S 30 R 2848/11

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
30
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 R 2848/11
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 14 R 1207/13
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 24.02.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.05.2011 und des Wider-spruchsbescheids vom 21.10.2011 verurteilt, die Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht über den 28.02.2011 hinaus auszusprechen.

II. Die Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten ist die Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht. Die 1978 geborene Klägerin beantragte am 29.07.2010 bei der Beklagten diese Befreiung wegen ihrer gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft im Versorgungswerk der Bayerischen Ärztekammer aufgrund einer Tätigkeit als "CRA (Clinical Resarch Associate)/Projekt Assis-tent/Medical Review" seit 01.09.2010. Die Bayerische Landestierärztekammer hatte die Mitgliedschaft ab diesem Datum bestätigt. Der Arbeitgeber medicomp GmbH erläuterte die Motivation für die Beschäftigung der Klägerin. Aufgrund ihrer im Studium und in der bisherigen tierärztlichen Tätigkeit sowie durch einschlägige Fort- und Weiterbildungsmaß-nahmen erworbenen Kenntnisse bringe die Klägerin beste Voraussetzungen für ihre Tätigkeit mit. Sie werde bei der Betreuung der klinischen Studien täglich mit diagnostischen und therapeutischen Fragen konfrontiert, die sie als Medizinerin kompetent abklären kön-ne. Außerdem müsse sie die gesammelten Daten auf medizinische Sinnhaftigkeit über-prüfen. Gerade der sogenannte "safety check" müsse von einem Mediziner oder einer Medizinerin verantwortet werden. Ein vorgelegter Anstellungsvertrag dokumentierte ein Beschäftigungsverhältnis vom 01.09.2010 bis zunächst 28.02.2011 im Sinne einer Probe-zeit mit der Option des Übergangs in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Die beigefügten Stellenbeschreibungen bezeichneten die Klägerin als Medical Advisor und als CRA. Für erstgenannte Funktionen war gefordert eine Qualifikation als Arzt oder Tierarzt, die auch im Vertretungsfalle gewährleistet sein müsse, für letztgenannte Funktion eine "Ausbildung in medizinischem oder naturwissenschaftlichem Bereich". Die Klägerin konkretisierte ihr Begehren auf eine zunächst vorläufige Befreiung. Die Beklagte folgte diesem Begehren mit einem Bescheid vom 19.11.2010 über die Befreiung der Klägerin für die "zeitlich befristete berufsfremde Beschäftigung" bis 28.02.2011. Mit Schreiben vom 25.11.2010 erklärte sich die Klägerin für "etwas überrumpelt" und er-suchte um eine schriftliche Erklärung der Sachlage. Die Beklagte antwortete mit einem aufklärenden Schreiben vom 08.12.2010. Sie erläuterte, für die Tätigkeit als CRA/Monitorin und Projektassistenz sei nicht zwingend die abgeschlossene Ausbildung als Tierärztin erforderlich. Es handele sich daher nicht um eine berufsspezifische, sondern um eine berufsfremde Beschäftigung. Die Befreiung von der Versicherungspflicht könne sich jedoch dann auf eine vorübergehende berufsfremde Beschäftigung oder Tätigkeit er-strecken, wenn diese infolge ihrer Eigenart oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt ist, § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI. Am 18.01.2011 erhob die Klägerin einen (verfristeten) Widerspruch und verwies auf ihre Anstellung nicht nur als CRA/Monitorin und in der Projektbetreuung, sondern auch als Medical Advisor mit Zuständigkeit für die medizinische Beurteilung von präklinischen und klinischen Daten und Studien. Sie ersuchte, die Befreiung in eine solche wegen berufsbezogener Tätigkeit oder Beschäftigung abzuändern. Mit Bescheid vom 24.02.2011 lehnte die Beklagte unter Zugrundelegung des am 18.01.2011 eingegangenen Schreibens als Überprüfungsantrag die Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch VI (SGB VI) ab. Sie verwies zur Begründung darauf, dass für die Tätigkeit als CRA/Monitorin und Projektassistenz nicht zwingend eine abgeschlossene Ausbildung als Tierärztin erforderlich sei. Ein anwaltliches Schreiben vom 16.03.2011 begehrte die Feststellung einer unbefristeten Befreiung wegen tierärztlicher Tätigkeit. Ob die Bitte um "rechtsmittelfähige Bescheidung" als Widerspruch oder neuer Antrag aufzufassen sei, blieb offen. Die Beklagte interpretierte das Schreiben am 18.03.2011 als Widerspruch. Ein aktualisierter Befreiungsantrag bezeichnete die Klägerin nunmehr als "Medical Advisor/CRA". Die Klägerin legte ein Schrei-ben des Arbeitgebers vor, mit dem ihr Anstellungsvertrag für die Zeit ab 01.03.2011 unbe-fristet fortgesetzt wurde. Mit Bescheid vom 25.05.2011 lehnte die Beklagte die Befreiung für die Zeit ab 01.03.2011 ab. Es handele sich bei der Beschäftigung bei der medicomp GmbH nicht um eine berufsspezifische Beschäftigung als Tierärztin. Nach einer Definition tierärztlicher Tätigkeit wurde wiederum Bezug genommen auf die Tätigkeitsbezeichnung als "CRA/Monitorin und Projektassistenz". Hierfür sei die Approbation als Tierarzt nicht zwingend erforderlich. Dies ergebe sich aus der Stellenbeschreibung, die als fachliche Anforderungen ein abgeschlossenes Studium wahlweise der Fachrichtung Humanmedizin oder Veterinärmedizin benennt. Dieser Bescheid wurde laut Rechtsbehelfsbelehrung Gegenstand des Widerspruchsverfahrens. Dennoch wurde er mit einem zusätzlichen Widerspruch angefochten. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.10.2011 wies die Beklagte den Widerspruch gegen die Bescheide vom 24.02.2011 und 25.05.2011 zurück. Einer Definition tierärztlicher Tätigkeit und einer Skizzierung typischer Beschäftigungsmöglichkeiten folgte die Argumentation, eine Tätigkeit sei nur befreiungsfähig, wenn für sie ein erfolgreich absolviertes Veterinär-medizinstudium erforderlich sei. Wenn die Tätigkeit auch von Personen mit anderer Aus-bildung ausgeübt werden kann, sei nicht mehr von einer berufsspezifischen Tätigkeit aus-zugehen. Wiederum wurde darauf hingewiesen, dass die Tätigkeit laut Stellenbeschreibung auch von Personen mit abgeschlossenem Studium der Humanmedizin ausgeübt werden könne. Ob im konkreten Einzelfall die Einstellung aufgrund tierärztlicher Qualifikation erfolgte, sei dabei unerheblich. Die Klage hiergegen verweist auf eine in vergleichbaren Fällen ausgesprochene Befreiung von der Versicherungspflicht. Sie zitiert die Bayerische Ärzteversor-gung mit der Aussage, "dass unter tierärztlicher Tätigkeit nicht nur diejenigen Tätigkeiten zu verstehen seien, für welche die tierärztliche Approbation oder Erlaubnis Voraussetzung sei, sondern auch jene Tätigkeiten, bei welchen Kenntnisse verwertet werden, die aufgrund einer tierärztlichen Tätigkeit erworben wurden oder die nach den jeweils geltenden Vorschriften Gegenstand der tierärztlichen Ausbildung (Studium), Fort- und Weiterbildung" seien. Die Beklagte erwiderte, der Umstand, dass die Tätigkeit wahlweise von Human- oder Veterinärmedizinern ausgeübt werden kann, belege, dass sich nicht um eine ausschließlich Medizinern vorbehaltene Tätigkeit handeln könne. Insbesondere verfüge der Veterinärmediziner gegenüber dem Humanmediziner lediglich über einen Bruchteil des medizinischen Wissens über den Menschen. Sofern die im Rahmen des Veterinärstudiums er-langten medizinischen Kenntnisse für die Tätigkeit aber ausreichen, sei es nicht ersichtlich, weshalb Gleiches nicht auch für den "Biologen und Gesundheitswissenschaftler bzw. Pharmazeuten bei entsprechenden Ausbildungsschwerpunkten bzw. entsprechender Berufserfahrung gelten" solle. Entscheidend sei, ob die von der Klägerin ausgeübte streitge-genständliche Tätigkeit dem typischen Berufsbild und Tätigkeitsbereich eines approbierten Tierarztes entspricht. Zum Beleg dieser Auffassung wurde auf das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg L 4 R 738/06 vom 13.01.2009 verwiesen, das die Befreiung eines Pharmaberaters von der Versicherungspflicht abgelehnt hatte. Die typische Sachkenntnis für die Tätigkeit als Pharmaberaterin sei auch Apothekern oder Personen mit einem Zeugnis über eine nach abgeschlossenem Hochschulstudium der Pharmazie, der Chemie, der Biologie, der Human- oder Veterinärmedizin abgelegten Prüfung zuzugestehen. Es handele sich jedoch nicht um typische Berufsbilder und Tätigkeiten von Ärzten, Tierärzten und Apothekern. Zu dem Versuch des Gerichts, Akten oder Zeugenaussagen zu vergleichbaren Fällen der Befreiung von Tierärzten zu erlangen, konnten die Beteiligten keine verwertbaren Hinweise liefern.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 24.02.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.05.2011 und des Widerspruchsbescheids vom 21.10.2011 zu der bescheidmäßigen Aussprache ihrer Befreiung von der Versicherungspflicht für die Zeit über den 28.02.2011 hinaus zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig. Sie ist auch begründet. § 6 Absatz 1 S. 1 Nr. 1 SGB IV gebietet auf Antrag die Befreiung derjenigen Beschäftigten und selbstständig Tätigen von der Versicherungspflicht, die wegen ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit kraft Gesetzes Mitglied einer öf-fentlich-rechtlichen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe und zugleich kraft Gesetzes Mitglied einer berufsständischen Kammer sind. Mit weiteren vorliegend unstrittigen Anforderungen hat der Gesetzgeber eine in den neunziger Jahren beobachtete Tendenz beschränkt, immer neuen Berufsgruppen durch Schaffung oder Ausweitung von Versorgungswerken außerhalb der Rentenversicherung die Befreiung hiervon zu ermöglichen. Ein Rentenversicherungsträger hat sich bei der Prüfung einer kraft Gesetzes eintretenden Versicherungsfreiheit nach § 5 SGB VI und einer auf Antrag einzuräumenden Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 SGB VI zunächst bei mehreren Varianten in hohem Maße an den Entscheidungen eines jeweils anderen Rechtsträgers zu orientieren. So hat der Rentenversicherung keine Prüfungskompetenz über das für § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 maßgebliche Beamtenverhältnis oder über die Rechtmäßigkeit der Gewährleistungsentscheidung nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI. Auch die Aufnahme einer Tierärztin in die Ärztekammer und das ihr zugeordnete Versorgungswerk hat eine erhebliche Tatbestandswirkung. Der Rentenversicherungsträger darf und muss angesichts solcher Aufnahmeentscheidungen zunächst durchaus annehmen, dass es sich bei der entsprechenden Person um eine Tierärztin handelt. Gleichwohl ist vom Gesetz gedeckt und von der Rechtsprechung anerkannt, dass durch den Rentenversicherungsträger geprüft werden muss, ob die Mitgliedschaft in einer ent-sprechenden berufsständischen Versorgungseinrichtung auf genau jener Bechäftigung oder selbstständigen Tätigkeit beruht, für die eine Befreiung von der Versicherungspflicht begehrt wird. Eine solche Prüfung könnte im Einzelfall auch zu dem abweichenden Ergebnis führen, dass beispielsweise eine journalistische Tätigkeit in einer mit Fragen der Tierhaltung und des Tierschutzes befassten Redaktion oder eine administrative Funktion in der Verwaltung eines Zoos oder eine kommerzielle Tätigkeit im Zusammenhang mit Produktion und Bewerbung von Tierfutter unter lediglich beiläufiger Nutzung tiermedizinischer Kenntnisse jeweils unter werbewirksamer Nutzung des Doktortitels ohne berufsspezifischen Zusammenhang mit der zur Mitgliedschaft im Versorgungswerk führenden und beispielsweise nur nachrangig ausgeübten tierärztlichen Berufsausübung bleibt. Vorliegend ist jedoch mit ausreichender Deutlichkeit und unwidersprochen belegt, dass insbesondere der Tätigkeitszweig Medical Advisor durch eine streng wissenschaftliche Arbeitsweise gekennzeichnet ist und eine wissenschaftliche Ausbildung voraussetzt. Die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Tierversuchen mit Medikamenten kann sowohl unter unmittelbar fachlichen als auch unter ethischen Aspekten nur ausgebildeten und geprüften Wissenschaftlern anvertraut werden, wobei mit Blick auf die Arbeit am lebenden Wesen, auf die Verantwortung für die späteren Nutzer der Medikamente und auf die notwendige souveräne Erkennung und Interpretation von Krankheits- und Heilungs-verläufen nur die humanmedizinische und die tiermedizinische Qualifikation in Betracht kommen. Die von der Beklagten als ebenfalls geeignet erachteten Pharmakologen, Biologen und Gesundheitswissenschaftler mögen in der Arzneimittelforschung ebenfalls ihre Funktionen haben, können jedoch Ärzte und Tierärzte nicht ersetzen. Den Einsatz von Ärzten und Tierärzten in hochspezifischen Arbeitsbereichen für notwendig zu erklären, muss den entsprechenden Institutionen vorbehalten bleiben. Ob ein Rentenversiche-rungsträger Arzneimittelversuche auch mit geringer qualifiziertem Personal für möglich hält, bleibt genauso irrelevant wie in der vergleichbaren Fallgruppe der Befreiung von Rechtsanwälten bei nicht anwaltlichen Arbeitgebern die Hypothese des Rentenversicherungsträgers über die Ersetzbarkeit eines Anwaltes durch den Betriebswirt oder Fachhochschulabsolventen. Die angegriffenen Bescheide erkennen bereits an, dass als Einstellungsvoraussetzung für die Klägerin ein abgeschlossenes entweder humanmedizinisches oder tiermedizinisches Studium verlangt wurde. Beide Berufsgruppen sind in der Ärzteversorgung erfasst und können die Befreiung von der Rentenversicherung beantragen.

Es kann nicht angehen, Humanmediziner mit dem Hinweis auf ihre Ersetzbarkeit durch Tiermediziner und Tiermediziner mit dem Hinweis auf ihre Ersetzbarkeit durch Humanmediziner von der Befreiung auszuschließen. Wie bei der Fallgruppe der Befreiung von Rechtsanwälten bei nicht anwaltlichen Arbeitgebern zeigt der Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, dass die Zugrundelegung "klassischer" Berufsbilder heute nicht mehr zu Ergebnissen ausreichender Schärfe führt. Auch wenn es selbstverständlich immer noch die hergebrachte Kleintierpraxis zur Behandlung von Hunden und Katzen oder im ländlichen Milieu den für Pferde, Rinder und Schweine zuständigen Tierarzt gibt, können Forschungstätigkeiten ohne individuellen Heilauftrag weder ignoriert noch mit administrativer Deutungshoheit eines Rentenversicherungsträgers aus ärztlichem und tierärztlichem Tätigkeitsfeld, Verantwortungsbereich und Selbstverständnis wegdefiniert werden. Die von der Beklagten herangezogene Rechtsprechung zu einem Pharmareferenten kann nicht überzeugen. Diese Tätigkeit ist von ärztlicher Tätigkeit viel weiter entfernt als die Aufgabe der Klägerin, weist eine offenkundig kommerzielle Prägung auf und kann in der Tat zwanglos auch Pharmakologen oder Naturwissenschaftlern anvertraut werden. Die gebotene Kenntnisnahme vom Vorbringen der Klägerin und die Würdigung des besonderen Charakters ihrer Tätigkeit hätte bereits im Verwaltungsverfahren zu der Rechtsfolge geführt, die nun das Gericht aussprechen muss: Die Beklagte hat die begehrte Befreiung von der Versicherungspflicht auszusprechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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