S 12 KA 161/13

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
12
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 12 KA 161/13
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KA 3/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ist der Umfang der Akupunkturleistungen bei Anerkennung einer Praxisbesonderheit im vollen Umfang geeignet, die verbleibenden Überschreitungswerte der Sonderleistungen unter die 40 %-Grenze für eine offensichtliche Unwirtschaftlichkeit zu verändern, so reicht es nicht aus, lediglich auf unzureichende diagnostische Angaben abzustellen, ohne dies näher zu konkretisieren bzw. eine Schätzgrundlage für den Umfang der angenommenen Unwirtschaftlichkeit anzugeben.
2. Als atypische Leistungen in der Gruppe der Hausärzte können Akupunkturleistungen im Wege einer repräsentativen Einzelfallprüfung, ggf. mit Hochrechnung, geprüft werden. Die vom Arzt angefertigten Qualitätsberichte sind heranzuziehen und auszuwerten.
1. Unter Aufhebung des Bescheids des Beklagten vom 07.02.2013 wird der Beklagte verpflichtet, den Kläger über seinen Widerspruch unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

2. Der Beklagte hat die Gerichtskosten und die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.

3. Der Streitwert wird auf 18.046,81 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um eine Honorarkürzung im Bereich der Sonderleistungen (LG 8) für die drei Quartale II bis IV/07 in Höhe von 32.776,61 EUR vor Quotierung bzw. 18.046,81 EUR quotiert.

Der Kläger ist als Arzt für Allgemeinmedizin mit Praxissitz in A-Stadt seit Februar 1991 zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Er führt die Zusatzbezeichnungen Homöopathie, Anthroposophische Medizin und Akupunktur.

In den streitbefangenen Quartalen entwickelten sich die Fallkosten des Klägers (Kl.) im Vergleich zu seiner Fachgruppe der Allgemeinärzte und hausärztlich tätigen Internisten (VG.) wie folgt.

Quartal I/07 II/07 III/07 IV/07
Anzahl Praxen/Ärzte 3.048/3.922 3.033/3.903 3.017/3.899 3.012/3.936,5
Fallzahl Kl./VG. 890/1.144 891/1.115 951/1.115 882/1.151
Rentneranteil in % Kl./VG. 24/34 25/35 24/36 23/35
Fallkosten gesamt in EUR Kl./VG. 81,48/65,48 85,35/64,26 88,00/64,06 96,93/65,16
Überschreitung in EUR 16,00 21,09 23,94 31,77
Überschreitung in % 24 33 37 49

LG 8
Fallkosten gesamt in Punkten Kl./VG. 486,5/141,2 688.6/134,4 744,6/134,6 899,8/136,7
Überschreitung in Punkten 345,3 554,2 610,0 763,1
Überschreitung in % 245 412 453 558

Nr. 30791 EBM
Ausf. Praxen P1 P2 P3 P4
Fallkosten gesamt in Punkten Kl./Ausf. Praxen 234,1/50,5 416,4/68,7 540,1/63,4 550,7/66,1
Auf 100 Fälle Kl./Ausf. Praxen 49/11 87/14 113/13 115/14

Nr. 30790 EBM
Ausf. Praxen P5 P6 P7 P8
Kl. absolut 66 101 49 98
Auf 100 Fälle Kl./Ausf. Praxen 7/1 11/2 5/1 11/1

Die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen Hessen führte von Amts wegen ein Prüfverfahren für die Quartale I bis IV/07 bzgl. der Sonderleistungen durch, was sie dem Kläger mit Schreiben vom 01.11.2010 mitteilte.

Zu dem Prüfverfahren führte der Kläger mit Datum vom 30.11.2010 aus, er erhalte auch Überweisungen zur Akupunktur und sei schmerztherapeutisch tätig. Soweit eine Akupunktur nicht durchgeführt werden könne, komme eine Leistung nach Nr. 02360 EBM (Behandlung mit Lokalanästhetika) in Betracht. Schmerzpatienten bräuchten Gespräche (Nr. 35110/35100 EBM). Die KV habe dies als Praxisbesonderheit anerkannt. Aufgrund seiner Spezialisierung suchten ihn vermehrt Patienten mit den entsprechenden Krankheitsbildern auf. Er erziele Ersparnisse in anderen Bereichen, u. a. auch im Bereich der Arzneimittelverordnungen und der Verordnung von Heilmitteln.

Die Prüfungsstelle setzte mit Bescheid vom 20.06.2011 folgende Honorarkürzungen pro Fall (vor Quotierung) in Bezug auf die Sonderleistungen (LG 8) fest:
Quartal I/09 II/09 III/09 IV/09 Gesamt
Kürzung in EUR pro Fall 3,10 14,50 17,40 25,00
Kürzung in Punkten gesamt 54.023,0 252.865,8 323.815,5 431.474,4
Kürzung in EUR gesamt 2.759,00 12.919,50 16.547,40 22.050,00 54.275,90

Sie führte einen statistischen Kostenvergleich durch. Als Besonderheit sei die Akupunktur (Nr. 30790, 30791 EBM) zu berücksichtigen. Diese Leistungen machten 12,61 EUR (I/07), 23,05 EUR (II/07), 26,43 EUR (III/07) bzw. 30,11 EUR (IV/07) pro Fall aus. Diese Leistungen könnten jedoch nicht vollumfänglich als Besonderheit anerkannt werden, da als Begründung auf den Krankenscheinen z. T. "Schmerzen, nicht näher bezeichnet" oder Radikulopathie" angegeben würde. Es gebe nur sehr wenige Überweisungen zur Akupunktur, nämlich nur 3 (I/07), 1 (II/07), 3 (III/07) bzw. 8 (IV/07). Auch bei den Leistungen nach Nr. 35110 EBM seien Einsparmöglichkeiten ersichtlich. Aufgrund der Einsparungen bei Drittleistungen und der teilweisen Anerkennung der Akupunktur werde dem Kläger ein Mehrbetrag von + 200 % belassen.

Hiergegen legte der Kläger am 11.07.2011 Widerspruch ein. Zur Begründung trug er vor, die Prüfungsstelle habe beispielhaft 92 Behandlungsfälle überprüft, unter denen sich 24 Akupunktur-Behandlungsfälle befunden hätten. Zu der Indikation werde er die "Fragebögen für den Schmerzpatienten" vorlegen. Bei 22 Behandlungsfällen sei die Leistung nach Nr. 35110 EBM erbracht worden. Die Diagnose rechtfertige jeweils diese Leistung. Er erbringe insb. Leistungen aus dem Bereich Homöopathie, anthroposophische Medizin und Akupunktur und behandle insb. Schmerzpatienten. Seine Patientenschaft unterscheide sich deshalb von der der Fachgruppe. Er habe kompensatorische Einsparungen. Ein wesentlicher Teil seiner Patienten stamme aus dem arabisch sprechenden Raum bzw. Pakistan/Afghanistan. Der angefochtene Bescheid gebe nicht an, in welchem Umfang er die Besonderheiten und Ersparnisse anerkenne.

In der Prüfsitzung am 12.09.2012 schloss der Beklagte mit dem Kläger einen Vergleich, wonach für das Quartal I/07 kein Regress, für die übrigen Quartale der Regress auf 2.740,00 EUR, 3.068,00 EUR und 4.491,00 EUR netto festgesetzt wurde. Diesen Vergleich widerrief der Kläger.

Der Beklagte hob mit Bescheid vom 07.02.2013, dem Kläger am 08.02.2013 zugestellt, auf Grund des Beschlusses vom 12.09.2012 den Regress für das Quartal I/07 auf und reduzierte den Regress für die übrigen Quartale auf 6.869,61 EUR, 10.014,00 EUR und 15.893,00 EUR. Im Übrigen wies er den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Er ging vom Vorliegen eines offensichtlichen Missverhältnisses bei einer Überschreitung der Abrechnungswerte der Vergleichsgruppe von mehr als 40 bis 50 % aus. Bereits die Prüfungsstelle habe im Wege der Schätzung vor Berechnung der Kürzungsbeträge bzgl. eines Teils der Akupunkturleistungen eine Praxisbesonderheit anerkannt und einen entsprechenden Mehrbetrag unter Berücksichtigung einer Gegenüberstellung mit den (anderen) ausführenden Ärzte der Fachgruppe "herausgerechnet". Auch unter Berücksichtigung der Abschätzung dieser Praxisbesonderheiten verbleibe eine Überschreitung in der Leistungsgruppe 8 im Vergleich zur Fachgruppe um weit mehr als 40 % und damit eine Überschreitung im Bereich des offensichtlichen Missverhältnisses. Der Arzt müsse deshalb nachweisen, dass seine Behandlungs- und Abrechnungsweise nicht unwirtschaftlich gewesen sei. Dieser Nachweis sei dem Kläger nicht gelungen. Die festzustellenden Überschreitungswerte seien auf die zu häufige Abrechnung der Leistungen nach Nr. 30790 und 30791 EBM zurückzuführen. Die Akupunktur könne nur unter bestimmten engen Voraussetzungen bei bestimmten Diagnosen abgerechnet werden. Als Begründung werde noch zum Teil lediglich "Schmerzen, nicht näher bezeichnet" oder "Radikulopatie" angegeben. Solchen Diagnosen allein sei der Ansatz von Akupunkturleistungen nicht zu rechtfertigen. Der Kläger sei auch nicht übermäßig häufig auf Überweisung anderer Ärzte tätig geworden. Er gestehe dem Kläger einen Mehrbetrag von + 300 % zu. Hieraus folge die Aufhebung der Honorarkürzung im Quartal I/07 sowie die tenorierten reduzierten Regressbeträge.

Hiergegen hat der Kläger am 08.03.2013 die Klage erhoben. Der Kläger trägt ergänzend zu seinem Vorbringen im Widerspruchsverfahren vor, der Beklagte habe es unterlassen, den Sachverhalt hinsichtlich der Praxisbesonderheit "Akupunktur" aufzuklären. Auf Grund seines Vortrages hätte ihm sich aufdrängen müssen, dass sich sein Patientengut wesentlich von derjenigen der Vergleichsgruppe unterscheide, da er nämlich insbesondere für den Bereich der Schmerztherapie mittels Akupunktur einen überregionalen Versorgungsschwerpunkt habe. Die Aufnahmebögen sämtlicher Akupunkturpatienten hätten zur Einsichtnahme dem Beklagten zur Verfügung gestanden. Der Beklagte hätte im Einzelnen feststellen müssen, in welchem Umfang unter Berücksichtigung der von ihm anerkannten Effekte Leistungen wirtschaftlich erbracht worden seien. Erst nach Abzug dieses Anteils hätte dann die Vergleichsprüfung nach Durchschnittswerten erfolgen dürfen.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 07.02.2013 insoweit aufzuheben, als der Beklagte noch für die Quartale II bis IV/07 einen Honorarregress festgesetzt hat und den Beklagten zu verpflichten, ihn bzgl. seines Widerspruchs bzgl. der Quartale II bis IV/07 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er trägt unter Verweis auf seine Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid ergänzend vor, er habe das Widerspruchsvorbringen des Klägers gewürdigt. Die Anforderungen an die Begründung dürften aber nicht überspannt werden. Der Vortrag des Klägers lasse lediglich darauf schließen, dass bestimmte Leistungen von seinen Patienten verstärkt nachgefragt würden. Es sei nicht ersichtlich, wieso das von dem Kläger genannte Klientel einen erhöhten medizinischen Bedarf an Akupunkturleistungen haben sollte. Die Herkunft der Patienten könne eine Praxisbesonderheit nicht begründen. Es obliege dem Kläger, seinen Patientenstamm systematisch aufzubereiten und die Strukturen darzustellen, die Praxisbesonderheiten rechtfertigten. Der Kläger habe einen Kausalzusammenhang zwischen seiner Behandlungsweise den Einsparungen in anderen Bereichen nicht nachweisen können. Die pauschale Angabe einer Radikulopathie reiche nicht aus. Es komme deshalb nicht darauf an, ob in der mündlichen Anhörung die von den Patienten ausgefüllten Fragebögen hätten vorgelegt werden können, was sich im Übrigen aus den Niederschriften nicht ergebe. Die Dokumentation hätte in der Abrechnung erfolgen müssen. Notwendig sei auch eine ärztliche Dokumentation. Im Übrigen hätte der Kläger in den Widerspruchsverfahren die Unterlagen rechtzeitig einreichen können.

Die Kammer hat mit Beschluss vom 13.03.2013 die Beiladung ausgesprochen.

Die übrigen Beteiligten haben sich zum Verfahren schriftsätzlich nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichts- und beigezogenen Verwaltungsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer hat in der Besetzung mit einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten und einer ehrenamtlichen Richterin aus den Kreisen der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Die Kammer konnte dies auch in Abwesenheit der Beigeladenen zu 1) und 3) bis 8) tun, weil diese ordnungsgemäß geladen wurden.

Den in der mündlichen Verhandlung unter Widerrufsvorbehalt geschlossenen Vergleich hat der Kläger am 30.09.2013 innerhalb der Widerrufsfrist widerrufen.

Die Klage ist zulässig, denn sie ist insbesondere form- und fristgerecht bei dem zuständigen Sozialgericht erhoben worden.

Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 07.02.2013 ist, soweit er noch angefochten wird, rechtswidrig und war daher insoweit aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, ihn über seinen Widerspruch unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Bescheid des Beklagten vom 07.02.2013 ist rechtswidrig.

Gegenstand des Verfahrens ist nur der Bescheid des Beklagten, nicht auch der des Prüfungsausschusses. In Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung des Beschwerdeausschusses. Dieser wird mit seiner Anrufung für das weitere Prüfverfahren ausschließlich und endgültig zuständig. Sein Bescheid ersetzt den ursprünglichen Verwaltungsakt des Prüfungsausschusses, der abweichend von § 95 SGG im Fall der Klageerhebung nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird. Eine dennoch gegen diesen Bescheid erhobene Klage ist unzulässig (vgl. BSG, Urt. v. 19.06.1996 - 6 RKa 40/95 - SozR 3-2500 § 106 Nr. 35 = NZS 1997, 135 = USK 96134, zitiert nach juris Rdnr. 12; BSG, Urt. v. 28.06.2000 - B 6 KA 36/98 R - USK 2000-165, juris Rdnr. 14).

Im System der gesetzlichen Krankenversicherung nimmt der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Arzt - Vertragsarzt - die Stellung eines Leistungserbringers ein. Er versorgt die Mitglieder der Krankenkassen mit ärztlichen Behandlungsleistungen, unterfällt damit auch und gerade dem Gebot, sämtliche Leistungen im Rahmen des Wirtschaftlichen zu erbringen. Leistungen, die für die Erzielung des Heilerfolges nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, darf er nach dem hier anzuwendenden Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch, gesetzliche Krankenversicherung, in der hier maßgebenden Fassung des Gesetzes vom 14.11.2003 (BGBl. I, 2190) bzw. v. 26.03.2007 (BGBl. I 378) (§ 12 Abs. 1 SGB V) nicht erbringen.

Rechtsgrundlage für Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise ist § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V i.V.m. der Prüfvereinbarung. Danach wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten beurteilt. Nach den hierzu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist die statistische Vergleichsprüfung die Regelprüfmethode. Die Abrechnungs- bzw. Verordnungswerte des Arztes werden mit denjenigen seiner Fachgruppe - bzw. mit denen einer nach verfeinerten Kriterien gebildeten engeren Vergleichsgruppe - im selben Quartal verglichen. Ergänzt durch die sog. intellektuelle Betrachtung, bei der medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden, ist dies die Methode, die typischerweise die umfassendsten Erkenntnisse bringt. Ergibt die Prüfung, dass der Behandlungsaufwand des Arztes je Fall bei dem Gesamtfallwert, bei Sparten- oder bei Einzelleistungswerten in offensichtlichem Missverhältnis zum durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe steht, d. h., ihn in einem Ausmaß überschreitet, das sich im Regelfall nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lässt, hat das die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit (vgl. BSG, Urt. vom 16. Juli 2003 - Az: B 6 KA 45/02 R, SozR 4-2500 § 106 Nr. 3 = Breith 2004, 13, zitiert nach juris, Rdnr. 17 m. w. N.).

Von welchem Grenzwert an ein offensichtliches Missverhältnis anzunehmen ist, entzieht sich einer allgemein verbindlichen Festlegung (vgl. BSG, Urteil vom 15.03.1995 - Az: 6 RKa 37/93, BSGE 76, 53 = SozR 3 2500 § 106. Nr. 26 = NZS 1996, 33 = NJW 1996, 2448 = USK 9573, juris Rdnr. 18). Nach der Rechtsprechung des BSG liegt zwischen dem Bereich der normalen Streuung, der Überschreitungen um bis zu ca. 20 % erfasst, und der Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis der Bereich der Übergangszone. Die Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis hat das BSG früher bei einer Überschreitung um ca. 50 % angenommen. Seit längerem hat es - unter bestimmten Voraussetzungen - niedrigere Werte um ca. 40 % ausreichen lassen. Die Prüfgremien haben einen Beurteilungsspielraum, die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis höher oder niedriger festzulegen. Vor diesem Hintergrund hat das BSG es nicht ausgeschlossen, dass Überschreitungen um 42, 38, 33 und 31 % möglicherweise dem Bereich des sog. offensichtlichen Missverhältnisses zugeordnet werden können (vgl. BSG, Urteil vom 06.09.2000 - Az: B 6 KA 24/99 R, SozR 3-2500 § 106 Nr. 50 = USK 2000-171, juris Rdnr. 24). Bei Arztgruppen mit engem Leistungsspektrum darf eine Grenzziehung bei Überschreitungen der Durchschnittswerte der Vergleichsgruppe um +40 % oder weniger vorgenommen werden (vgl. BSG, Urteil vom 16.07.2003 - Az: B 6 KA 45/02 R, SozR 4-2500 § 106 Nr. 3 = Breith 2004, 13, juris Rdnr. 26). Bei einer Arztgruppe mit einem engen Leistungsspektrum, das gegen größere Unterschiede bei den durchschnittlichen Fallkosten der einzelnen Praxen spricht, ist es unter Umständen zu vertreten, die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis bereits bei einer Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts um 40 % festzusetzen (vgl. BSG, Urteil vom 02.06.1987 - Az: 6 RKa 23/86, aaO., juris Rdnr. 23). Von daher war es nicht zu beanstanden, dass der Beklagte vom Vorliegen eines offensichtlichen Missverhältnisses bei Überschreitungen von mehr als 40 % gegenüber den Vergleichwerten der Fachgruppe ausgeht.

Ein statistischer Kostenvergleich kann dann nicht durchgeführt werden, wenn die Fallzahl des zu prüfenden Arztes so gering ist, als sie (Fall-)Zahlenbereiche unterschreitet, unterhalb derer ein statistischer Vergleich nicht mehr aussagekräftig ist. Dies ist bei der klägerischen Praxis für den streitbefangenen Zeitraum nicht der Fall (vgl. BSG, Urt. vom 09.09.1998 - Az: B 6 KA 50/97 R - SozR 3-2500 § 106 Nr. 45 = NZS 1999, 310 = Breith 1999, 664 = USK 98174, juris Rdnr. 15 bis 19).

Als Praxisbesonderheiten des geprüften Arztes kommen nur solche Umstände in Betracht, die sich auf das Behandlungs- oder Verordnungsverhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe typischerweise nicht oder nicht in derselben Häufigkeit anzutreffen sind. Für die Anerkennung einer Praxisbesonderheit ist es deshalb nicht ausreichend, dass bestimmte Leistungen in der Praxis eines Arztes erbracht werden. Vielmehr muss substantiiert dargetan werden, inwiefern sich die Praxis gerade in Bezug auf diese Merkmale von den anderen Praxen der Fachgruppe unterscheidet (vgl. BSG, Urt. v. 21.06.1995 - 6 RKa 35/94 - SozR 3-2500 § 106 Nr. 27 = USK 9588 = NZS 1996, 583, juris Rdnr. 16). Die betroffene Praxis muss sich nach der Zusammensetzung der Patienten und hinsichtlich der schwerpunktmäßig zu behandelnden Gesundheitsstörungen vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe unterscheiden, und diese Abweichung muss sich gerade auf die überdurchschnittlich häufig erbrachten Leistungen auswirken (vgl. BSG, Urt. v. 23.02.2005 - B 6 KA 79/03 R - USK 2005-108, juris Rdnr. 20). Ein bestimmter Patientenzuschnitt kann z. B. durch eine spezifische Qualifikation des Arztes, etwa aufgrund einer Zusatzbezeichnung bedingt sein kann (vgl. BSG, Urt. v. 06.09.2000 - B 6 KA 24/99 R - SozR 3-2500 § 106 Nr. 50 = USK 2000-171, juris Rdnr. 18). Es muss sich um Besonderheiten bei der Patientenversorgung handeln, die vom Durchschnitt der Arztgruppe signifikant abweichen und die sich aus einem spezifischen Zuschnitt der Patientenschaft des geprüften Arztes ergeben, der im Regelfall in Wechselbeziehung zu einer besonderen Qualifikation des Arztes steht. Ein Tätigkeitsschwerpunkt allein stellt nicht schon eine Praxisbesonderheit dar (vgl. BSG, Urt. v. 06.05.2009 - B 6 KA 17/08 R - SozR 4-2500 § 106 Nr. 23 = USK 2009-35 = Breith 2010, 4 = NZS 2010, 521, juris Rdnr. 27).

Unter Beachtung dieser Grundsätze ist der angefochtene Beschluss zu beanstanden.

Der Beklagte geht zwar vom Vorliegen einer Praxisbesonderheit aufgrund der Akupunkturleistungen aus, unterlässt es aber, hinreichend die Schätzgrundlagen für den wirtschaftlichen Bereich dieser besonderen Leistungen anzugeben. Auch erfolgt keine Bereinigung der statistischen Vergleichswerte aufgrund der anerkannten Praxisbesonderheiten. Stattdessen wird lediglich pauschal ein Mehrbetrag von + 300 % zugestanden. Eine Nachprüfung ist angesichts der fehlenden Begründung weder dem Kläger noch der Kammer möglich. Es fehlen jegliche Anhaltspunkte zur Begründung des anerkannten und des nicht anerkannten Umfangs. Soweit der Beklagte darauf abstellt, die festzustellenden Überschreitungswerte seien auf die zu häufige Abrechnung der Leistungen nach Nr. 30790 und 30791 EBM zurückzuführen, führt er letztlich einen statistischen Kostenvergleich dieser Leistungen durch, obwohl diese Leistungen von weniger als 1/3 der Ärzte der Vergleichsgruppe erbracht werden. Damit handelt es sich um atypische Leistungen, die einer statistischen Vergleichsprüfung nicht zugänglich sind.

Die schmerztherapeutische Tätigkeit des Klägers und in diesem Rahmen die Erbringung von Akupunkturleistungen ist von besonderer Bedeutung. Aus der Anzahl- und Summenstatistik ergeben sich folgende Abrechnungswerte bzw. hypothetisch bereinigte Abrechnungswerte:

Quartal I/07 II/07 III/07 IV/07
Anzahl Praxen/Ärzte 3.048/3.922 3.017/3.899 3.012/3.936,5
LG 8
Fallkosten gesamt in Punkten Kl./VG. 486,5/141,2 688.6/134,4 744,6/134,6 899,8/136,7
Fallkosten gesamt in EUR Kl./VG. 24,85/7,22 35,19/6,87 38,05/6,88 45,98/6,99
Kl. Akupunktur in EUR (nach Anl. 2) 15,98 27,42 30,39 34,16 Kl. nach Abzug Akupunktur 8,87 7,77 7,66 11,82
Überschreitung in EUR 1,65 0,90 0,78 4,83
Überschreitung in % 23 13 11 69

Der Umfang der Akupunkturleistungen ist bei Anerkennung einer Praxisbesonderheit im vollen Umfang durchaus geeignet, die verbleibenden Überschreitungswerte unter die 40 %-Grenze für eine offensichtliche Unwirtschaftlichkeit zu verändern. Im angefochtenen Bescheid des Beklagten wird lediglich auf unzureichende diagnostische Angaben abgestellt, ohne dies näher zu konkretisieren bzw. eine Schätzgrundlage für den Umfang der angenommenen Unwirtschaftlichkeit anzugeben.

Bei einer Neubescheidung kann der Beklagte den Umfang der anzuerkennenden Praxisbesonderheit im Wege einer repräsentativen Einzelfallprüfung, ggf. mit Hochrechnung, ermitteln. Die Werte des Klägers der LG 8 sind anschließend entsprechend zu bereinigen. Oder aber der Beklagte nimmt eine repräsentative Einzelfallprüfung unmittelbar der Akupunkturleistungen vor. In jedem Fall hat er dabei die vom Kläger angefertigten Qualitätsberichte heranzuziehen und auszuwerten.

Nach allem war der angefochtene Beschluss, soweit er noch angefochten wird, aufzuheben und der Klage stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. Kosten der Beigeladenen sind nicht zu erstatten, da sie keinen Antrag gestellt und sich im Verfahren nicht geäußert haben.

Die Streitwertfestsetzung erfolgte durch Beschluss des Vorsitzenden.

In Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach den sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Bietet der Sach- und Streitwert für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, so ist ein Streitwert von 5.000,00 Euro anzunehmen (§ 52 Abs. 1 und 2 GKG). Der Streitwert folgte aus dem strittigen Nettoregressbetrag.
Rechtskraft
Aus
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