L 8 P 5/12

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 9 P 44/06
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 P 5/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 P 8/13 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 16. November 2011 abgeändert und die Klage abgewiesen, soweit diese über das angenommene Anerkenntnis der Beklagten hinausgeht.

Die Beklagte hat der Klägerin wie folgt Zinsen zu zahlen:
Für März 2009 aus einem Betrag von 215,00 EUR und für Dezember 2011 aus einem Betrag von 205,00 EUR in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz für das Jahr ab dem jeweils folgenden Monat.

Die Beteiligten haben einander in beiden Instanzen keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten noch um Leistungen der privaten Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II vom 1. August 2005.

Die bei der Beklagten pflegeversicherte Klägerin erhält von dieser seit April 2009 Leistungen nach der Pflegestufe I und seit Januar 2012 nach der Pflegestufe II. Sie begehrt, wie vom erstinstanzlichen Gericht auch zugesprochen, ab August 2005 Leistungen nach der Pflegestufe II und ab 16.11.2008 nach der Pflegestufe III.

Am 05.08.2005 stellte die damals 58-jährige Klägerin, die zu diesem Zeitpunkt noch als Mathematikerin bei einem Versicherungsunternehmen arbeitete, bei der Beklagten einen Antrag auf Leistungen aus der privaten Pflegeversicherung für die häusliche Pflege. Diese werde durch Frau C., der Schwägerin der Klägerin, durchgeführt.

Nach den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) für die private Pflegepflichtversicherung, Teil I – Bedingungsteil MB/PPV 1996 (aktuell MB/PPV 2013) , die zwischen den Beteiligten vereinbart sind, sind versicherte Personen für die Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung der Pflegestufe I, II oder III zuzuordnen (§ 1 Abs. 6 bis 8 MB/PPV).

Pflegebedürftige der Pflegestufe I sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder ein anderer nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen.

Pflegebedürftige der Pflegestufe II sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand muss unter den bei der Pflegestufe I genannten Bedingungen in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen, wobei auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen müssen. Pflegebedürftige der Pflegestufe III sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand muss unter den bei der Pflegestufe I genannten Bedingungen in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden betragen, wobei auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen müssen.

Die Beklagte beauftragte die "Gesellschaft für medizinische Gutachten MedicProof" mit einer Begutachtung der Klägerin in ihrem Wohnbereich. Die für MedicProof tätige Ärztin D. gab ihr Gutachten am 08.10.2005 ab. Ihr lagen ein Bericht der Uniklinik Frankfurt/Main vom 29.07.2005, eine medizinische Stellungnahme der Hausärztin Dr. E. ohne Datum, eine medizinische Stellungnahme der Augenärztin Dr. G. vom 17.05.2005, ein Bericht des Schlafmedizinischen Zentrums Hofheim vom 25.04.2005 und die handschriftlichen Aufzeichnungen der Klägerin zum Hilfebedarf vor. In letzteren machte die Klägerin geltend, dass sie unter Gleichgewichtsstörungen und Schwindel, einer Gangunsicherheit, Schmerzen im Kreuz und an den Beinen und Sensibilitätsstörungen der Hände leide.

Als "pflegebegründende Diagnosen" gab Frau D. in ihrem Gutachten an: Bewegungseinschränkung bei Adipositas per magna, degenerative Wirbelsäulen- und Gelenkveränderungen, Karpaltunnelsyndrom beidseits, Schlafapnoe-Syndrom, diabetische Polyneuropathie und Retinopathie. Als Nebendiagnosen waren ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus und Hypertonie genannt. Frau D. kam zu dem Ergebnis, dass Pflegebedürftigkeit nicht vorliege. Den Zeitbedarf für die Grundpflege ermittelte sie mit 18 Minuten für die Körperpflege, einer Minute für die Ernährung und vier Minuten für die Mobilität, somit insgesamt mit 23 Minuten pro Tag; den Zeitbedarf für die hauswirtschaftliche Versorgung ermittelte sie mit 45 Minuten pro Tag. Hieraus ergab sich ein Gesamtzeitaufwand von 68 Minuten pro Tag.

Mit Schreiben vom 25.10.2005 teilte die Beklagte der Klägerin dieses Ergebnis mit.

Mit Schreiben vom 31.03.2006 erhob die Klägerin Einwände gegen die Leistungsablehnung und legte ein Pflegetagebuch vor. Zur Begründung führte sie aus, dass sie stark gehbehindert und in ihrer Bewegungsfähigkeit erheblich und dauerhaft eingeschränkt sei. Sie sei deshalb auch in der Wohnung nicht in der Lage, kurze Strecken zu laufen und könne sich deshalb nur mit Hilfe einer Begleitperson fortbewegen. Sie verwies zudem auf ein Attest von Herrn Dr. F. vom 20.10.2005, wonach sie auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen sei.

Mit Schreiben vom 16.06.2006 lehnte die Beklagte die Leistungsgewährung endgültig ab.

Die Klägerin erhob am 26.06.2006 durch ihre Prozessbevollmächtigte Klage zum Sozialgericht Frankfurt/Main und machte zunächst die Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe I ab Antragstellung geltend. In ihrer Klagebegründung stellte sie – erneut unter Verweis auf das ärztliche Attest des Herrn Dr. F. vom 20.10.2005 – ihre starke Gehbehinderung in den Vordergrund, die die Beklagte nicht ihren Auswirkungen entsprechend berücksichtigt habe. Unter Bezugnahme auf das ärztliche Attest des Diabetologen Dr. H. vom 30.10.2006 machte sie dann mit Schriftsatz vom 13.07.2007, der dem Gericht erst am 28.05.2008 vorgelegt wurde, eine erhebliche Verschlechterung ihres Zustandes geltend, da sie nicht mehr in der Lage sei, im Stehen Tätigkeiten auszuführen. Die Klägerin habe sich im Februar 2006 wegen eines Lungenödems in stationärer Behandlung befunden. Zudem wurde ein (höherer) Zeitbedarf für das mundgerechte Zubereiten der Mahlzeiten, das Treppensteigen, das Aufstehen und Zu-Bett-Gehen wegen Sensibilitätsstörungen in den Händen, Schmerzen in den Gelenken und der Wirbelsäule und wegen ihres Übergewichts geltend gemacht. Im Schriftsatz vom 25.03.2009 beantragte sie wegen der Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes "vorsorglich hilfsweise", die Beklagte solle ein neues Pflegegutachten einholen. Hierbei verwies sie auf das Zeugnis der behandelnden Ärzte, das Zeugnis ihrer Pflegeperson und Parteivernehmung ihrer Person. Sie machte erhebliche Schmerzen über den gesamten Rücken und die Schulter und das häufige Vorliegen von Schwindel geltend. Auch verschmutze sie sich regelmäßig erheblich, weil sie es nicht rechtzeitig zur Toilette schaffe.

Aufgrund dessen gab die Beklagte eine erneute Begutachtung der Klägerin in Auftrag, die von dem Facharzt für Innere Medizin und Arbeitsmedizin, Herrn Dr. J. (MedicProof), am 11.07.2009 durchgeführt wurde.

Herrn Dr. J. standen neben den bereits Frau D. vorliegenden Unterlagen Berichte des Kardiozentrums Frankfurt vom 26.03.2008, Herrn Dr. F. vom 22.07.2008 und 20.10.2005, der Städtischen Kliniken Höchst vom 25.06.2009, Herrn Dr. H. vom 31.01.2006, Herrn Dr. K. vom 15.11.2005, Frau L. vom 29.08.2007 und Herrn Dr. M. vom 14.02.2008 sowie ein Laborbefund vom 10.06.2009 zur Verfügung.

Als pflegebegründende Diagnosen gab Herr Dr. J. in seinem Gutachten an: "insulinpflichtiger Diabetes mellitus mit zahlreichen Sekundärkomplikationen, schwere Gangstörung insbesondere durch Polyneuropathie, Zustand nach Herzinfarkt bei Koronarer Herzkrankheit, Zustand nach kardialer Dekompensation, Verdacht auf mangelnde Compliance (betreffend Medikamenteneinnahme), degenerative Wirbelsäulen-Veränderungen, degenerative Veränderungen der großen Gelenke, Verdacht auf Omarthrose rechts, schweres Carpaltunnelsyndrom beidseits mit Beeinträchtigung der Handfunktionen beidseits, Inkontinenz." Herr Dr. J. kam zu dem Ergebnis, dass seit März 2009 Pflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe I vorliege. Den Zeitbedarf für die Grundpflege ermittelte er mit 42 Minuten für die Körperpflege, 10 Minuten für die Ernährung und 18 Minuten für die Mobilität, somit insgesamt mit 70 Minuten pro Tag; den Zeitbedarf für die hauswirtschaftliche Versorgung ermittelte er mit 45 Minuten pro Tag. Hieraus ergab sich ein Gesamtzeitaufwand von 115 Minuten pro Tag.

Zur Begründung führt Herr Dr. J. zusammengefasst aus, dass sich der Allgemeinzustand der Klägerin, ihre Mobilität und ihre Fähigkeit, sich selbst zu pflegen seit der Vorbegutachtung vom 08.10.2005 verschlechtert hätten. Insbesondere bestehe eine schmerzhaft eingeschränkte Schulterbeweglichkeit rechts, Gehen ohne Festhalten sei nicht mehr möglich, eine vollständige Übernahme des Säuberns/Windel- bzw. Vorlagenwechsels nach Stuhlgang/Wasserlassen sei nun erforderlich.

Die Beklagte anerkannte aufgrund dieses Gutachtens ihre Verpflichtung zur Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe I ab dem 01.04.2009.

Das Sozialgericht ließ sich im Rahmen seiner Sachverhaltsermittlungen – über die von den Beteiligten selbst vorgelegten ärztlichen Unterlagen hinaus – u. a. von der Klägerin selbst, ihren behandelnden Ärzten und vom Krankenhaus Sachsenhausen, in dem sich die Klägerin im Oktober 2009 wegen einer Diabetesentgleisung in stationärer Behandlung befunden hatte, Fragen zum Pflegebedarf beantworten. Außerdem zog es die Akte des Hessischen Amtes für Versorgung und Soziales bei und ließ sich die bei der damaligen Hausärztin der Klägerin, Frau Dr. E., angelegte Krankenakte vorlegen. Zudem erhob das Sozialgericht Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens bei Herrn Dr. N., Facharzt für Allgemeinmedizin, Physikalische und Rehabilitative Medizin, mit Zusatzqualifikationen in Sozialmedizin, Betriebsmedizin, Sportmedizin und Geriatrie.

Herr Dr. N. untersuchte die Klägerin am 30.05.2011 und legte sein Gutachten dem Gericht unter dem 27.06.2011 vor. Hierin gab er an, dass bei der Klägerin die folgenden Gesundheitsstörungen bestünden: "1. schlecht eingestellte insulinpflichtige Blutzuckererkrankung mit Polyneuropathie, Niereninsuffizienz, Angiopathie, Funktionsstörungen im Bereich des Magen-/Darmtraktes, Retinopathie mit sekundärem Sjörgren-Syndrom, 2. abgelaufener Herzinfarkt, vermutlich 1998, Durchblutungsstörungen der Herzkranzgefäße, Stent-Implantation 2008, Bluthochdruck, Herzleistungsminderung, 3. Magenschleimhautentzündung, 4. Gang- und Standataxie bei Polyneuropathie, 5. Nierenfunktionsstörungen, 6. Depression, Angststörung, 7. Gallenblasenverlust, Blinddarmoperation, 8. Bronchitis, Allergie, 9. Maskenbeatmung bei Schlafapnoesyndrom, 10. Übergewicht (Adipositas per magna), 11. Verschleißleiden der Wirbelsäule, 12. Sehminderung bei Zustand nach Kataraktoperation beidseits, Makuladegeneration und diabetische Retinopathie, 13. Laktoseintoleranz."

Im Wesentlichen seien diese Gesundheitsstörungen auch in dem gesamten Zeitraum ab 01.08.2005 vorhanden gewesen. Hinsichtlich des Hilfebedarfs sei für den Zeitraum ab 01.08.2005 bis zum 01.04.2009 den Ausführungen und Einschätzungen in dem MedicProof-Gutachten von Frau D. und für den Zeitraum ab 01.04.2009 bis zum Tage der jetzigen Begutachtung den Ausführungen in dem MedicProof-Gutachten von Herrn Dr. J. zu folgen. Ab dem Tag der jetzigen Begutachtung ergebe sich ein Hilfebedarf bei der Körperpflege von 75 Minuten, bei der Ernährung von 6 Minuten und bei der Mobilität von 42 Minuten, mithin ein Gesamtbedarf bei der Grundpflege von 123 Minuten pro Tag. Bei der hauswirtschaftlichen Versorgung ergebe sich ein Hilfebedarf von 60 Minuten pro Tag, so dass der gesamte Zeitbedarf 183 Minuten pro Tag betrage.

Die Beklagte hielt aus rechtlichen Gründen, die von ihr eingeholten Gutachten für bindend, sah sich aber aufgrund des gerichtlichen Sachverständigengutachens von Herrn Dr. N. veranlasst, selbst eine weiteres Gutachten in Auftrag zu geben. Die Klägerin lehnte jedoch die erneute Begutachtung ab (vgl. Schreiben des MedicProof-Gutachters Q. vom 23.08.2011 an die Beklagte).

Das Sozialgericht erhob in der mündlichen Verhandlung am 16.11.2011 Beweis durch Vernehmung der Pflegeperson Frau C. als Zeugin. Hinsichtlich ihrer Zeugenaussage wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Das Sozialgericht hat die Beklagte sodann mit Urteil vom 16.11.2011 antragsgemäß verurteilt, an die Klägerin vom 01.08.2005 bis 30.06.2008 410,00 EUR pro Monat, vom 01.07.2008 bis 15.11.2008 420,00 EUR pro Monat, vom 16.11.2008 bis 31.12.2009 685,00 EUR pro Monat und ab 01.01.2010 700,00 EUR pro Monat abzüglich 215,- EUR pro Monat vom 01.04.2009 bis 31.12.2009 und 225,00 EUR pro Monat ab 01.01.2010 nebst 4 % Zinsen zu zahlen.

Zur Begründung hat es ausgeführt, dass bei der Klägerin vom 01.08.2005 bis 15.11.2008 die Voraussetzungen für die Einstufung in die Pflegestufe II und danach in die Pflegestufe III bestünden. Zwar seien wegen der hier anwendbaren Vorschrift des § 64 Abs. 1 Satz 1 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) grundsätzlich vom Gericht die durch einen Sachverständigen getroffenen Feststellungen zu übernehmen. Dies gelte aber dann nicht, wenn die Feststellungen des Arztes offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abwichen. Es sei in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass dies jedenfalls dann anzunehmen sei, wenn der Fehler 25 % des Werts, den der Gutachter des Versicherers angenommen habe, übersteige (unter Hinweis auf Prölss/Martin, Kommentar zum VVG, 27. Auflage 2004, § 64 Rz. 36 ff.). Diese offenbare und erhebliche Unrichtigkeit sei hier bereits von der Klägerin und den Ärzten Dr. O. und Dr. P. dargetan worden, auch wenn diese, was die Bemessungen des Umfangs der erforderlichen Pflegezeit in der Grundpflege betreffe, mit der Darlegung eines Pflegebedarfs bis zu 14 Stunden pro Tag weit über das Ziel hinausgeschossen seien. Aus dem Zusammenhang des Klagevortrags mit den eingeholten Befunden der behandelnden Ärzte, dem eingeholten Sachverständigengutachten und insbesondere der Zeugenaussage der Pflegeperson ergebe sich, dass der Hilfebedarf der Klägerin im Bereich der Pflegestufe III ab dem 16.11.2008 anzusetzen sei. Die Zeugin, die bei ihrer Vernehmung einen kompetenten und glaubwürdigen Eindruck hinterlassen habe, habe die Klägerin seit dem Jahr 2005 gepflegt. Ihre Aussagen im Gerichtstermin zur Pflegesituation, in der sich die Klägerin befunden habe, seien in sich schlüssig gewesen. Es sei in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass eine vom Gericht vorgenommene Befragung einer Pflegeperson der Beurteilung zu Grunde gelegt werden könne. Im Einzelnen sei bei den Verrichtungen der Grundpflege von einem Pflegebedarf von 30 Minuten für das Waschen, 10 Minuten für die Zahnpflege, 24 Minuten für die Blasenentleerung, 46 Minuten für die Darmentleerung und 101 Minuten für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung auszugehen. Bei den weiteren Verrichtungen der Grundpflege hätten im Wesentlichen keine Abweichungen zu den Feststellungen von Herrn Dr. J. festgestellt werden können, weshalb seine Werte übernommen würden. Es ergebe sich somit ein Gesamt-Hilfebedarf in der Grundpflege von 247 Minuten. Dem gegenüber überzeugten die abweichenden Beurteilungen der Ärzte von MedicProof und auch das gerichtliche Sachverständigengutachten von Herrn Dr. N. nicht. Insbesondere dem letztgenannten Gutachten fehle eine umfassende Erörterung und Hinterfragung des Pflegezustandes der Klägerin. Eine auf die einzelnen Zeitwerte bezogene Begründung für die jeweiligen Verrichtungen fehle, was auch für die MedicProof-Gutachten gelte. Die Höhe des Pflegegeldes ergebe sich aus den Versicherungsbedingungen der Beklagten. Der Zinsanspruch folge aus §§ 280, 286 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).

Das Urteil ging der Beklagten am 28.12.2011 zu und sie hat am 24.01.2012 hiergegen Berufung eingelegt.

Die Beklagte trägt vor, das erstinstanzliche Urteil beruhe auf erheblichen rechtlichen und sachlichen Fehlern und könne nicht einmal ansatzweise überzeugen. Die im Tenor bis zum 16.11.2008 genannten Beträge seien zwar nicht aus dem Urteil, aber aus den gesetzlich vorgesehenen monatlichen Pflegegeldbeträgen der Pflegestufe II nachvollziehbar. Die ab dem 16.11.2008 genannten monatlichen Beträge des Pflegegeldes der Pflegestufe III seien jedoch nicht nachvollziehbar, da sie nicht den gesetzlich vorgesehenen monatlichen Pflegegeldbeträgen der Pflegestufe III entsprächen. Es sei zudem nicht nachvollziehbar, weshalb gerade am 16.11.2008 eine Änderung eingetreten sein solle. Unter Verweis auf die einschlägigen gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen und unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 22.07.2004, B 3 P 6/03 R, Urteile vom 22.08.2001, B 3 P 21/00 R und B 3 P 4/01 R und Urteil vom 13.05.2004, B 3 P 7/03) und des Bundesgerichtshofs (BGH, VersR, 1957, 122, BGHZ 9, 195; BGH, VersR 1987, 601 und 1997, 963) führt die Beklagte aus, dass kein Raum für die Einholung eines Sachverständigengutachtens durch das Gericht bestanden habe, weil sich die Fehlerhaftigkeit der von der Beklagten in Auftrag gegebenen Gutachten nicht aufgedrängt habe. Das Sozialgericht habe unter Missachtung der vertraglichen Vereinbarungen, wonach Eintritt, Stufe und Fortdauer der Pflegebedürftigkeit durch einen Arzt festzustellen seien und die Untersuchung grundsätzlich im Wohnbereich des Versicherten erfolgen müsse, aus nicht überprüften Angaben der Zeugin und ohne ausreichende fachliche Kenntnisse seine Schlüsse gezogen, zumal die einzig im Urteil verwendeten Angaben der Pflegeperson nicht einmal ansatzweise dahingehend überprüft worden seien, ob es sich hierbei um Angaben zum derzeitigen Pflegebedarf handele, ob sich Änderungen im Pflegebedarf ergeben hätten und ob die Erinnerung der Pflegeperson tatsächlich uneingeschränkt und objektiv mehr als sechs Jahre zurückreiche. Das Urteil enthalte keine Ausführungen dazu, ob die Pflege rund um die Uhr (auch nachts) erforderlich sei, was aber Voraussetzung der Pflegestufe III sei. Zudem sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin trotz wiederholter Aufforderungen des Gerichts das Verfahren mehr als zwei Jahre schuldhaft verzögert und eine erneute Begutachtung verweigert habe.

Nachdem die Klägerin im Dezember 2011 wegen eines Diabetischen Fußsyndroms stationär im Bürgerhospital Frankfurt aufgenommen worden war, gab die Beklagte erneut eine Begutachtung der Klägerin in Auftrag.

Die Begutachtung fand am 10.05.2012 durch den MedicProof-Arzt Q. statt. Dieser kam in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass seit Dezember 2011 Pflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe II vorliegt. Der Hilfebedarf bei der Grundpflege wird wie folgt angegeben: Körperpflege: 104 Minuten, Ernährung: 9 Minuten, Mobilität: 30 Minuten, Gesamtbedarf bei der Grundpflege: 143 Minuten pro Tag. Der Hilfebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung wird mit 60 Minuten pro Tag angegeben, woraus sich ein Gesamtzeitaufwand von 203 Minuten pro Tag errechnet. Im Vergleich zum Vorgutachten sei durch den diabetischen Fuß eine deutliche Verschlechterung eingetreten. Die Klägerin sei seit ihrem stationären Aufenthalt im Dezember 2011 immobil – ständig bettlägerig – und dürfe den linken Fuß nicht belasten.

Die Beklagte erbringt aufgrund dieses Gutachtens seit 01.01.2012 Leistungen nach der Pflegestufe II.

Auf rechtlichen Hinweis hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 17.06.2013 anerkannt, für März 2009 Leistungen nach der Pflegestufe I und für Dezember 2011 Leistungen nach der Pflegestufe II zu schulden. Dieses Teilanerkenntnis hat der Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angenommen (vgl. Sitzungsniederschrift).

Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Klägerin hält das erstinstanzliche Gutachten für zutreffend und wendet sich auch gegen die Feststellungen im Gutachten von Herrn Q. Sie sei mit Pflegestufe II unzutreffend bewertet, da bei ihr die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe III vorlägen. Sie habe die Begutachtung durch die Beklagte im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens abgelehnt, weil die Beklagte einen Arzt beauftragt habe, der keinerlei fachärztliche Kompetenz zur Beurteilung der bei der Klägerin bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen gehabt habe. Zudem sei die Klägerin bereits kurz zuvor im Auftrag des erstinstanzlichen Gerichts von Herrn Dr. N. begutachtet worden. Sie habe daher eine Begutachtung nicht grundlos verweigert. Zudem werde die Pflegesituation der Klägerin halbjährlich durch den medizinischen Dienst des Diakonischen Werkes vor Ort überprüft.

Die Klägerin bietet zu alldem Beweis durch Parteivernehmung und Vernehmung der Zeugin C. an.

Der Senat hat im Rahmen der Sachverhaltsermittlungen erneut die Krankenakte der ehemaligen Hausärztin der Klägerin, Frau Dr. E., die Akte des Hessischen Amtes für Versorgung und Soziales und die Akte der Deutschen Rentenversicherung Bund beigezogen, von der die Klägerin seit Oktober 2002 eine Erwerbsunfähigkeitsrente erhält.

Nach den Ausführungen im Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils ist die Klägerin seit 01.08.2010 von ihrem Arbeitgeber von der Arbeitsleistung befreit.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und führt in der Sache auch zum Erfolg.

Da die Beklagte bereits seit April 2009 Leistungen nach der Pflegestufe I und seit Januar 2012 nach der Pflegestufe II erbringt, war ohne Weiteres davon auszugehen, dass die Klägerin (vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten) mit ihrer Annahmeerklärung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auch dieses Teilanerkenntnis implizit angenommen hat. Damit sind dem angenommenen Teilanerkenntnis der Beklagten gemäß Leistungen nach der Pflegestufe II ab Dezember 2011 und nach der Pflegestufe I ab März 2009 zu erbringen, womit der Rechtsstreit insoweit erledigt ist. Streitig war nur noch die Leistungspflicht der Beklagten nach der Pflegestufe II ab August 2005 und nach der Pflegestufe III ab 16.11.2008.

Die Klage ist als isolierte Leistungsklage ohne Durchführung eines Vorverfahrens zulässig, weil die Beklagte als privates Pflegeversicherungsunternehmen nicht befugt ist, Verwaltungsakte zu erlassen und eine Anfechtungsklage daher nicht in Betracht kommt (vgl. BSG, Urteil vom 13.05.2004, B 3 P 7/03; zitiert nach juris). Die Klage ist auch nicht verfristet. Nach § 17 Abs. 2 der AVB für die private Pflegeversicherung, Teil I Bedingungsteil MB/PPV ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Anspruch vom Versicherungsnehmer nicht innerhalb von sechs Monaten gerichtlich geltend gemacht wird. Die Frist beginnt erst, nachdem der Versicherer den Anspruch unter Angabe der mit dem Ablauf der Frist verbundenen Rechtsfolgen schriftlich abgelehnt hat. Zwar hatte die Beklagte den Anspruch der Klägerin bereits mit Schreiben vom 25.10.2005 abgelehnt. Dieses enthielt allerdings den Hinweis auf eine einmonatige Frist zur "Erhebung von Einwänden". Im Schreiben vom 16.06.2006 lehnte die Beklagte zwar den Anspruch endgültig ab, dieses Schreibens enthielt aber keinen Hinweis auf eine Klagefrist oder mit dem Ablauf der Klagefrist verbundene Rechtsfolgen wie in § 17 Abs. 2 AVB vorgesehen. Damit kann die am 26.06.2006 eingelegte Klage keinesfalls als verfristet angesehen werden.

Anspruchsgrundlage für die mit der Klage geltend gemachte Leistung ist § 178 b Abs. 4 VVG a. F. bzw. der insoweit inhaltsgleiche § 192 Abs. 6 VVG in der Fassung vom 23.11.2007 – gültig ab 01.01.2009 (BGBl. I S. 2631) – in Verbindung mit dem zwischen den Beteiligten geschlossenen Vertrag über eine private Pflegepflichtversicherung und den diesem Vertrag zugrunde liegenden allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB und MB/PPV).

Danach hängt der Anspruch davon ab, dass die Klägerin pflegebedürftig ist (§ 1 Abs. 2 MB/PPV).

Ausgangspunkt für die Beurteilung der Frage, welcher pflegerelevante Sachverhalt im vorliegenden Fall zu Grunde zu legen ist, ist § 1 Abs. 9 Satz 1 MB/PPV, wonach der Versicherungsfall mit der ärztlichen Feststellung der Pflegebedürftigkeit beginnt. Zu der hierzu erforderlichen ärztlichen Untersuchung enthält § 6 Abs. 2 MB/PPV die näheren Einzelheiten. Dort heißt es u. a.: Eintritt, Stufe und Fortdauer der Pflegebedürftigkeit sind durch einen vom Versicherer beauftragten Arzt festzustellen.

In Erfüllung dieser versicherungsvertraglichen Vereinbarung hat die Beklagte zunächst das MedicProof-Gutachten von Frau D. vom 08.10.2005 und auf die Verschlechterungsanzeige bzw. den neuen Antrag der Klägerin hin das weitere MedicProof-Gutachten von Herrn Dr. J. vom 11.07.2009 eingeholt und der Bewertung des Sachverhalts zu Grunde gelegt.

Nach § 64 Abs. 1 Satz 1 VVG a. F. bzw. dem insoweit inhaltsgleichen § 84 VVG in der Fassung vom 23.11.2007 – gültig ab 01.01.2009 – sind Versicherer und Versicherungsnehmer an die Feststellungen des ärztlichen Sachverständigen zu den Voraussetzungen des Anspruchs aus der Versicherung oder zur Höhe des Schadens grundsätzlich gebunden, wenn dies vertraglich vereinbart worden ist. Die Feststellungen des Arztes sind nach § 64 bzw. 84 VVG nur dann nicht verbindlich, "wenn sie offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweichen".

Der 3. Senat des BSG (Urteile vom 22.08.2001, B 3 P 21/00 R = BSGE 88, 262 = SozR 3-3300 § 23 Nr. 5 S 19, und B 3 P 4/01 R; jeweils zitiert nach juris) wendet diese Vorschrift unter Bezugnahme auf § 6 Abs. 2 MB/PPV, der die diesbezügliche vertragliche Vereinbarung enthalte, auf Streitigkeiten über die Leistungspflicht in der privaten Pflegepflichtversicherung an und nimmt damit im Ergebnis eine Einschränkung des Umfangs der gerichtlichen Kontrolle vor. Die Abhilfemöglichkeit wird auf die wenigen Fälle ganz offensichtlichen Unrechts beschränkt. In prozessualer Hinsicht bewirkt die Vereinbarung eines Sachverständigengutachtens insbesondere, dass das Gericht die durch einen Sachverständigen getroffenen Feststellungen grundsätzlich zu übernehmen hat und im Umfang dieser Feststellungen dem Gericht prinzipiell Beweiserhebung und Beweiswürdigung entzogen sind. Behauptet der Versicherte, dass sich seit der letzten Begutachtung sein Pflegebedarf erhöht habe, hat das beklagte Versicherungsunternehmen außergerichtlich ein neues Gutachten einzuholen; ggf. ist der Versicherer vom Gericht auf die Notwendigkeit eines solchen weiteren Gutachtens hinzuweisen. Das Gericht hat nur dann von Amts wegen ein Gutachten zum Umfang des Pflegebedarfs einzuholen, wenn vom Versicherten substantiiert die "offenbare Unrichtigkeit" des außergerichtlichen Gutachtens dargetan wird, ferner, wenn der Versicherer es abgelehnt hat, zu dem neuen Tatsachenvortrag des Versicherten ein weiteres eigenes Gutachten einzuholen oder ein erteilter Gutachtensauftrag nicht ausgeführt bzw. verzögert wird.

In seinem späteren Urteil vom 22.07.2004 (B 3 P 6/03 R; zitiert nach juris) führt der 3. Senat des BSG aus, dass er "auch unter Berücksichtigung kritischer Stimmen in der Literatur (Bastian NZS 2004, 76)" an dieser Rechtsprechung (Urteile vom 22.08.2011, aa0) festhalte. Allerdings ist zu konstatieren, dass er sich nicht mit den – nach der Rechtsauffassung des Senats gewichtigen – Argumenten, die gegen eine Anwendung des § 64 bzw. 84 VVG sprechen, auseinandersetzt.

Bastian (a.a.O.) verweist zutreffend u. a. darauf, dass sich aus § 64 bzw. 84 VVG primär nur ergibt, unter welchen Voraussetzungen eine durch einen Sachverständigen getroffene Feststellung ausnahmsweise nicht verbindlich ist. Daraus folge im Sinne eines Umkehrschlusses jedoch nicht zwingend, dass Feststellungen, die ein Arzt auf Grund einer vertraglichen Vereinbarung zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer zu treffen habe, grundsätzlich verbindlich seien. Letzteres müsse vielmehr gleichfalls von dem zum Ausdruck gebrachten Willen der Parteien getragen sein. Dies erscheine jedoch insoweit zweifelhaft, als im Gegensatz zu den Musterbedingungen anderer Versicherungssparten weder der Regelung des § 6 Abs. 2 Satz 1 MB/PPV noch den übrigen Klauseln der MB/PPV eine ausdrückliche Festlegung der Verbindlichkeit der Feststellungen des vom Versicherer beauftragten Arztes zu entnehmen sei. So ordneten beispielsweise § 23 Abs. 6 der Allgemeinen Hausratsversicherungsbedingungen (VHB 92), § 22 Abs. 6 Satz 1 der Allgemeinen Wohngebäudeversicherungsbedingungen (VGB 88) oder § 15 Abs. 6 Satz 1 der Allgemeinen Bedingungen für die Feuerversicherung (AFB 87) ausdrücklich an, dass die "Feststellungen der Sachverständigen oder des Obmanns verbindlich sind, wenn nicht nachgewiesen wird, dass sie offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweichen."

Im Hinblick auf die fragliche Anwendung des § 64 bzw. 84 VVG gewichtiger ist noch das Argument aus § 23 Abs. 6 Nr. 1 SGB XI. Danach sind das private Krankenversicherungsunternehmen oder ein anderes die Pflegeversicherung betreibendes Versicherungsunternehmen verpflichtet, für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie für die Zuordnung zu einer Pflegestufe dieselben Maßstäbe wie in der sozialen Pflegeversicherung anzulegen. Dem entsprechend heißt es in § 1 Abs. 10 MB/PPV, dass sich der Umfang des Versicherungsschutzes nicht nur aus dem Versicherungsschein, ergänzenden schriftlichen Vereinbarungen und den Allgemeinen Versicherungsbedingungen ergibt, sondern auch aus den gesetzlichen Vorschriften, insbesondere denen des SGB XI.

Auch wenn die gesetzlich angeordnete Gleichwertigkeit von sozialer und privater Pflegeversicherung in erster Linie auf eine Gleichstellung der Versicherten hinsichtlich des materiellen Leistungsrechts gerichtet ist, wird diese gesetzgeberische Intention konterkariert, wenn nach den MB/PPV die ärztlichen Feststellungen zu Eintritt, Stufe und Fortdauer der Pflegebedürftigkeit regelmäßig verbindlich wären und nach § 64 bzw. 84 VVG nur im Falle einer offenbaren und erheblichen Abweichung von der wirklichen Sachlage angefochten und von den Sozialgerichten nachgeprüft werden könnten (Bastian, a.a.O.). Im Gegensatz dazu ist nämlich für die soziale Pflegeversicherung das Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit in § 18 SGB XI geregelt. Dort wird keine Bindung der Pflegekassen an die von ihnen beauftragten Gutachter angeordnet.

Im Ergebnis kann die Frage der Anwendbarkeit des § 64 bzw. 84 VVG im vorliegenden Fall aber offen bleiben, weil sich, auch wenn die vom Sozialgericht im Rahmen der eigenen Sachverhaltsermittlungen gewonnenen Erkenntnisse (insbesondere das von Amts wegen eingeholte Sachverständigengutachten) verwertet würden (was sich bei Bejahung der o. g. Bindungswirkung verböte), nach der Überzeugung des Senats der hier geltend gemachte Anspruch der Klägerin auf Leistungen nach der Pflegestufe II bereits ab August 2005 und nach der Pflegestufe III ab 16.11.2008 oder zu einem späteren Zeitpunkt nicht besteht.

Soweit der Sachverständige Dr. N. in seinem Gutachten vom 27.06.2011 zu dem Ergebnis kommt, dass ab Antragstellung im August 2005 bei der Klägerin keine Pflegebedürftigkeit und ab April 2009 Pflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe I vorliegt, besteht Übereinstimmung mit den MedicProof-Vorgutachtern D. und Dr. J.

Der vom Sachverständigen mit 123 Minuten pro Tag ab dem 30.05.2011 angegebene Hilfebedarf bei der Grundpflege bedarf jedoch der Korrektur.

Der Hilfebedarf beim Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung, der vom Sachverständigen mit 25 Minuten pro Tag angegeben ist, ist zu reduzieren:

Der Sachverständige berücksichtigt sowohl die Besuche beim Physiotherapeuten, die zweimal pro Woche stattfanden, als auch die nach seinen Annahmen zweimal monatlich stattfindende Arztbesuche (insgesamt mithin 10 Termine pro Monat). Indes zählen Verrichtungen, die seltener als zumindest einmal pro Woche anfallen, nicht zum berücksichtigungsfähigen Pflegeaufwand. Das Gesetz stellt nämlich in § 15 Abs. 3 SGB XI mit hinreichender Deutlichkeit klar, dass für die Bemessung des für die Pflege erforderlichen Zeitaufwands auf die Woche abzustellen ist. Aus dem gesamten in einer Woche anfallenden Pflegeaufwand ist der Tagesdurchschnitt zu ermitteln. Dies schließt es aus, bei der Feststellung des zeitlichen Pflegebedarfs auch Verrichtungen einzubeziehen, die seltener als zumindest einmal wöchentlich anfallen (vgl. Rechtsprechung des BSG in seinen Urteilen vom 29.04.1999, B 3 P 12/98 R und B 3 P 7/98 R, jeweils zitiert nach juris, der sich der Senat aus eigener Überzeugung anschließt).

Dass Arztbesuche entgegen den Ausführungen des Sachverständigen Dr. N. mindestens einmal wöchentlich angefallen sind, ist nicht nachgewiesen. Durchgängig wurden in sämtlichen Gutachten übereinstimmend zweimal wöchentlich stattfindende Krankengymnastik-Besuche angegeben. Weder die Gutachterin D. noch der Gutachter Dr. J. treffen Feststellungen dahingehend, dass mindestens einmal wöchentlich Arztbesuche stattfinden. Auch die beigezogenen und vorgelegten Arztberichte enthalten keine diesbezüglichen Angaben. Die Aussage der Pflegeperson C. in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Frankfurt, dass in 14-tägigem Abstand im Wechsel zwei Ärzte aufgesucht werden, womit sich ein Arztbesuch einmal wöchentlich ergäbe, wird damit nicht durch entsprechende Unterlagen untermauert und kann nicht zugrunde gelegt werden, zumal auch die Klägerin selbst den Ausführungen der Gutachter zu den stattfindenden Krankengymnastik- und Arztterminen in keinem Fall widersprochen hat.

Der vom Sachverständigen Dr. N. zugrunde gelegte Hilfebedarf für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung von 25 Minuten pro Tag ist daher um die auf die Arztbesuche entfallenden Zeiten zu reduzieren. Da der Sachverständige nicht angegeben hat, welche Zeiten er für die Arztbesuche zugrunde gelegt hat, gibt es zwei Möglichkeiten, den für die Krankengymastik-Besuche erforderlichen Hilfebedarf zu ermitteln:

Für den Fall, dass der Sachverständige für die Krankengymnastik- und die Arzttermine denselben Zeitwert pro Besuch angenommen hat, errechnet sich ein Zeitbedarf von (25: 10 =) 2,5 Minuten pro Besuch und Tag, mithin von 5 Minuten pro Tag für zweimal monatlich stattfindende Arztbesuche. Bereits mit dieser Korrektur betrüge der Grundpflegebedarf lediglich (123 – 5 =) 118 Minuten pro Tag, womit die Pflegestufe II nicht erreicht wäre.

Für den Fall, dass der Sachverständige für die Krankengymnastik-Termine einerseits und die Arztbesuche andererseits verschieden hohe Zeitwerte zugrunde gelegt hat, muss der Senat eine eigene Bemessung der für die Krankengymnastik-Termine erforderlichen Zeit vornehmen:

Legt man den vom BSG (Urteil vom 06.08.1998, B 3 P 17/97 R; zitiert nach juris, dort Rz. 19 und 20) für einen Arztbesuch inklusive Wartezeit der Pflegeperson maximal zu berücksichtigenden Zeitwert (= 45 Minuten pro Besuch) zugrunde, sind bei wöchentlich zwei Krankengymnastik-Terminen (45 x 2 = 90: 7 =) 13 Minuten pro Tag zu berücksichtigen. Hieraus errechnet sich ein Gesamthilfebedarf bei der Grundpflege von (123 – 25 = 98 + 13 =) 111 Minuten pro Tag, womit ebenfalls die Pflegestufe II nicht erreicht wäre.

Ferner erklärt sich aus dem Gutachten von Dr. N. nicht, wieso pro Tag eine Dusche und zusätzlich eine Ganzkörperwäsche anfällt, die mit 20 Minuten zu Buche schlägt. Diesbezügliche Erläuterungen in dem Gutachten fehlen vollständig. Da jedoch bereits wegen der bei der Mobilität zu reduzierenden Zeiten die Pflegestufe II nicht erreicht ist, musste dem nicht weiter nachgegangen werden.

Auch aus den übrigen Krankenunterlagen, insbesondere den Angaben von Dr. P. und Frau Dr. O., die das Sozialgericht zur Ermittlung des Pflegebedarfs maßgeblich herangezogen hat, ergibt sich das Vorliegen der Pflegestufe II zu einem früheren Zeitpunkt als Dezember 2011 nicht.

Die Antworten von Dr. P. in seinem Befundbericht vom 31.08.2010 und von Frau Dr. O. vom 03.12.2012 auf die Fragen zum Pflegebedarf sind nach der Überzeugung des Senats nicht verwertbar, da die Ärzte – wie sich aus den von ihnen angegebenen Zeiten für die einzelnen Hilfeleistungen erschließen lässt – den Pflegebedarf nicht nach den zugrunde zu legenden Vorschriften bewertet haben (auch das Sozialgericht empfand die angegeben Zeiten als "über das Ziel hinaus geschossen").

Nach dem Befundbericht von Dr. P. bestand eine schwere diabetische sensomotorische Polyneuropathie mit teilweisen Lähmungen der oberen und unteren Gliedmaßen, eine schwere Beeinträchtigung der Feinmotorik sowie eingeschränkte Empfindungsfähigkeit und ein Carpaltunnelsyndrom beidseits. Die Klägerin habe starke Atemnot unter Belastung geäußert, wodurch ihre Mobilität stark eingeschränkt sei sowie teilweise Lähmungen der Gliedmaßen, insbesondere beim Treppensteigen und Heben der Arme, starke ödematöse Induration der Beine, Inkontinenz von Harnblase und Darm und häufige Durchfälle.

Frau Dr. O. führt in ihrem Bericht lediglich Diagnosen auf und gibt die geklagten Beschwerden der Klägerin im Wesentlichen wie Dr. P. wieder.

Damit bestätigen die behandelnden Ärzte das Krankheitsbild, das der Gutachter Dr. J. bereits im Juli 2009 beschrieben, jedoch nachvollziehbar anders bewertet hatte.

Aus den übrigen Krankenunterlagen ergaben sich keine Umstände, die einen höheren Hilfebedarf ab 30.05.2011 oder gar zu einem früheren Zeitpunkt rechtfertigen würden. Dies gilt umso mehr, als Frau L. in ihrem Bericht vom 09.08.2007 – als einzig hier relevante Feststellung – ein breitbeiniges, ataktisches Gangbild beschrieben hat.

In dem Gutachten zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin vom 14.02.2008 wurde das Befinden der Klägerin nach durchgeführter Herzkatheteruntersuchung und Koronarangiographie im Januar 2008 als gebessert beschrieben. Unter der differenzierten Herzinsuffizienztherapie seien keine Unterschenkelödeme mehr vorhanden. Die Klägerin könne nachts flach schlafen und nach eigenen Angaben fühle sie sich wesentlich leistungsfähiger. Es sei von einer erfolgreichen Behandlung der koronaren Herzerkrankung auszugehen. Die Klägerin wurde von dem Gutachter sogar als ab dem 01.03.2008 wieder arbeitsfähig beschrieben.

In einem Befundbericht vom 31.07.2010 beschreibt Dr. P., die Klägerin habe nach einem Autounfall im Mai 2010 noch immer unter Schmerzen, besonders an den Armen, zu leiden. Allerdings habe sie ihr Gewicht erheblich reduziert, worunter sie sich jetzt recht gut fühle. Die Stoffwechselsituation habe sich weiterhin stabilisiert. Medikamente seien abgesetzt worden. Die körperliche Mobilität der Klägerin habe sich "eher im günstigen entwickelt". Jetzt wolle die Klägerin sich auch am Studium der "U3L" (Universität des 3. Lebensalters an der Goethe-Universität Frankfurt) beteiligen "und das sei gut so."

In einem weiteren Befundbericht vom 18.04.2011 führt Dr. P. aus, dass zwischenzeitlich keine ernsthaften Krankheiten abgelaufen seien. Die Unfallfolgen seien weitgehend abgeklungen. Es bestehe keine Atemnot beim langsamen Gehen und Sprechen. Auskultatorisch sei am Herzen kein pathologischer Befund erhoben worden. Der Blutdruck habe sich mit 110/70 mmHg im niedrigen Bereich befunden. Er habe heraus gefunden, dass die Klägerin auf das Arzneimittel Victoza mit Durchfällen reagiere. Der Diabetes mellitus sei nicht optimal eingestellt, weshalb eine neue Einstellung unter klinischen Bedingungen herbeizuführen sei. Die diabetische Nephropathie erscheine im Sinne der kompensierten Retention einigermaßen ausgeglichen. Das Schreiben endet mit dem Satz: "Aber jetzt fahren Sie ja erst einmal nach Rumänien. [ ...]"

Damit waren die Voraussetzungen zur Erbringung von Leistungen der Pflegeversicherung von August 2005 bis einschließlich Februar 2009 nicht nachgewiesen. Erst seit März 2009 ist das Vorliegen der Voraussetzungen für die Einordnung in die Pflegestufe I und seit Dezember 2011 in die Pflegestufe II nachgewiesen. Nach alledem konnte das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt keinen Bestand haben und war auf die Berufung der Beklagten hin abzuändern. Die über das Teilanerkenntnis hinausgehende Klage war abzuweisen mit Ausnahme des aus dem Teilanerkenntnis resultierenden Zinsanspruchs, für März 2009 ausgehend von einem Pflegegeld für die Pflegestufe I von 215 EUR (vgl. AVB, Teil II, Tarifstufen PVN und PVB, Ziffer 2 i. V. m. MB/PPV) und für Dezember 2011 ausgehend von einem Pflegegeld für die Pflegestufe II von 430 EUR, hier abzüglich des gezahlten Pflegegeldes nach der Pflegestufe I in Höhe von 225 EUR, womit die Zinsen im Dezember 2011 aus einem Betrag von 205 EUR zu zahlen waren. Der Zinsanspruch ergibt sich aus § 291 Satz 1 zweiter Halbsatz BGB i. V. m. § 288 Abs. 1 BGB.

Die Kostenentscheidung nach § 193 SGG resultiert aus dem Umstand, dass die Klägerin mit ihrem Klageantrag nahezu vollständig unterlegen ist.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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