicht unbeachtet bleiben, dass ein pflichtgemäßes Verhalten eines Vertragsarztes nicht etwa eine besonders hervorzuhebende Leistung seinerseits darstellt, sondern nur das, was jedem zugelassenen Vertragsarzt in seiner alltäglichen Arbeit abverlangt wird und daher selbstverständlich ist.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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