S 30 LW 15/13

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
30
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 LW 15/13
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 1 LW 22/13
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 12.06.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.07.2013 wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten ist die Befreiung des Klägers von der Versicherungspflicht zur Alterssicherung der Landwirte für das Jahr 2011. Der Kläger ist geboren 1957. Mit Bescheid vom 26.06.2001 wurde er für die Zeit ab 01.10.2000 in die Versicherungspflicht zur Alterssicherung der Landwirte aufgenommen und antragsgemäß wegen Erzielung ausreichenden außerlandwirtschaftlichen Erwerbseinkommens aus seiner Tätigkeit als Immobilienkaufmann vom selben Tage an hiervon befreit. Der Bescheid war mit einem Vorbehalt der Aufhebung der Befreiung versehen, weil die Höhe des Bruttoeinkommens des Klägers ab dem Jahre 2000 zum jetzigen Zeit-punkt nicht endgültig festgestellt werden könne. In der Folgezeit wurden die Voraussetzungen der Befreiung unter korrekter Mitwirkung des Klägers Jahr für Jahr bestätigt. In Beantwortung der routinemäßigen Anfrage vom 15.04.2013 legte der Kläger den am 04.04.2013 ergangenen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2011 vor. Er dokumentierte im Gegensatz zu den vergangenen Jahren einen Verlust aus Gewerbebetrieb. Die Einkünfte wurden mit -16.566 Euro beziffert. Daraufhin hörte die Beklagte den Kläger zu ihrer Absicht an, die Befreiung für die Zeit vom 01.01.2011 bis 31.12.2011 aufzuheben, weil das außerlandwirtschaftliche Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit nicht den Grenzwert von EUR 4800,00 jährlich bzw. EUR 400,00 monatlich überschreite. Die Beitragsforderung wurde mit EUR 2628,00 beziffert. Der Kläger ließ einwenden, dass hierfür keine Rechtsgrundlage gegeben sei. Die Beklagte habe im Befreiungsbescheid vom 26.06.2001 weder eine vorläufige Regelung getroffen noch sich einen Widerruf vorbehalten. Auf das Urteil des Bundessozialgerichtes vom 23.01.2008 mit den Aktenzeichen B 10 LW 1/07 R wurde hingewiesen. Dennoch hob die Beklagte mit Bescheid vom 12.06.2013 die Befreiung des Klägers von der Versicherungspflicht für den Zeitraum 01.01.2011 bis 31.12.2011 wegen Unterschreitung der zur Befreiung führenden Einkommenshöhe auf. Verfahrensrechtlich wurde diese Maßnahme auf § 48 Sozialgesetzbuch 10 (SGB X) wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse gestützt. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und vertiefte die bereits in den Gegenvorstellungen zur Anhörung vorgebrachten Argumente. Der Befreiungsbescheid dürfe lediglich für die Zukunft aufgehoben werden. Der Bescheid habe keinen rechtlich zulässige Nebenbestimmungen im Sinne von § 32 SGB X enthalten, die ohne rückwirkende Aufhebung zur Unwirksamkeit der Entscheidung geführt haben würde.

Die Möglichkeit einer rückwirkenden Aufhebung der Befreiung sei im Bescheid nicht er-sichtlich gewesen. Am 25.07.2013 erließ die Beklagte den zurückweisenden Widerspruchsbescheid. Sie bekräftigte den Vorbehalt der Rücknahme der Befreiung im Bescheid vom 26.06.2001. Die von den Landwirtschaftlichen Alterskassen verlangte vorausschauende Betrachtungsweise zur Überschreitung des Befreiungsgrenzwertes durch das außerlandwirtschaftliche Einkommen werde immer dann problematisch, wenn ein Befreiungsanspruch wegen außerlandwirtschaftlichen Arbeitseinkommens aus selbstständiger oder gewerblicher Tätigkeit geltend gemacht werde. Laut § 15 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 4 (SGB IV) bestehe eine volle Parallelität zwischen dem steuerlichen Gewinn aus selbstständiger Tätigkeit bzw. Gewerbe und dem Arbeitseinkommen im sozialversicherungsrechtlichen Sinne. Aus welchen Gründen sich für einen bestimmten Zeitraum ein Verlust ergebe, sei unerheblich. Die Landwirtschaftliche Alterskasse habe keine Berechtigung, von der Gewinnfeststellung des Finanzamtes abzuweichen. Weil die Voraussetzungen der Korrekturvorschriften der §§ 45 und 48 SGB X regelmäßig nicht erfüllt sein dürften, müsse es gestattet sein, vorläufige Befreiungsbescheide zu erlassen und eine abschließende Entscheidung erst nach Vorlage des jeweiligen Einkommensteuerbescheides zu treffen. In der mündlichen Verhandlung ergänzte der Vertreter der Beklagten die Begründung der angegriffenen Bescheide dahingehend, dass sie auch auf § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X gestützt werde.

Der Kläger beantragt die Aufhebung des Bescheides vom 12.06.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.07.2013.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig. Die Klage ist jedoch in der Sache nicht begründet. Die für die Beurteilung der Versicherungspflicht und der Befreiung hiervon maßgeblichen Vorschriften des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte lauten:

Versicherungspflichtig sind Landwirte (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 ALG). Landwirt ist, wer als Unternehmer ein auf Bodenbewirtschaftung beruhendes Unterneh-men der Landwirtschaft betreibt, das die Mindestgröße erreicht (§ 1 Abs. 2 S. 1 ALG). Unternehmen der Landwirtschaft sind Unternehmen der Landwirtschaft und Forstwirtschaft ... ; die hierfür genutzten Flächen gelten als landwirtschaftlich genutzte Flächen. Zur Bodenbewirtschaftung gehören diejenigen wirtschaftlichen Tätigkeiten von nicht ganz kurzer Dauer, die der Unternehmer zum Zwecke einer überwiegend planmäßigen Aufzucht von Bodengewächsen ausübt, sowie die mit der Bodennutzung verbundene Tierhaltung, sofern diese nach den Vorschriften des Bewertungsgesetzes zur landwirtschaftlichen Nutzung rechnet. (§ 1 Abs. 4 S. 1 und 2 ALG).

Landwirte und mitarbeitende Familienangehörige werden auf Antrag von der Versicherungspflicht befreit, solange sie regelmäßig Arbeitsentgelt, Arbeitseinkommen, vergleichbares Einkommen oder Erwerbsersatzeinkommen beziehen, das ohne Berücksichtigung des Arbeitseinkommens aus Land- und Forstwirtschaft jährlich 4800 Euro überschreitet (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 ALG).

Arbeitsentgelt sind alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden (§ 14 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch IV/SGB IV). Arbeitseinkommen ist der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts ermittelte Gewinn aus einer selbstständigen Tätigkeit. Einkommen ist als Arbeitseinkommen zu werten, wenn es als solches nach dem Einkommensteuerrecht zu bewerten ist (§ 15 Abs. 1 SGB IV).

Die Beklagte hat ohne Fehler bei der Sachverhaltserfassung oder Rechtsanwendung festgestellt, dass der Kläger im Jahre 2011 nicht mehr regelmäßig außerlandwirtschaftliche Erwerbseinkünfte von mehr als 4800 Euro bezog. Das Kalenderjahr muss als Maßstab für die Regelmäßigkeit gelten, weil das für die Sozialversicherung Maßstäbe setzende Steuerrecht bei Selbstständigen, Gewerbetreibenden und Freiberuflern keine kleinere relevante Zeiteinheit kennt. Es wäre gänzlich lebensfremd, beispielsweise die laufenden Betriebsausgaben von elf Kalendermonaten im Sinne der Regelmäßigkeit für maßgeblich zu erklären und die damit für einen einzigen Kalendermonat bewirkte hohe Einnahme als unregelmäßige Ausnahme zu ignorieren.

Genauso abwegig wäre das gegenteilige Verfahren, nur die Einnahmen in der Mehrzahl der Kalendermonate eines Jahres in Betracht zu ziehen und die den wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg des ganzen Jahres prägenden Ausgaben der andere Monate auszublenden. Noch willkürlicher würden die Ergebnisse bei einer Zugrundelegung noch kleinerer Zeiteinheiten als des Kalendermonats. Auch verfahrensrechtlich ist die Vorgehensweise der Beklagten nicht zu beanstanden. Ein Bescheid über die Einräumung der Befreiung von der Versicherungspflicht ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Bei einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, die so wesentlich ist, dass sie auf den Tenor des Verwaltungsaktes Einfluss hat, vorliegend also bei Unterschreitung der für die Versicherungsbefreiung kritischen Verdienstgrenze, ist auf einen solchen Verwaltungsakt § 48 Sozialgesetzbuch 10 (SGB X) anwendbar; der Verwaltungsakt ist wegen Änderung der Verhältnisse aufzuheben. Nach Abs. 1 S. 1 der Vorschrift findet dies auf jeden Fall für die Zukunft statt, also ab dem Folgemonat der Bekanntgabe des Aufhebungsbescheides. Die Aufhebung für den Vergangenheitszeitraum zwischen der Änderung der Verhältnisse und der Erteilung des Aufhebungsbescheides bzw. bis zum Wiedereintritt der für den Ursprungsbescheid maßgeblichen Ausgangslage ist nach Abs. 1 S. 2 der Vorschrift zu prüfen. Da die Aufhebung mit dem Fälligwerden von Beiträgen jedenfalls teilweise belastenden Inhalt hat, kommen nur die Nrn. 2 bis 4 in Betracht. Nicht anwendbar ist die Nr. 3, die auf die Anpassung von Sozialleistungen an geänderte Zuflüsse von Arbeitsentgelt und Sozialleistungen abgestellt ist. Hierauf hat das BSG in seiner Entscheidung B 10 LW 5/01 R vom 16.10.2002 zu einem vergleichbaren Fall der erkennenden Kammer des Sozialgerichts München hingewiesen. Nicht zu folgen ist jedoch der lapidaren zwischenzeitlich auch nicht mehr wiederholten Aussage des BSG in dieser Entscheidung, es sei überhaupt keine Variante aus dem Katalog der Nrn. 2 bis 4 aus § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X erfüllt. Auffangtatbestand ist nämlich die Kenntnis des Betroffenen nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 (zu der die ebenfalls dort genannte grob fahrlässige Unkenntnis bereits wieder einen mit Schuldvorwurf verbundenen Sonderfall darstellt). Ganz generell kann den Adressaten von Verwaltungsakten der Sozialverwaltung die Kenntnis unterstellt werden, welche gesundheitlich definierten Tatbestände, welche Erziehungs- oder Ausbildungssituationen, welche Arbeitsmarktprobleme usw. usw. fortbestehen müssen, um die weitere Gültigkeit eines an sie ergangenen Bescheides zu rechtfertigen. Bereits die Antragstellung beruhte jeweils auf der Erkenntnis des Betroffenen, dass er einen solchen Tatbestand verwirklicht. Sodann erging ein Bescheid, der typischerweise mit entsprechenden Hinweisen und beigefügten Merkblättern die im Antrag geltend gemachten und als zutreffend unterstellten Tatbestandsmerkmale erläutert.

Die Beklagte unterlässt nach Erfahrung des erkennenden Gerichts bei Bescheiden über die Befreiung von der Versicherungspflicht niemals solche Hinweise. Beim Kläger ist allein schon im Hinblick auf die langjährige problemlose Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten bezüglich des Fortbestandes der Befreiungsmöglichkeit ein vollständiger Überblick über die Voraussetzungen der Befreiung und die Möglichkeit ihrer Beendigung anzunehmen. Der Wortlaut von § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X spricht von Ansprüchen, die kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen sind. Das Ruhen und der Wegfall kommen am ehesten für Leistungsansprüche in Betracht. Die Vorschrift kann jedoch zwanglos und ohne Überschreitung des Wortlauts auf Fälle angewendet werden, in denen der Versicherte einen Anspruch hat, für gewisse Zeiten von der Versicherungs-pflicht befreit zu werden. Das erkennende Gericht übersieht nicht, dass das Bayerische Landessozialgericht wie auch das Bundessozialgericht Zweifel an der Anwendbarkeit des § 48 Abs. 1 S. 2 auf die vorliegende Fallgruppe geäußert haben. Solange jedoch kein entsprechendes Urteil diese Unanwendbarkeit ausdrücklich festgestellt hat und – noch wichtiger – der behördlichen und untergerichtlichen Praxis Richtlinien für ein bedenkenfreies Verfahren zur Handhabung der Befreiungsproblematik geliefert hat, hält das erkennende Gericht an seiner Rechtsprechung fest. In allen vergleichbaren Fällen muss den Klägerinnen und Klägern zu bedenken gegeben werden, dass eine Abkehr von der rückwirkenden Aufhebung der Befreiung nach Maßgabe von Einkommensteuerbescheiden einen mindestens einmal monatlichen Briefwechsel über die Einkommensprognose erforderlich machen würde und zu ständigem Streit darüber führen müsste, ab welcher Zahl von Wochen oder Monaten die Geschäftsentwicklung bei einem Handwerker, Makler, Rechtsanwalt, Ladeninhaber oder Unternehmensberater eine im Sinne des unbestimmten Rechtsbegriffs der Regelmäßigkeit relevante Wendung über oder unter der Entgeltgrenze nimmt. Zutreffend hat die Beklagte auch auf den Vorbehalt der Aufhebung im Bescheid vom 26.06.2001 hingewiesen. Trotz einer unbeeinträchtigten Wirksamkeit über mehr als ein Jahrzehnt hat sie diesem Bescheid damit den Charakter der Vorläufigkeit gegeben. Zu-lässig war diese Nebenbestimmung nach § 32 Abs. 2 Nr. 3 SGB X. Zwar erlaubt die Vorschrift im engen Wortsinne nur den Vorbehalt eines Widerrufes eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes im Sinne der für die Sozialverwaltungspraxis nahezu irrelevanten §§ 46,47 SGB X, doch muss dieser Vorbehalt auch für einen Fall zulässig sein, der tatbestandsmäßig unter die Änderung der Verhältnisse nach § 48 SGB X fällt.

Die Beschränkung der Vorbehaltsregelung lediglich auf den Widerruf ist mit der Entstehungsgeschichte des SGB X zu erklären, bei dem das Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) als Richtschnur galt, das in § 49 Abs. 2 Nr. 3 und Abs. 3 die Änderung der Verhältnisse zu den Anwendungsfällen des Widerrufs zählt. Anders als von der Klägervertreterin vorgetragen hat die Beklagte nicht den automatischen Wegfall der Befreiung behauptet, sondern diesen mit einem neuen rechtsbehelfsfähigen Bescheid zur Wirksamkeit gebracht. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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