L 8 U 2319/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 15 U 4419/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 U 2319/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 08.05.2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger im Anschluss an eine Verletztenrente für einen Gesamtvergütungszeitraum rückwirkend ab 01.07.2008 weitere Rente aufgrund eines Arbeitsunfalls am 28.06.2006 zusteht.

Der 1973 geborene Kläger erlitt als Radfahrer am 28.06.2006 einen versicherten Wegeunfall, bei dem er sich eine geschlossene Humerusfraktur mit Ausriss des Tuberculum majus rechts zuzog. Als Folge eines 1988 operierten Kleinhirnastrozytoms leidet der Kläger unfallvorbestehend an einer Kraftminderung der rechten Hand mit Verschmächtigung der rechten Handbinnenmuskulatur.

In dem von der Beklagten veranlassten Gutachten von Dr. C. vom 22.01.2007 wurde auf der Grundlage der als unfallbedingt beurteilten endgradigen Bewegungseinschränkungen der rechten Schulter nach knöchern verheilter subcapitaler Humerusfraktur mit Abriss der langen Bizepssehne rechts und Muskelminderung am rechten Schultergürtel und Oberarm eine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v.H. vom 02.10.2006 bis 21.01.2007 angenommen. Mit Abhilfebescheid vom 14.03.2007, der den Ausgangsbescheid vom 07.02.2007 abänderte, gewährte die Beklagte dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. in der Form einer Gesamtvergütung für den Zeitraum vom 03.10.2006 bis 30.06.2007. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Am 12.07.2007 beantragte der Kläger - telefonisch - bei der Beklagten die Weitergewährung der Rente über den Gesamtvergütungszeitraum hinaus. Die Beklagte holte das Gutachten von Dr. C. vom 24.08.2007 ein. Danach habe sich die Seitwärtshebung des rechten Arms im Vergleich zur Voruntersuchung gebessert, die übrigen Schulterfunktionen hätten sich jedoch nicht wesentlich verändert. Eine Besserung sei in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Der Gutachter schlug vor, bis zum Abschluss des zweiten Unfalljahres weiterhin Rente nach einer MdE um 20 v.H. zu gewähren. Auf der Grundlage der beratungsärztlichen Stellungnahme von Dr. Schm. vom 10.09.2007 lehnte die Beklagte die Weitergewährung der Rente über den Gesamtvergütungszeitraum hinaus ab (Bescheid vom 26.09.2007). Der hiergegen eingelegte Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 22.11.2007). In dem nachfolgenden Klageverfahren (S 14 U 5746/07) vor dem Sozialgericht Karlsruhe (SG) schlossen die Beteiligten einen Vergleich, in dem sich die Beklagte (u.a.) zur Zahlung einer Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. bis 30.06.2008 und Neubescheidung nach Einholung eines weiteren Gutachtens für den Folgezeitraum verpflichtete. Mit Bescheid vom 26.11.2008 führte die Beklagte den Vergleich aus.

Im orthopädischen Gutachten von Dr. B. vom 18.12.2008 wurde die unfallbedingte MdE auf 10 v.H. eingeschätzt. Eine objektivierbare Kraftminderung im rechten Arm als Folge der Bizepssehnenruptur sei nicht mehr festzustellen. Mit Bescheid vom 21.01.2009 lehnte die Beklagte die Weitergewährung der Rente über den 30.06.2008 hinaus ab. Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 28.05.2009) und Klage (Urteil vom 01.06.2011 – S 15 U 2672/09 -) blieben ohne Erfolg. Im Klageverfahren war das orthopädische Gutachten von Dr. H. vom 03.11.2010 eingeholt worden, der in Übereinstimmung zu den Befunden von Dr. B. eine unfallbedingte MdE um 15 v.H., nach erfolgreicher Therapie eine MdE von unter 10 v.H., annahm. Die gegen das Urteil des SG zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegte Berufung (L 8 U 2648/11) nahm der Kläger zurück.

Aufgrund Verordnung von PD Dr. K. vom 13.01.2012, der auch den Durchgangsarztbericht vom gleichen Tag erstellt hatte, erhielt der Kläger der Empfehlung von Dr. H. folgend Krankengymnastik/physikalische Therapie. Mit Schreiben vom 08.05.2012 beantragte er nach § 44 Sozialgesetzbuch (SGB) X die Überprüfung des Sachverhalts und Zahlung einer Verletztenrente. Entgegen der Prognose von Dr. H. bestünden nach der durchgeführten Chirotherapie seine Probleme fort. Dr. A. diagnostizierte am 25.06.2012 beim Kläger eine posttraumatische Schultersteife rechts (H-Arzt-Bericht vom 25.06.2012). Der Radiologe Dr. W. beschrieb als Befund der durchgeführten Magnetresonanztomographie (MRT) vom 25.06.2012 eine knöchern konsolidierte subcapitale Humerusfraktur, eine intakte Rotatorenmanschette bei relativ dünner langer Bizepssehne, eine Bursitis subacromiale/deltoidea sowie eine mäßige Arthrose im Acromio-Clavicular-Gelenk mit "etwas Impingement" (Bericht vom 25.06.2012). In dem von der Beklagten veranlassten Gutachten vom 03.09.2012 beurteilte Dr. C. die unfallbedingte MdE mit 20 v.H. Die von Dr. B. , Dr. H. und PD Dr. K. ermittelte Schulterfunktion rechts ergebe nach dem 23.08.2007 eine Besserung und ab 12.12.2008 dagegen eine kontinuierliche Verschlimmerung.

Mit Bescheid vom 19.09.2012 gewährte die Beklagte Verletztenrente ab 01.07.2012 nach einer MdE um 20 v.H. als Rente auf unbestimmte Zeit. Die Rücknahme des Bescheids vom 21.01.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.05.2009, mit dem Rente ab 01.07.2000 abgelehnt worden war, wurde abgelehnt. Der Widerspruch des Klägers vom 08.10.2012, der auf die Bewertung der Zeit vom 01.07.2008 bis 30.06.2012 beschränkt war, wurde mit Widerspruchsbescheid vom 22.11.2000 zurückgewiesen.

Der am 06.12.2012 beim SG erhobenen Klage wurde mit Urteil vom 08.05.2013 insoweit stattgegeben, als die Beklagte verurteilt wurde, dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. auch für die Zeit vom 25.06.2012 bis 30.06.2012 zu gewähren. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen.

Gegen das dem Kläger am 18.05.2013 zugestellte Urteil hat er am 03.06.2013 beim Landessozialgericht Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, seine Beschwerden seien seit dem Unfall vorhanden und im zeitlichen Verlauf sei keine Besserung eingetreten. Dr. A. sei der erste Arzt gewesen, der eine MRT-Aufnahme veranlasst habe. Die Beklagte führe immer wieder aus, dass erst ab dem Zeitpunkt der Untersuchung bei Dr. A. eine Verschlechterung eingetreten sei, dies widerspreche jedoch seinem Beschwerdebild. Er hat auf die vorgelegte ärztliche Bescheinigung des Internisten und Schmerztherapeuten I. vom 14.02.2013 verwiesen, wonach er 20 Behandlungen im Jahre 2012 verabreicht habe.

Der Kläger beantragt (sinngemäß), das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 08.05.2013 und den Bescheid der Beklagten vom 19.09.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.11.2012 abzuändern und unter Rücknahme des Bescheides der Beklagten vom 21.01.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.05.2009 die Beklagte zu verurteilen, ihm auch Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. für den Zeitraum vom 01.07.2008 bis 24.06.2012 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf das Gutachten von Dr. C. vom 03.09.2012, in dem er eine nach 23.08.2007 eingetretene Besserung der Schulterfunktion beschreibe, die sich ab dem 12.12.2008 kontinuierlich wieder verschlimmert habe. Eine rentenberechtigende Verschlimmerung sei erst für das Jahr 2012 festzustellen. Im vorangegangenen Verwaltungsverfahren sei ein Rentenanspruch nach dem 30.06.2008 verneint worden, der Kläger habe seine Berufung damals beim Landessozialgericht zurückgenommen.

Mit richterlicher Verfügung vom 19.09.2013 sind die Beteiligten auf die Möglichkeit einer Entscheidung nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter hingewiesen worden und haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Der Kläger hat in der Folge mit Schriftsatz vom 15.10.2013 den Befundbericht von Dr. A. vom 25.06.2012 von vorgelegt.

Der Senat hat die Verwaltungsakten der Beklagten und die das vorliegende Klageverfahren betreffende Akte des Sozialgerichts sowie die Akte des Landessozialgerichts im Berufungsverfahren L 8 U 2648/11 beigezogen. Auf diese Unterlagen und die vor dem Senat angefallene Berufungsakte wird wegen weiterer Einzelheiten Bezug genommen.

II

Der Senat konnte über die Berufung des Kläger gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss entscheiden, da er diese einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind auf diese beabsichtigte Vorgehensweise mit richterlicher Verfügung vom 19.09.2013 hingewiesen worden. Gründe, die der Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG entgegenstehen, sind nicht vorgetragen worden.

Der Senat hat den Berufungsantrag des Klägers nach seinem erkennbaren Begehren sinngemäß gefasst.

Dem Kläger steht Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. für den Zeitraum vom 01.07.2008 bis 24.06.2012 nicht zu. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 19.09.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.11.2012 ist insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Der Kläger wendet sich gegen die Rechtmäßigkeit des bestandskräftigen Bescheides vom 21.01.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.05.2009, mit dem Verletztenrente über den 30.06.2008 hinaus abgelehnt worden war. Dieser Bescheid war zum Zeitpunkt seines Erlasses auch bei rückschauender Betrachtung unter Berücksichtigung des aktuellen Sachstandes rechtmäßig. Ein Anspruch auf eine Zugunstenentscheidung nach § 44 SGB X im beantragten Umfang steht dem Kläger daher nicht zu.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Einer Verpflichtungsklage, mit der die Beklagte verpflichtet werden soll, ihren früheren, dem Anspruch entgegenstehenden Bescheid selbst aufzuheben, bedarf es in einem Gerichtsverfahren zur Überprüfung eines Verwaltungsakts nach § 44 SGB X nicht. Richtigerweise kann mit der Anfechtungsklage gegen den eine Zugunstenentscheidung ablehnenden Bescheid zugleich die Aufhebung des früheren, dem Klageanspruch entgegenstehenden (Ausgangs-)Bescheides unmittelbar durch das Gericht verlangt werden (vgl. zum Vorstehenden insgesamt BSG SozR 4-2700 § 8 Nr. 18). Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten letzterer aufzulösen (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr. 24). Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, hat der betroffene Bürger einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsaktes unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (BSGE 51, 139, 141 = SozR 3900 § 40 Nr. 15; BSG SozR 2200 § 1268 Nr. 29). Auch wenn der Versicherte schon wiederholt Überprüfungsanträge nach § 44 SGB X gestellt hat, darf die Verwaltung einen erneuten Antrag nicht ohne Rücksicht auf die wirkliche Sach- und Rechtslage zurückweisen. Entsprechend dem Umfang des Vorbringens des Versicherten muss sie in eine erneute Prüfung eintreten und den Antragsteller bescheiden (BSG SozR 4-2700 § 8 Nr. 18 m.w.N.).

In Anwendung dieser Grundsätze ist die Ablehnungsentscheidung der Beklagten vom 21.03.2009/28.05.2009 rechtlich nicht zu beanstanden, denn auch bei rückschauender Betrachtung ist eine unfallbedingte MdE um wenigstens 20 v.H. über den 30.06.2008 hinaus nicht nachgewiesen. Die MdE-Einschätzung ist, worauf in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteil des SG zutreffend hingewiesen worden ist, auf die allgemeinen Erfahrungssätze im versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum zu stützen. Danach beurteilt sich die MdE bei Beeinträchtigungen des Schultergelenks nach dem funktionellen Ausmaß der durch die Verletzung verursachten Bewegungseinschränkung, wobei die mit der funktionellen Einschränkung üblicherweise verbundenen Schmerzen in dem jeweiligen Bewertungsansatz berücksichtigt sind. Auch für den Senat ist anhand der von Dr. B. , Dr. H. und PD Dr. K. im Verlauf nach 2008 erhobenen Bewegungsmaße nachgewiesen, dass das Ausmaß der Schulterbeweglichkeit in der führenden Funktion der Seitwärts- und Vorhebung nach den einschlägigen Tabellenwerten eine MdE um 20 v.H. nicht rechtfertigte. Nach eigener Prüfung verweist der Senat insoweit auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Urteil des SG (§ 153 Abs. 2 SGG). Diese Beurteilung lässt sich auch dem überzeugenden Gutachten von Dr. C. vom 03.09.2012 entnehmen, der ausdrücklich auf einen Verlauf abstellt, bei dem sich zunächst eine Besserung eingestellt hatte und es ab Dezember 2008 zu einer kontinuierlichen Verschlechterung der Armbeweglichkeit gekommen ist. Dass eine wesentliche Verschlechterung, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt, d.h. vor Juni 2012, eine MdE um 20 v.H. begründet hätte, vor dem ausgeurteilten Zeitpunkt eingetreten ist, ist angesichts des von PD Dr. K. am 13.01.2012 erhobenen Befundes mit den in seinem H-Arzt-Bericht angegebenen Bewegungsmaßen nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen. Die geltend gemachten Beschwerden, weshalb sich der Kläger in schmerztherapeutischer Behandlung befindet bzw. regelmäßig einer Akupunkturbehandlung unterzieht, hat keinem der Sachverständigen Anlass gegeben, für den vergangenen Zeitraum eine rentenrelevante MdE anzunehmen. Abgesehen davon ist dem Gutachten von Dr. B. zu entnehmen, dass der Kläger zwar gleichmäßige Schmerzen über den ganzen Tag angegeben hat, die regelmäßige Behandlung bei Dr. I. mit Akupunktur und gelegentlichen krankengymnastische Übungen wurde jedoch bei Dr. B. auf die Auswirkungen des Astrozytoms bezogen. Den vorgelegten ärztlichen Äußerungen von Dr. A. vom 25.06.2012 und Internist I. vom 14.02.2012 ist für den Zeitraum vor 2012 kein Befund zu entnehmen.

Aus Sicht des Senats kommt es mangels des Nachweises einer durchgehenden unfallbedingten MdE um 20 v.H. auch nicht darauf an, ob der Kläger allein den Antrag nach § 44 SGB X mit seinem Widerspruch weiterverfolgt hatte oder darüber hinaus auch die Wiedergewährung der Verletztenrente hatte anfechten wollen, indem er die Rechtswidrigkeit des Rentenbeginns der nach den Grundsätzen einer Erstfeststellung ausgesprochenen Wiedergewährung der Verletztenrente gerügt hat. Durch den vom LSG angenommenen Zeitpunkt der Wiedergewährung der Verletztenrente ab 25.06.2005 ist der Kläger jedenfalls nicht beschwert.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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