L 10 R 623/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 8 R 2979/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 623/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 16.01.2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu gewähren sind.

Der am 1962 geborene Kläger, der ohne abgeschlossene Berufsausbildung ist, übte verschiedene Tätigkeiten, unter anderem als Lagerist, Kraftfahrer und Aushilfsbusfahrer aus. Den 1986 erworbenen Busfahrerführerschein ließ er angesichts seiner aufkommenden Stoffwechselproblematik nicht mehr verlängern. Zuletzt arbeitete der Kläger im Unternehmen seiner Ehefrau, nach deren Angaben als Hilfskraft im Versandhandel mit Fahrertätigkeiten an zwei bis drei Tagen in der Woche für sechs Stunden bis November 2007. Das Arbeitsverhältnis endete krankheitsbedingt zum März 2009.

Einen ersten Antrag des Klägers auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte nach Einholung eines internistischen Gutachtens des Dr. P. mit Bescheid vom 25.04.2000 ab. Nach den getroffenen Feststellungen bestehe Erwerbsunfähigkeit seit 20.03.2000 (Rentenantrag). Darauf bezogen würden die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht vorliegen, weil in den letzten fünf Jahren drei Jahre Pflichtbeitragszeiten nicht vorhanden seien. Im Januar 2008 beantragte der Kläger neuerlich die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Er legte einen Schwerbehindertenausweis vom Mai 2003 vor, in welchem ihm - wie schon 1999 - ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkmale "G" (erhebliche Gehbehinderung), "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung), "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) und - ab 2002 - "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) bescheinigt wurden. Die Beklagte veranlasste daraufhin eine internistische Begutachtung durch Dr. M ... Dieser diagnostizierte beim Kläger in seinem Gutachten vom Februar 2008 ein extremes Übergewicht (nach Angaben des Klägers 185 kg bei 178 cm Körpergröße), einen ausgeprägten Hüftverschleiß links mit Beinverkürzung nach Verletzung in der Kindheit, einen Bluthochdruck, einen Diabetes mellitus Typ II b mit Polyneuropathie, eine ausgeprägte, durch das Übergewicht verursachte Schwellneigung, vorwiegend der Beine, sowie ein schweres Schlafapnoe-Syndrom, durch Maskenbeatmung kompensiert. Es sei völlig klar, dass der Kläger schon aus mechanischen Gründen zur Zeit nicht in der Lage sei, eine auch nur leichte körperliche Tätigkeit über drei Stunden auszuüben. Sollte es nicht gelingen, das Körpergewicht allmählich auf wenigstens 150 kg zu senken, so sei mit einer Verbesserung des Leistungsvermögens nicht zu rechnen. Auch eventuelle operative Maßnahmen zur Sanierung des linken Hüftgelenkes seien erst nach erfolgreicher Gewichtsreduktion vorstellbar. Mit Bescheid vom 14.03.2008 bzw. Widerspruchsbescheid vom 15.07.2008 lehnte die Beklagte die beantragte Rente ab, weil die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, ausgehend von einen Leistungsfall im März 2000, nicht erfüllt seien. Erwerbsunfähigkeit sei am 20.03.2000 eingetreten. Im Juni 2008 erfolgte weiterhin eine Begutachtung durch den medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK). Dr. B. gelangte zum Ergebnis, dass der Kläger derzeit und in absehbarer Zeit nicht in der Lage sei, irgendeine Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes vollschichtig auszuüben. Gegenwärtig werde angesichts des extremen Übergewichts mit erheblichen mechanischen Beeinträchtigungen der Beweglichkeit (z.B. inkompletter Schürzengriff) und einem metabolischen Syndrom mit insulinpflichtigem, seit Jahren schlecht eingestelltem Diabetes mellitus, einer arteriellen Hypertonie und einem obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom auch keine nur dreistündige tägliche Leistungsfähigkeit für Arbeitsleistungen des allgemeinen Arbeitsmarktes gesehen.

Während des anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Reutlingen (S 8 R 2674/08) veranlasste die Beklagte eine Begutachtung auf internistischem und orthopädischem Gebiet im Januar 2010. Der Orthopäde Dr. B. vom sozialmedizinischen Dienst der Beklagten stellte beim Kläger unter anderem auf Grundlage einer im Dezember 2009 durchgeführten Untersuchung sowie von beim behandelnden Orthopäden des Klägers eingeholten Röntgenausdrucken eine aufgehobene "Mindestmobilität", eine hochgradige destruierende Dysplasiecoxarthrose links, eine mittel- bis hochgradige Gonarthrose rechts, eine durch hochgradiges Übergewicht bedingte Wirbelsäulenfehlstatik sowie Periarthropathia humeroscapularis rechts mit Funktionseinschränkung des rechten Armes bei Überkopfarbeiten fest. Auf der Beckenübersichtsaufnahme zeige sich eine hochgradige, destruierende und deformierende Dysplasiecoxarthrose links. Der Kläger habe zwar in den letzten zwei Jahren insgesamt 50 kg abgenommen. Das Mindestgehvermögen des Klägers sei - entsprechend seiner Angaben - dennoch nachvollziehbar aufgehoben, die Mindestmobilität mit dem Auto auch nicht ausreichend gewährleistet; dies in Anbetracht der nachvollziehbaren Medikamentennebenwirkungen. Innerhalb der nächsten drei Jahre sei eine weitere Gewichtsreduktion zu erwarten. Sobald sich der gesundheitliche Zustand des Klägers entsprechend gebessert hat, werde dann eine endoprothetische Versorgung der linken Hüfte nicht zu umgehen sein; damit könne dann auch die Mindestgehfähigkeit wiederhergestellt werden, vorausgesetzt, das rechte Kniegelenk werde nicht noch arthrotischer, als es ohnehin schon sei. Dr. S. diagnostizierte auf internistischem Fachgebiet eine adipositas permagna (145 kg bei jetzt 172 cm Körpergröße) mit medikamentös jetzt gut eingestelltem essentiellem Hypertonus, Diabetes mellitus Typ II b insulinpflichtig gut eingestellt, dennoch mit mäßiger Polyneuropathie und mit Nephropathie, eine apparativ angegangene schwerste Schlafapnoe-Symptomatik ohne relevante Tagesmüdigkeit derzeit und eine venöse Insuffizienz. Übereinstimmend gelangten beide Gutachter zu dem Ergebnis, dass das Leistungsvermögen des Klägers weiterhin auf nicht absehbare Zeit aufgehoben ist, so dass eine Nachuntersuchung in drei Jahren empfohlen werde. Das Klageverfahren endete durch Klagerücknahme.

Auf den bereits im Juli 2008 gestellten Antrag des Klägers auf Gewährung von Leistungen der medizinischen Rehabilitation bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 19.01.2009 dem Kläger eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation in der Kurpark-Klinik Ü ... Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch, den er damit begründete, dass, nachdem ihn die Beklagte in der Vergangenheit nicht unterstützt habe, er aber mit Hilfe einer von der Krankenkasse genehmigten Ernährungsberaterin seine Gewichtsreduzierung ohne Hilfe der Beklagten erreicht habe, er auch weiterhin keine Hilfe mehr von der Beklagten diesbezüglich benötige. Auch lehne er die Einrichtung ab. Nachdem der Kläger trotz Angebot einer anderen Einrichtung an seinem Widerspruch festhielt, hob die Beklagte die Bewilligung wieder auf.

Am 19.06.2009 stellte der Kläger bei der Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit R. , einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, welchen diese fünf Tage später an die Beklagte weiterleitete. Die Beklagte lehnte diesen Antrag, gestützt auf die bereits genannten Gutachten vom Januar 2010 mit Bescheid vom 03.03.2010 ab. Der Kläger erfülle nicht die persönlichen Voraussetzungen gemäß § 10 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), weil seine Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden könne. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31.08.2010 aus denselben Gründen als unbegründet zurück.

Das am 10.09.2010 angerufene Sozialgericht Reutlingen hat zunächst die behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen schriftlich gehört. Dr. B. , Hausarzt des Klägers, hat mitgeteilt, die Hüftgelenksdysplasie beidseits erschwere das Gehen erheblich und schränke auch schmerzbedingt die Gehfähigkeit deutlich ein. Der Diabetes mellitus Typ II b bedinge eine häufige, bis zu zehnmalige Kontrolle des Blutzuckers im Verlaufe des Tages; hierdurch sowie durch die durch die Diabeteserkrankung bedingte Gefühlslosigkeit und dadurch hervorgerufene Unsicherheit und Fallneigung, die erhöhte Tagesmüdigkeit durch das schwere obstruktive Schlafapnoesyndrom, welches durch die regelmäßige Maskenbeatmung nicht ganz beseitigt werden konnte sowie wegen der bekannten koronaren Herzerkrankung sei die körperliche Belastbarkeit deutlich eingeschränkt. Dr. H. , behandelnder Pulmologe, hat mitgeteilt, aus den schweren schlafbezogenen Atemstörungen resultierten keine Einschränkungen des körperliche Leistungsvermögens. Der Kläger hat auf Anfrage des Sozialgerichts mitgeteilt, dass eine operative Behandlung der linken Hüfte nicht stattgefunden habe. Die Operation sei nach Angaben der behandelnden Ärzte außerordentlich riskant, weshalb der Kläger mit dem Zustand derzeit leben müsse. In einer von der Beklagten vorgelegten sozialmedizinischen Stellungnahme des Dr. B. vom Mai 2011 hat dieser darauf hingewiesen, dass die operative Sanierung der linken Hüfte Voraussetzung für die Annahme einer Mindestmobilität sei. Nachdem aber bisher keine operative Sanierung erfolgt sei, sei weiterhin von einer aufgehobenen Mindestmobilität bei hochgradiger Hüftgelenksarthrose links und mittel- bis hochgradiger Kniegelenksarthrose rechts auszugehen. Mit Gerichtsbescheid vom 16.01.2012 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es auf die Ausführungen der Beklagten im angefochtenen Widerspruchsbescheid Bezug genommen.

Gegen den ihm am 19.01.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 13.2.2012 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat der Kläger vorgetragen, die von der Beklagten verlangte Hüftoperation links werde derzeit wegen des damit für den Kläger verbundenen, sehr hohen Risikos nicht durchgeführt. Es sei aber dennoch in der Lage, mehr als drei Stunden täglich einer Beschäftigung nachzugehen. Er könne z.B. Telefondienste, aber auch Hilfsarbeiten im kaufmännischen Bereich übernehmen, nachdem er über recht gute Computerkenntnisse verfüge. Er bestreite, dass er nicht in der Lage wäre, eine Wegstrecke von 500 m zurückzulegen. Auch könne dies nicht die Ablehnung seines Antrags stützen, da ansonsten jeder Antrag eines Rollstuhlfahrers auf Teilnahme am Arbeitsleben von vornherein abgelehnt werden müsse.

Der Kläger beantragt (sachdienlich gefasst),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 16.01.2012 sowie den Bescheid vom 03.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.08.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, seinen Antrag auf Gewährung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf die im Laufe des Verfahrens vorgelegte sozialmedizinische Stellungnahme des Dr. B. vom 14.05.2012.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Der Antrag des Klägers ist sachdienlich als Antrag auf Verpflichtung der Beklagten zur Neubescheidung auszulegen. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VI erbringt die Rentenversicherung medizinische Leistungen zur Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie ergänzende Leistungen, um den Auswirkungen einer Krankheit oder körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern. Die Leistungen zur Teilhabe haben Vorrang vor Rentenleistungen, die bei erfolgreicher Rehabilitation nicht oder voraussichtlich zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Die Leistungen können erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind (§ 9 Abs. 2 SGB VI). Nach § 13 Abs. 1 Satz 1 SGB VI bestimmt der Träger der Rentenversicherung im Einzelfall unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung dieser Leistungen sowie die Rehabilitationseinrichtung nach pflichtgemäßem Ermessen. Nach § 16 SGB VI i.V.m. § 33 Abs. 4 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) sind bei der Auswahl der Leistungen Eignung, Neigung, bisherige Tätigkeit sowie Lage und Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt angemessen zu berücksichtigen. Aus der Formulierung des § 9 Abs. 2 SGB VI, wonach die Leistungen erbracht werden "können", wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, ergibt sich, dass die Erbringung von Reha-Leistungen im Ermessen des Rentenversicherungsträgers steht. Diesem verbleibt deshalb - vom Ausnahmefall einer Ermessensreduzierung auf null abgesehen - ein von den Gerichten zu beachtender, eigener Entscheidungsspielraum. Andererseits hat der Kläger auch keine konkrete Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben beansprucht, sondern macht geltend, dass die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen entgegen der Auffassung der Beklagten erfüllt seien, mithin die Beklagte zur pflichtgemäßen Ermessensbetätigung verpflichtet sei. Dem solcherart verstandenen klägerischen Begehren trägt der Antrag auf Neubescheidung Rechnung.

Dem Kläger kommt jedoch kein Anspruch auf Neubescheidung zu, denn er erfüllt schon nicht die persönlichen Voraussetzungen gemäß § 10 SGB VI, so dass die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung der Beklagten nicht gegeben sind. Denn aus § 9 Abs. 2 SGB VI ist eindeutig zu entnehmen, dass Ermessen erst auszuüben ist, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen (BSG, Urteil vom 17.10.2006, B 5 RJ 15/10 R in SozR 4-2600 § 10 Nr. 2). Für die Leistungen zur Teilhabe haben Versicherte die persönlichen Voraussetzungen erfüllt, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist (Nr. 1) und (Nr. 2) bei denen voraussichtlich a) bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann, b) bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann, oder c) bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten werden kann (§ 10 Abs. 1 SGB VI).

Zwischen den Beteiligten steht außer Streit, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers aus den in § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI genannten Gründen gemindert ist. Vom Vorliegen einer solchen Erwerbsminderung gehen sämtliche, von der Beklagten beauftragten Gutachter (Dr. M. , Dr. S. , Dr. B. ) aus; ebenso der behandelnde Hausarzt Dr. B. in seiner Stellungnahme vom März 2011 im erstinstanzlichen Verfahren. Damit scheidet § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a SGB VI aus. Denn eine "erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit" im Sinne dieser Norm liegt dann nicht vor, wenn - wie hier - eine Minderung der Erwerbsfähigkeit bereits eingetreten ist. Der Kläger ist bereits langjährig erwerbsgemindert, eine (bloße) Gefährdung der Erwerbsfähigkeit besteht nicht mehr.

Nachdem der Kläger auch keinen Arbeitsplatz mehr innehat, kommt somit lediglich § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VI in Betracht. Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben bieten jedoch beim Kläger generell, unabhängig also von einer konkreten Einzelmaßnahme, keine Erfolgsaussicht in dem von § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VI geforderten Sinne, dass hierdurch die bereits geminderte Erwerbsfähigkeit wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder eine wesentliche Verschlechterung abgewendet werden könnte. Für den Kläger kommt nämlich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Verrichtung einer Erwerbstätigkeit unter betriebsüblichen Bedingungen in Betracht. Damit scheiden Erwerbstätigkeiten in ihrer Gesamtheit aus. Die bestehende Erwerbsunfähigkeit des Klägers kann damit unter keinen Umständen durch Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben behoben werden, so dass der Aufgabenbereich der Beklagten als Rehabilitationsträger nicht eröffnet ist: Wenn nämlich bereits Erwerbsunfähigkeit vorliegt, reicht es nicht aus, wenn zwar die geminderte Erwerbsfähigkeit gebessert, nicht aber die Erwerbsunfähigkeit beseitigt wird (BSG, Urteil vom 11.05.2011, B 5 R 54/10 R in SozR 4-3250 § 17 Nr. 1 mwN).

Beim Kläger fehlt es zum einen bereits an der sogenannten Wegefähigkeit. Als Maßstab für die Fähigkeit eines Versicherten, Einkommen zu erzielen, kann nur das Leistungspotenzial, das auf dem Arbeitsmarkt konkret einsetzbar ist, herangezogen werden. Folglich gehört nach der Rechtsprechung des BSG zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (hierzu und zum Nachfolgenden BSG, Urteil vom 28.08.2002, B 5 RJ 12/02 R m.w.N.). Denn eine Tätigkeit zum Zweck des Gelderwerbs ist in der Regel nur außerhalb der Wohnung möglich. Das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität ist deshalb Teil des in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherten Risikos, das Defizit führt zur vollen Erwerbsminderung.

Hat der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht konkret angeboten, bemessen sich die Wegstrecken, deren Zurücklegung ihm - auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs - möglich sein muss, nach dem generalisierenden Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt. Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel und vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege zurücklegen muss. Erwerbsfähigkeit setzt danach grundsätzlich die Fähigkeit des Versicherten voraus, vier Mal am Tag Wegstrecken von mehr als 500 m mit zumutbarem Zeitaufwand (weniger als 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu können. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (z.B. Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten (insbesondere die zumutbare Benutzung eines vorhandenen Kraftfahrzeugs) zu berücksichtigen.

Nach den schlüssigen und nachvollziehbaren Bekundungen des Dr. B. , der den Kläger im Verwaltungsverfahren fachorthopädisch begutachtete, ist bei dem Kläger aber selbst das Mindestgehvermögen aufgrund der hochgradigen, destruierenden Dysplasiecoxarthrose links sowie der mittel- bis hochgradigen Gonarthrose rechts aufgehoben. Dies deckt sich im Übrigen mit der Beurteilung durch den Kläger selbst in der Begutachtungssituation: Dieser trug vor, er könne nur ganz kurze Strecken überhaupt gehen und müsse dann stehen bleiben; wenn er in guter Form sei, schaffe er gerade mal 100 m ganz langsam am Stück. Aufgrund der Gefühlsstörungen in beiden Füßen sei er noch wackliger und unsicherer unterwegs und könne unebene Böden überhaupt nicht bewältigen. Er sei insgesamt froh, wenn er die oben beschriebenen Distanzen auf ebener Erde bewältigen könne. Es koste ihn auch jedes Mal unglaubliche Mühe und Kraftanstrengung, wenn er zuhause die etwa 15 Stufen in das zweite Stockwerk bewältigen müsse.

Die Schlüssigkeit der Feststellungen von Dr. B. wie auch die Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers werden durch die dem Kläger zuerkannten Merkmale bestätigt. So ist eine Berechtigung für das Merkmal "B"- Notwendigkeit ständiger Begleitung - bei schwerbehinderten Menschen (bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "Gl" oder "H" vorliegen) gegeben, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind (§ 146 Abs. 2 SGB IX i.V.m. § 3 Schwerbehindertenausweisverordnung - SchwbAwV). Für das Merkmal "aG" - außergewöhnliche Gehbehinderung - im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften sind Ausgangspunkt die in der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) enthaltenen Regelungen. Nach Abschnitt II Nr. 1 VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Dazu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind. Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 erster Halbsatz VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG, Urteil vom 29. März 2007, B 9a SB 5/05 R in juris). Dabei ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecken ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist, nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (BSG a.a.O.). Die Zuerkennung dieser Merkmale nach versorgungsärztlicher Prüfung belegt die ganz erhebliche Bewegungseinschränkung des Klägers.

Der Kläger ist auch nicht in der Lage, mit Hilfe seines Kraftfahrzeuges eine Arbeitsstelle aufzusuchen. Denn der Kläger nimmt unter anderen bis zu dreimal täglich das Medikament Tramagit 200 ein, welches nach seinen Angaben gegenüber Dr. B. - aus Sicht von Dr. B. gut nachvollziehbar - sein Reaktionsvermögen so erheblich herabsetzt, dass er sich nicht mehr traut, regelmäßig mit dem Auto zu fahren. Soweit der Kläger im Berufungsverfahren vortragen lässt, er könne zu Fuß durchaus 500 m zurücklegen, so steht dies im Widerspruch zu seinem eigenen konsistenten Angaben während des gesamten Rentenverfahrens, aber auch zu den Feststellungen der Gutachter, insbesondere von Dr. B ... Es ist nicht ansatzweise nachvollziehbar, woraus sich eine zwischenzeitliche Besserung seines Gehvermögens gegenüber dem im Dezember 2009 erhobenen Befund ergeben haben sollte. Denn eine solche Besserung könnte der Kläger nach den Feststellungen des Dr. B. nur durch eine endoprothetische Versorgung der linken Hüfte und möglicherweise auch des rechten Kniegelenkes erreichen. Eine solche lehnt er aber aufgrund der damit verbundenen Risiken bislang ab.

Zwar kommen grundsätzlich Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auch zur Beseitigung der Wegeunfähigkeit in Betracht (s. z.B. § 33 Abs. 3 Nr. 1 SGB IX "Hilfen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes), doch vermag der Senat nicht zu erkennen, welche Maßnahmen beim Kläger angesichts seiner massiven Einschränkungen in Betracht kämen. Die üblichen Hilfen in Bezug auf ein behindertengerechtes Kraftfahrzeug scheiden aus, weil der Kläger das schon vorhandene eigene Kraftfahrzeug - wie dargelegt - wegen fehlender Fahreignung im Zusammenhang mit den Nebenwirkungen von Medikamenten nicht benutzen kann. Das Zurücklegen von Wegen zur Arbeitsstelle ist dem Kläger somit ohne fremde Hilfe nicht möglich. Selbst wenn für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form eines Transportes überhaupt eine Rechtsgrundlage bestünde (offen gelassen vom BSG im Urteil vom 12.12.2011, B 13 R 79/11 R in SozR 4-2600 § 43 Nr. 17, Rdnr. 32), bestehen angesichts der vom Kläger selbst angegebenen und oben bereits dargestellten Einschränkungen Zweifel, ob der Kläger die unvermeidbaren Wege vom Transportfahrzeug bis zum konkreten Arbeitsplatz und am Arbeitsplatz selbst zurücklegen kann. Soweit der Kläger einen Vergleich mit einem Rollstuhlfahrer anstellt, übersieht er, dass - barrierefreie Zugänge unterstellt - ein Rollstuhlfahrer in seiner Bewegungsfähigkeit besser dasteht.

Hinzu kommt, dass die Erwerbsminderung des Klägers nicht nur durch die fehlende Wegefähigkeit begründet ist, sondern auch durch ein nahezu aufgehobenes zeitliches Leistungsvermögen. Wie zuvor bereits Dr. M. in seinem Gutachten vom Februar 2008, bestätigt durch das MDK-Gutachten aus dem selben Jahr, gelangten auch die beiden Gutachter Dr. S. und Dr. B. zu einem unter dreistündigen Leistungsvermögen des Klägers für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Ursächlich hierfür ist neben der hochgradigen, destruierenden Dysplasiecoxarthrose links sowie der mittel- bis hochgradigen Gonarthrose rechts, der durch hochgradiges Übergewicht bedingten Wirbelsäulenfehlstatik sowie der Funktionseinschränkung des rechten Armes bei Überkopfarbeiten vor allem die Adipositas permagna mit den Begleiterscheinungen einer essenziellen Hypertonie sowie eines vieljährigen Diabetes mellitus Typ IIb mit Polyneuropathie und Nephropathie. Wenngleich der Kläger in erheblichem Maße abgenommen hat, so ist er durch seine Adipositas permagna nach wie vor in ganz erheblichem Maße beeinträchtigt. So benötigte der Kläger beim An- und Ausziehen seiner Schuhe, bei der Körperpflege, aber auch beim Aus-und Ankleiden fremde Hilfe (vgl. Gutachten Dr. B. ). Dr. S. wiederum berichtete in seinem Gutachten, dass der Kläger selbst beim Hochziehen der Hose fremder Hilfe bedurfte. Im Gefolge der Adipositas ist der Kläger auch durch den langjährigen insulinpflichtigem Diabetes mellitus Typ IIb mit Folgeerkrankungen (unter anderem beinbetonte Polyneuropathie) sowie durch die arterielle Hypertonie erheblich beeinträchtigt. Neben einer nahezu aufgehobenen Hüftgelenksbeweglichkeit berichtete Dr. B. auch von einer stark eingeschränkten Rumpfbeweglichkeit aufgrund einer hochgradigen Hyperlordose mit vermehrter BWS-Kyphose. Insgesamt bot sich das Bild eines "hochgradig gehandicapten Versicherten" (so Gutachter Dr. B. ). Zwar hat Dr. B. im Rahmen seiner schriftlichen Vernehmung als sachverständiger Zeuge im erstinstanzlichen Verfahren mitgeteilt, der Kläger könne mittlerweile mittels eines Notfallbestecks gefährliche Unterzuckerungen sofort kompensieren und sei in der Wahrnehmung solcher Zustände auch geschult worden. Aber auch nach seiner Einschätzung ist der Kläger durch die häufige, bis zu zehnmalige Kontrolle des Blutzuckers im Tagesverlauf bei der Wahrnehmung eines normalen Tagesrhythmus doch sehr beeinträchtigt. Alles in allem sei der Kläger körperlich nur sehr eingeschränkt verwendungsfähig und solle häufige Ruhepausen einhalten. Insgesamt liegen die nach schlüssiger und nachvollziehbarer Einschätzung der befassten Gutachter wesentlichen Ursachen für die Aufhebung jedweden Leistungsvermögens, nämlich die Adipositas permagna sowie die massiven orthopädischen Beeinträchtigungen, ungeachtet der beachtlichen Erfolge, die der Kläger bei der Gewichtsverringerung zwischenzeitlich erzielt hat, weiterhin vor. Eine Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers hin zu einer wenigstens nur teilweisen Erwerbsminderung kann jedoch durch die vom Kläger begehrten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht erreicht werden; hierfür kämen allenfalls Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation in Betracht. Solche sind dem Kläger in der Vergangenheit bereits bewilligt worden (Bescheid vom 19.01.2009). Der Kläger hat sie indes abgelehnt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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