Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
28
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 28 KA 268/11
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Anwendung der Prüfmethode "repräsentative Einzelfallprüfung mit Hochrechnung" ist beurteilungsfehelerhaft, wenn die Gesamtfall nicht wenigstens 50 Behandlungsfälle umfasst.
I. Der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 15.02.2011 wird aufgeho-ben und der Beklagte verurteilt, über den Widerspruch der klägerischen Gemeinschaftspraxis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Verordnung von Ergotherapie zu Lasten der GKV streitig. Der Beklagte hat gegen die klagende Gemeinschaftspraxis aufgrund einer repräsentativen Einzelfallprüfung mit Hochrechnung für das Quartal 1/2008 den von der Prüfungsstelle festgesetzten Regress i.H.v. 1.147,66EUR bestätigt. Die Klägerin ist eine von drei Allgemeinärzten in A-Stadt seit dem 01.07.2005 betriebene hausärztliche Gemeinschaftspraxis, die in dieser Konstellation bis zum 30.06.2010 bestanden hat.
Am 26.01.2009 wurde von den Beigeladenen eine Prüfung der Verordnung von Ergotherapie gem. § 15 Prüfungsvereinbarung (PV) 2008 beantragt.
Die klägerische Praxis überschritt im Quartal 01/2008 mit einem Verordnungsvolumen von 14.491,09 EUR den Durchschnitt der Vergleichsgruppe (bayerische Allgemein-/Praktische Ärzte) um gewichtet 360,3%.
Mit Prüfbescheid vom 19.03.2010 sprach die Prüfungsstelle bei der Verordnung von Ergotherapie einen Regress i.H.v. 10% (1.147,66EUR) für das Quartal 01/2008 aus. Die Prüfungsstelle führte eine repräsentative Einzelfallprüfung mit anschließender Hochrechnung gem. § 15 Abs. 4 PV durch. Von den Kassen seien 15 Verordnungen Ergotherapie der AOK Bayern sowie 10 Verordnungen der DAK eingereicht worden. Aufgrund Verstöße gegen den Heilmittelkatalog sei den Kassen bei zwei Patienten (G.I., F.B.) ein finanzieller Schaden i.H.v. 315EUR und 739EUR entstanden. Die Prüfungsstelle berechnete anhand dieser festgestellten Schäden die Regressquote bezogen auf alle AOK und DAK-Patienten (13,6%). Unter Abzug eines Sicherheitsabschlags von 25% errechnete sie eine allgemeine Regressquote von 10,2%. Abschließend verwies sie auf § 15 Abs. 4 PV, wonach Regresse nur für diejenigen Kassenarten zu vollziehen seien, welche die erforderlichen Unterlagen vorgelegt hätten.
Die Klägerin legte mit Schreiben vom 14.04.2010 Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie u.a. an, dass die Patientin G.I. u.a. an einem bestehenden Bandscheibenvorfall im Cervicalbereich und Schmerzsyndrom leide. Eine alternativ angewendete krankengymnastische Übungsbehandlung hätte bei annähernd gleichen Kosten sicher nicht den an-nähernd gleichen Erfolg gebracht. Zumindest müsse man diese Kosten einer intensiven krankengymnastischen Übungsbehandlung einschließlich Wärmetherapie den hier entstandenen Kosten gegenrechnen. Die Patientin F.B., geb. 1948, leide an schwerer Demenz vom Alzheimer Typ. Von der Klägerin sei auf den Verordnungen als Diagnoseschlüssel "PS5" angegeben worden, hingegen – vermutlich aus Unachtsamkeit – als Heilmittelverordnung "sensomotorische-perzeptive Behandlung". Für diese Heilmittelart hätte richtigerweise die Diagnosegruppe "EN2" angegeben werden müssen. Alternativ hätte bei dem Diagnoseschlüssel "PS5" auch ein "Hirnleistungstraining" bzw. eine psychisch-funktionelle Behandlung verordnet werden können. Es habe sich hier ein kleiner Fehler eingeschlichen; völlig korrekt angegeben seien allerdings die Diagnose und das Therapieziel. Die Klägerin weist darauf hin, dass eine dem Diagnoseschlüssel korrekte Verordnung für die Kasse teurer gewesen wäre.
Mit Widerspruchsbescheid vom 15.02.2011 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.
Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass im Bereich der Verordnung von Ergotherapie der statistische Fallkostenvergleich nach den Durchschnittswerten der Prüfgruppenkollegen keine taugliche und sachgerechte Prüfmethode darstelle. Vielmehr sei eine repräsentative Einzelfallprüfung, die sich im Gegensatz zur strengen Einzelfallprüfung mit den Behandlungsunterlagen und jeweiligen Angaben des Arztes begnüge, sachgerecht und zielführend. Es komme lediglich zu einer Beurteilung der Indikation und/oder zu einer Schlüssigkeitsprüfung, ob die Behandlungsmaßnahme des geprüften Arztes mit den von ihm selbst gestellten Diagnosen übereinstimme. Es sei nur eine repräsentative Auswahl der Verordnungsfälle des Arztes je Quartal zu prüfen. Die Ergebnisse, insbesondere der so ermittelte unwirtschaftliche Verordnungsumfang, würden sodann auf die Gesamtheit der Fälle hochgerechnet. Nach der Rechtsprechung des BSG seien die Prüfgremien berechtigt und verpflichtet, auch andere Prüfmethoden als die der Regelprüfmethode nach Durchschnittswerten anzuwenden oder neu zu entwickeln, wenn sich diese als nicht aussagekräftig oder nicht durchführbar erwiesen. Genau dies sei bei der Verordnungsweise von Ergotherapie der Fall.
Die Kosten der eingereichten Verordnungen der AOK Bayern (15 Verordnungen) und DAK (10 Verordnungen) beliefen sich auf 4.748EUR (AOK) und 2.979EUR (DAK). Bei einem Gesamtkostenanteil von 53% reichten die vorgelegten Rezepte aus, um eine repräsentative Einzelfallprüfung auf deren Wirtschaftlichkeit hin durchführen zu können.
Bei der Patientin G.I. seien die Diagnosen unter dem Indikationsschlüssel "SB1- Wirbelsäulenerkrankungen" zu subsumieren, der als einzig mögliche Anwendungsart eine motorisch-funktionelle Behandlung ohne die Möglichkeit optionaler oder ergänzender Heilmittel vorsehe. Aufgrund falscher Anwendungsart seien die gesamten Kosten der Verordnung abzüglich Zuzahlung der Versicherten in Regress zu stellen (315EUR). Für eine mildere Maßnahme, d.h. Beratung, bleibe kein Raum. Auch eine Gegenrechnung mit den Kosten einer heilmittelkatalogkonformen Therapie könne bei der Verordnung einer komplett falschen Anwendungsart nicht erfolgen.
Auch die Verordnung bei der Patientin F.B. verstoße eindeutig gegen den Heilmittelkatalog und stelle eine falsche Anwendungsart dar. Aufgrund falscher Anwendungsart seien die gesamten Kosten der Verordnung abzüglich Zuzahlung der Versicherten in Regress zu stellen (739EUR). Für eine mildere Maßnahme, d.h. Beratung, bleibe kein Raum. Auch eine Gegenrechnung mit den Kosten einer heilmittelkatalogkonformen Therapie könne bei der Verordnung einer komplett falschen Anwendungsart nicht erfolgen.
Die fehlerhaften Verordnungen führten zu einer Regressmöglichkeit bei 15 AOK und 10 DAK Verordnungen i.H.v. 1.054EUR. Bei Verordnungskosten dieser Rezepte i.H.v. 7.727EUR errechnete der Beklagte eine Regressquote von 13,6%, abzüglich eines Sicherheitsabschlags (25%) eine Regressquote von 10,2%.
Aufgrund der Tatsache, dass sämtliche vorgelegten Rezepte geprüft worden seien, sei eine Hochrechnung und somit eigentlich auch die Gewährung eines Sicherheitsabschlages entbehrlich gewesen. Da ein solcher aber im Prüfbescheid dennoch abgezogen worden sei, belasse es der Beklagte auch unter dem Gesichtspunkt der reformatio in peius (Verböserung) dabei.
Die Klägerin hat am 16.03.2011 Klage beim Sozialgericht München erhoben. Zur Klagebegründung hat sie insbesondere ausgeführt, dass bei einer repräsentativen Einzelfallprüfung nach der Rechtsprechung des BSG mindestens 100 Fälle und zugleich 20% aller Behandlungs- bzw. Verordnungsfälle einzeln geprüft werden müssten. Diese Anforderungen seien nicht erfüllt worden. Es dränge sich der Verdacht auf, dass vorliegend eine strenge Einzelfallprüfung durchgeführt worden sei. Auch das von der Beklagten aufgeführte Aufgreifkriterium (nach Durchschnittswerten) greife vorliegend nicht. Ein Rückgriff auf Praxisbesonderheiten sei im Rahmen der repräsentativen Einzelfallprüfung zulässig.
Die Klägerin und der Beklagte haben in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend erklärt, dass die klägerische Gemeinschaftspraxis im Quartal 01/2008 insgesamt 43 Verordnungen Ergotherapie ausgestellt hat.
Die Klägerin beantragt,
den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 15.02.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, über den Widerspruch der klägerischen Gemeinschaftspraxis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Der Beklagte beantragt
die Klageabweisung.
Er verweist u.a. darauf, dass nach der Rechtsprechung des BSG eine "Vorteilsausgleichung" unberücksichtigt bleiben müsse.
Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestandes auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 15.02.2011 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass der Beklagte über ihren Widerspruch unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu entscheidet.
Die Anwendung der repräsentativen Einzelfallprüfung mit anschließender Hochrechnung stellt sich im vorliegenden Fall als beurteilungsfehlerhaft dar. Zutreffenderweise hätte der Beklagte eine (eingeschränkte) Einzelfallprüfung zur Überprüfung der streitgegenständlichen Verordnungen Ergotherapie durchführen müssen.
Der Beklagte besitzt bei der Wahl der im Einzelfall geeigneten Prüfmethode einen Beurteilungsspielraum. Die Kontrolle des Gerichts ist demnach eingeschränkt, sie beschränkt sich darauf, ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, ob der Verwaltungsentscheidung ein richtiger und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, ob die Verwaltung die durch die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs er-mittelten Grenzen eingehalten und ob sie ihre Subsumtionserwägungen so verdeutlicht und begründet hat, dass im Rahmen des Möglichen die zu treffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist (BSG, Urteil vom 05.08.1992, Az. 14a/6 RKa 4/90, Rn. 30 – juris).
Vorliegend ist der Beklagte zutreffend davon ausgegangen, dass eine Prüfung der ärztlichen Verordnungsweise nach Durchschnittswerten nicht sachgerecht wäre, da grundsätzlich nur sehr wenige Patienten ein Ergotherapierezept erhalten und nicht alle Praxen einer Fachgruppe ergotherapeutische Leistungen verordnen.
Der Beklagte hat aufgrund dieser Erwägungen eine repräsentative Einzelfallprüfung mit Hochrechnung durchgeführt, die in § 15 Abs. 4 der zum 01.01.2008 in Kraft getretenen Prüfungsvereinbarung über das Verfahren zur Überwachung und Prüfung der Wirtschaftlichkeit durch die Prüfungsstelle und den Beschwerdeausschuss Ärzte Bayern nach § 106 SGB V geregelt ist. Danach ist die Prüfung der Verordnungsweise von Heilmitteln in Form einer repräsentativen Einzelfallprüfung durchzuführen (§ 15 Abs. 4 Satz 1 PV). Für jede zu prüfende Praxis sind gem. § 15 Abs. 4 Satz 2 PV von jeder Kassenart alle Verordnungen oder Datensätze mit entsprechendem Inhalt für mindestens 20% der Patienten – jedoch höchstens 100 Patienten – die mit Heilmitteln versorgt wurden, nach Versicherten-nummern je Krankenkasse sortiert vorzulegen. Dementsprechend hat der Beklagte die von der klägerischen Gemeinschaftspraxis zugunsten der Versicherten der AOK und der DAK ausgestellten Ergotherapie Rezepte geprüft. Bei einer Gesamtzahl von 43 Ergotherapie Verordnungen im Quartal 01/2008 wurden 15 Rezepte der AOK und 10 Rezepte der DAK geprüft.
Die vom Beklagten vorgenommene Wahl der Prüfmethode "repräsentative Einzelfallprüfung mit Hochrechnung" ist beurteilungsfehlerhaft. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 08.04.1992, Az. 6 RKa 27/90, Rn. 40 – juris) ist diese Prüfmethode zwar als Beweismethode grundsätzlich geeignet, da bei ihr, ausge-hend von gesicherten Tatsachenfeststellungen, eine statistische Wahrscheinlichkeitsrechnung vorgenommen wird. Um eine mathematisch-statistisch verwertbare Aussage über die gleichgelagerte Verhaltensweise des Arztes zu erhalten, ist es nach Auffassung des BSG jedoch sachgerecht und daher geboten, pro Quartal und Kassenbereich einen prozentualen Anteil von mindestens 20% der abgerechneten Fälle, der jedoch zugleich mindestens 100 Behandlungsfälle umfassen muss, zu überprüfen (BSG, ebenda, Rn. 40). Bei einer niedrigen Gesamtfallzahl kann schon die Prüfung von weniger als 100 Fällen ausreichen (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20.04.1994, Az. L 5 Ka 2126/92, Orientierungssatz 2 – juris). Um jedoch den statistischen Anforderungen an eine Hochrechnung zu genügen, darf eine bestimmte Mindestzahl an Behandlungsfällen nicht unterschritten werden, die bei etwa 50 Behandlungsfällen anzusetzen ist. Bei noch niedrigeren Behandlungsfallzahlen ist eine Hochrechnung aus statistischen Gründen ausgeschlossen; in diesen Fällen kommt allein eine eingeschränkte Einzelfallprüfung in Betracht (vgl. Engelhard in: Hauck/Noftz (Stand 11/2012), SGB V, § 106 Rn. 143, 146).
So liegt es im vorliegenden Fall. Wie die Klägerin und der Beklagte in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend festgestellt haben, hat die klägerische Praxis im Quartal 01/2008 in insgesamt 43 Fällen Ergotherapie verordnet. Diese Gesamtfallzahl ist per se nicht ausreichend, um eine repräsentative Einzelfallprüfung mit anschließender Hochrechnung durchzuführen. Erst recht nicht reichen die 25 von dem Beklagten überprüften Verordnungen, um auf dieser Grundlage bezüglich aller zu Lasten der AOK und des vdek ausgestellten Rezepte hochzurechnen. Aufgrund der fehlerhaften Wahl der Prüfmethode liegt dem streitgegenständlichen Bescheid ein unvollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde. Der Bescheid ist deshalb beurteilungsfehlerhaft.
Der Beklagte ist daher verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin erneut zu entscheiden. Dabei wird er zu beachten haben, dass die streitgegenständlichen Verordnungen Ergotherapie im Rahmen einer Einzelfallprüfung (§ 16 PV) zu überprüfen sind. Eine Hochrechnung ist nicht zulässig.
Nach alledem war der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung basiert auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Verordnung von Ergotherapie zu Lasten der GKV streitig. Der Beklagte hat gegen die klagende Gemeinschaftspraxis aufgrund einer repräsentativen Einzelfallprüfung mit Hochrechnung für das Quartal 1/2008 den von der Prüfungsstelle festgesetzten Regress i.H.v. 1.147,66EUR bestätigt. Die Klägerin ist eine von drei Allgemeinärzten in A-Stadt seit dem 01.07.2005 betriebene hausärztliche Gemeinschaftspraxis, die in dieser Konstellation bis zum 30.06.2010 bestanden hat.
Am 26.01.2009 wurde von den Beigeladenen eine Prüfung der Verordnung von Ergotherapie gem. § 15 Prüfungsvereinbarung (PV) 2008 beantragt.
Die klägerische Praxis überschritt im Quartal 01/2008 mit einem Verordnungsvolumen von 14.491,09 EUR den Durchschnitt der Vergleichsgruppe (bayerische Allgemein-/Praktische Ärzte) um gewichtet 360,3%.
Mit Prüfbescheid vom 19.03.2010 sprach die Prüfungsstelle bei der Verordnung von Ergotherapie einen Regress i.H.v. 10% (1.147,66EUR) für das Quartal 01/2008 aus. Die Prüfungsstelle führte eine repräsentative Einzelfallprüfung mit anschließender Hochrechnung gem. § 15 Abs. 4 PV durch. Von den Kassen seien 15 Verordnungen Ergotherapie der AOK Bayern sowie 10 Verordnungen der DAK eingereicht worden. Aufgrund Verstöße gegen den Heilmittelkatalog sei den Kassen bei zwei Patienten (G.I., F.B.) ein finanzieller Schaden i.H.v. 315EUR und 739EUR entstanden. Die Prüfungsstelle berechnete anhand dieser festgestellten Schäden die Regressquote bezogen auf alle AOK und DAK-Patienten (13,6%). Unter Abzug eines Sicherheitsabschlags von 25% errechnete sie eine allgemeine Regressquote von 10,2%. Abschließend verwies sie auf § 15 Abs. 4 PV, wonach Regresse nur für diejenigen Kassenarten zu vollziehen seien, welche die erforderlichen Unterlagen vorgelegt hätten.
Die Klägerin legte mit Schreiben vom 14.04.2010 Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie u.a. an, dass die Patientin G.I. u.a. an einem bestehenden Bandscheibenvorfall im Cervicalbereich und Schmerzsyndrom leide. Eine alternativ angewendete krankengymnastische Übungsbehandlung hätte bei annähernd gleichen Kosten sicher nicht den an-nähernd gleichen Erfolg gebracht. Zumindest müsse man diese Kosten einer intensiven krankengymnastischen Übungsbehandlung einschließlich Wärmetherapie den hier entstandenen Kosten gegenrechnen. Die Patientin F.B., geb. 1948, leide an schwerer Demenz vom Alzheimer Typ. Von der Klägerin sei auf den Verordnungen als Diagnoseschlüssel "PS5" angegeben worden, hingegen – vermutlich aus Unachtsamkeit – als Heilmittelverordnung "sensomotorische-perzeptive Behandlung". Für diese Heilmittelart hätte richtigerweise die Diagnosegruppe "EN2" angegeben werden müssen. Alternativ hätte bei dem Diagnoseschlüssel "PS5" auch ein "Hirnleistungstraining" bzw. eine psychisch-funktionelle Behandlung verordnet werden können. Es habe sich hier ein kleiner Fehler eingeschlichen; völlig korrekt angegeben seien allerdings die Diagnose und das Therapieziel. Die Klägerin weist darauf hin, dass eine dem Diagnoseschlüssel korrekte Verordnung für die Kasse teurer gewesen wäre.
Mit Widerspruchsbescheid vom 15.02.2011 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.
Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass im Bereich der Verordnung von Ergotherapie der statistische Fallkostenvergleich nach den Durchschnittswerten der Prüfgruppenkollegen keine taugliche und sachgerechte Prüfmethode darstelle. Vielmehr sei eine repräsentative Einzelfallprüfung, die sich im Gegensatz zur strengen Einzelfallprüfung mit den Behandlungsunterlagen und jeweiligen Angaben des Arztes begnüge, sachgerecht und zielführend. Es komme lediglich zu einer Beurteilung der Indikation und/oder zu einer Schlüssigkeitsprüfung, ob die Behandlungsmaßnahme des geprüften Arztes mit den von ihm selbst gestellten Diagnosen übereinstimme. Es sei nur eine repräsentative Auswahl der Verordnungsfälle des Arztes je Quartal zu prüfen. Die Ergebnisse, insbesondere der so ermittelte unwirtschaftliche Verordnungsumfang, würden sodann auf die Gesamtheit der Fälle hochgerechnet. Nach der Rechtsprechung des BSG seien die Prüfgremien berechtigt und verpflichtet, auch andere Prüfmethoden als die der Regelprüfmethode nach Durchschnittswerten anzuwenden oder neu zu entwickeln, wenn sich diese als nicht aussagekräftig oder nicht durchführbar erwiesen. Genau dies sei bei der Verordnungsweise von Ergotherapie der Fall.
Die Kosten der eingereichten Verordnungen der AOK Bayern (15 Verordnungen) und DAK (10 Verordnungen) beliefen sich auf 4.748EUR (AOK) und 2.979EUR (DAK). Bei einem Gesamtkostenanteil von 53% reichten die vorgelegten Rezepte aus, um eine repräsentative Einzelfallprüfung auf deren Wirtschaftlichkeit hin durchführen zu können.
Bei der Patientin G.I. seien die Diagnosen unter dem Indikationsschlüssel "SB1- Wirbelsäulenerkrankungen" zu subsumieren, der als einzig mögliche Anwendungsart eine motorisch-funktionelle Behandlung ohne die Möglichkeit optionaler oder ergänzender Heilmittel vorsehe. Aufgrund falscher Anwendungsart seien die gesamten Kosten der Verordnung abzüglich Zuzahlung der Versicherten in Regress zu stellen (315EUR). Für eine mildere Maßnahme, d.h. Beratung, bleibe kein Raum. Auch eine Gegenrechnung mit den Kosten einer heilmittelkatalogkonformen Therapie könne bei der Verordnung einer komplett falschen Anwendungsart nicht erfolgen.
Auch die Verordnung bei der Patientin F.B. verstoße eindeutig gegen den Heilmittelkatalog und stelle eine falsche Anwendungsart dar. Aufgrund falscher Anwendungsart seien die gesamten Kosten der Verordnung abzüglich Zuzahlung der Versicherten in Regress zu stellen (739EUR). Für eine mildere Maßnahme, d.h. Beratung, bleibe kein Raum. Auch eine Gegenrechnung mit den Kosten einer heilmittelkatalogkonformen Therapie könne bei der Verordnung einer komplett falschen Anwendungsart nicht erfolgen.
Die fehlerhaften Verordnungen führten zu einer Regressmöglichkeit bei 15 AOK und 10 DAK Verordnungen i.H.v. 1.054EUR. Bei Verordnungskosten dieser Rezepte i.H.v. 7.727EUR errechnete der Beklagte eine Regressquote von 13,6%, abzüglich eines Sicherheitsabschlags (25%) eine Regressquote von 10,2%.
Aufgrund der Tatsache, dass sämtliche vorgelegten Rezepte geprüft worden seien, sei eine Hochrechnung und somit eigentlich auch die Gewährung eines Sicherheitsabschlages entbehrlich gewesen. Da ein solcher aber im Prüfbescheid dennoch abgezogen worden sei, belasse es der Beklagte auch unter dem Gesichtspunkt der reformatio in peius (Verböserung) dabei.
Die Klägerin hat am 16.03.2011 Klage beim Sozialgericht München erhoben. Zur Klagebegründung hat sie insbesondere ausgeführt, dass bei einer repräsentativen Einzelfallprüfung nach der Rechtsprechung des BSG mindestens 100 Fälle und zugleich 20% aller Behandlungs- bzw. Verordnungsfälle einzeln geprüft werden müssten. Diese Anforderungen seien nicht erfüllt worden. Es dränge sich der Verdacht auf, dass vorliegend eine strenge Einzelfallprüfung durchgeführt worden sei. Auch das von der Beklagten aufgeführte Aufgreifkriterium (nach Durchschnittswerten) greife vorliegend nicht. Ein Rückgriff auf Praxisbesonderheiten sei im Rahmen der repräsentativen Einzelfallprüfung zulässig.
Die Klägerin und der Beklagte haben in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend erklärt, dass die klägerische Gemeinschaftspraxis im Quartal 01/2008 insgesamt 43 Verordnungen Ergotherapie ausgestellt hat.
Die Klägerin beantragt,
den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 15.02.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, über den Widerspruch der klägerischen Gemeinschaftspraxis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Der Beklagte beantragt
die Klageabweisung.
Er verweist u.a. darauf, dass nach der Rechtsprechung des BSG eine "Vorteilsausgleichung" unberücksichtigt bleiben müsse.
Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestandes auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 15.02.2011 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass der Beklagte über ihren Widerspruch unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu entscheidet.
Die Anwendung der repräsentativen Einzelfallprüfung mit anschließender Hochrechnung stellt sich im vorliegenden Fall als beurteilungsfehlerhaft dar. Zutreffenderweise hätte der Beklagte eine (eingeschränkte) Einzelfallprüfung zur Überprüfung der streitgegenständlichen Verordnungen Ergotherapie durchführen müssen.
Der Beklagte besitzt bei der Wahl der im Einzelfall geeigneten Prüfmethode einen Beurteilungsspielraum. Die Kontrolle des Gerichts ist demnach eingeschränkt, sie beschränkt sich darauf, ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, ob der Verwaltungsentscheidung ein richtiger und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, ob die Verwaltung die durch die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs er-mittelten Grenzen eingehalten und ob sie ihre Subsumtionserwägungen so verdeutlicht und begründet hat, dass im Rahmen des Möglichen die zu treffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist (BSG, Urteil vom 05.08.1992, Az. 14a/6 RKa 4/90, Rn. 30 – juris).
Vorliegend ist der Beklagte zutreffend davon ausgegangen, dass eine Prüfung der ärztlichen Verordnungsweise nach Durchschnittswerten nicht sachgerecht wäre, da grundsätzlich nur sehr wenige Patienten ein Ergotherapierezept erhalten und nicht alle Praxen einer Fachgruppe ergotherapeutische Leistungen verordnen.
Der Beklagte hat aufgrund dieser Erwägungen eine repräsentative Einzelfallprüfung mit Hochrechnung durchgeführt, die in § 15 Abs. 4 der zum 01.01.2008 in Kraft getretenen Prüfungsvereinbarung über das Verfahren zur Überwachung und Prüfung der Wirtschaftlichkeit durch die Prüfungsstelle und den Beschwerdeausschuss Ärzte Bayern nach § 106 SGB V geregelt ist. Danach ist die Prüfung der Verordnungsweise von Heilmitteln in Form einer repräsentativen Einzelfallprüfung durchzuführen (§ 15 Abs. 4 Satz 1 PV). Für jede zu prüfende Praxis sind gem. § 15 Abs. 4 Satz 2 PV von jeder Kassenart alle Verordnungen oder Datensätze mit entsprechendem Inhalt für mindestens 20% der Patienten – jedoch höchstens 100 Patienten – die mit Heilmitteln versorgt wurden, nach Versicherten-nummern je Krankenkasse sortiert vorzulegen. Dementsprechend hat der Beklagte die von der klägerischen Gemeinschaftspraxis zugunsten der Versicherten der AOK und der DAK ausgestellten Ergotherapie Rezepte geprüft. Bei einer Gesamtzahl von 43 Ergotherapie Verordnungen im Quartal 01/2008 wurden 15 Rezepte der AOK und 10 Rezepte der DAK geprüft.
Die vom Beklagten vorgenommene Wahl der Prüfmethode "repräsentative Einzelfallprüfung mit Hochrechnung" ist beurteilungsfehlerhaft. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 08.04.1992, Az. 6 RKa 27/90, Rn. 40 – juris) ist diese Prüfmethode zwar als Beweismethode grundsätzlich geeignet, da bei ihr, ausge-hend von gesicherten Tatsachenfeststellungen, eine statistische Wahrscheinlichkeitsrechnung vorgenommen wird. Um eine mathematisch-statistisch verwertbare Aussage über die gleichgelagerte Verhaltensweise des Arztes zu erhalten, ist es nach Auffassung des BSG jedoch sachgerecht und daher geboten, pro Quartal und Kassenbereich einen prozentualen Anteil von mindestens 20% der abgerechneten Fälle, der jedoch zugleich mindestens 100 Behandlungsfälle umfassen muss, zu überprüfen (BSG, ebenda, Rn. 40). Bei einer niedrigen Gesamtfallzahl kann schon die Prüfung von weniger als 100 Fällen ausreichen (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20.04.1994, Az. L 5 Ka 2126/92, Orientierungssatz 2 – juris). Um jedoch den statistischen Anforderungen an eine Hochrechnung zu genügen, darf eine bestimmte Mindestzahl an Behandlungsfällen nicht unterschritten werden, die bei etwa 50 Behandlungsfällen anzusetzen ist. Bei noch niedrigeren Behandlungsfallzahlen ist eine Hochrechnung aus statistischen Gründen ausgeschlossen; in diesen Fällen kommt allein eine eingeschränkte Einzelfallprüfung in Betracht (vgl. Engelhard in: Hauck/Noftz (Stand 11/2012), SGB V, § 106 Rn. 143, 146).
So liegt es im vorliegenden Fall. Wie die Klägerin und der Beklagte in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend festgestellt haben, hat die klägerische Praxis im Quartal 01/2008 in insgesamt 43 Fällen Ergotherapie verordnet. Diese Gesamtfallzahl ist per se nicht ausreichend, um eine repräsentative Einzelfallprüfung mit anschließender Hochrechnung durchzuführen. Erst recht nicht reichen die 25 von dem Beklagten überprüften Verordnungen, um auf dieser Grundlage bezüglich aller zu Lasten der AOK und des vdek ausgestellten Rezepte hochzurechnen. Aufgrund der fehlerhaften Wahl der Prüfmethode liegt dem streitgegenständlichen Bescheid ein unvollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde. Der Bescheid ist deshalb beurteilungsfehlerhaft.
Der Beklagte ist daher verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin erneut zu entscheiden. Dabei wird er zu beachten haben, dass die streitgegenständlichen Verordnungen Ergotherapie im Rahmen einer Einzelfallprüfung (§ 16 PV) zu überprüfen sind. Eine Hochrechnung ist nicht zulässig.
Nach alledem war der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung basiert auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
Rechtskraft
Aus
Login
FSB
Saved