Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 5 R 1876/10
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 6 R 35/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 17. Oktober 2011 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte zu Recht die Bewilligung einer großen Witwenrente teilweise aufgehoben und einen Erstattungsanspruch von 3.066,93 EUR geltend gemacht hat.
Die 1941 geborene Klägerin beantragte am 17. Dezember 1998 in der örtlichen Beratungsstelle M. bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten, der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (nachfolgen ebenfalls Beklagte), eine große Witwenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemanns, was diese mit Bescheid vom 28. Januar 1999 ab dem 1. Januar 1999 bewilligte. Hierin ist auf Seite 3 unter der Überschrift "Mitteilungspflichten" u.a. folgendes vermerkt:
"Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen können Einfluß auf die Rentenhöhe haben. Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns den Bezug, das Hinzutreten oder die Veränderung von Erwerbseinkommen [ ] oder von Erwerbsersatzeinkommen unverzüglich mitzuteilen. Erwerbsersatzeinkommen sind, auch als Kapitalleistung oder Abfindung, folgende Leistungen: - [ ] - Versichertenrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung [ ]. Die Meldung von Veränderungen erübrigt sich bei Einkommen aus einer in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübten rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit oder bei Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung."
Durch Bescheid vom 17. Mai 2002 erfolgte eine Neufeststellung der großen Witwenrente zum 1. Juli 2002 unter Berücksichtigung des maßgeblichen aktuellen Rentenwertes. Im Bescheid ist vermerkt, dass die im früheren Rentenbescheid genannten Mitteilungspflichten nach wie vor gelten.
Die Klägerin beantragte am 31. Juli 2002 in der örtlichen Beratungsstelle M. der Beklagten die Altersrente für Frauen wegen Vollendung des 60. Lebensjahres. Sie teilte unter Angabe der Versicherungsnummer mit, dass sie eine Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres Ehemanns bezog. Die Beklagte bewilligte die begehrte Alterrente ab 1. November 2002. Deren Bezug teilte die Klägerin der Beklagten nicht mit; eine Anpassung der großen Witwenrente erfolgte nicht.
Die bei der Beklagten für die Hinterbliebenrenten zuständige Abteilung erhielt im Juni 2009 erstmals Kenntnis vom Bezug der Altersrente. Mit Bescheid vom 1. Juli 2009 setzte sie die Höhe der großen Witwenrente ab 1. August 2009 unter Berücksichtigung des Bezugs der Altersrente neu fest. Für die Zeit vom 1. November 2002 bis zum 31. Juli 2009 hob sie aufgrund der Anrechnung der Altersrente die Entscheidung teilweise auf. Der Betrag in Höhe von 3.066,93 EUR sei zu erstatten. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 2010 zurück. In beiden Bescheiden sind keine Ermessenserwägungen enthalten.
Mit ihrer am 26. März 2010 beim Sozialgericht Nordhausen eingegangenen Klage hat sich die Klägerin gegen die rückwirkende Aufhebung und Erstattung gewendet und vorgetragen, es liege ein atypischer Fall vor, der zur Ermessensausübung verpflichtet hätte. Das Sozialgericht hat den Bescheid vom 1. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 25. Februar 2010 mit Urteil vom 17. Oktober 2011 hinsichtlich der rückwirkenden Aufhebung und Erstattung aufgehoben. Die Klägerin habe keine Mitteilungspflichten verletzt. Die Beklagte habe darüber hinaus bereits 2002 Kenntnis vom doppelten Rentenbezug gehabt, so dass die Jahresfrist abgelaufen sei. Letztlich liege auch ein atypischer Fall vor, der zur Ermessensausübung verpflichtet hätte.
Mit ihrer am 23. Dezember 2011 eingegangenen Berufung hat sich die Beklagte gegen die Entscheidung des Sozialgerichts gewendet. Nach ihrer Auffassung liegen die Voraussetzungen für eine Aufhebung und Erstattung vor. Die Jahresfrist sei noch nicht abgelaufen gewesen, es sei auch kein atypischer Fall gegeben.
Die Klägerin ist am 4. April 2013 verstorben. Einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens haben weder ihr Prozessbevollmächtigter noch die Beklagte gestellt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 17. Oktober 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, eine Aufhebung komme nicht in Betracht, weil die Jahresfrist verstrichen sei. Die Beklagte habe seit Beantragung der Altersrente vom gleichzeitigen Bezug der Witwenrente gewusst, etwaige Organisationsmängel dürften nicht zu ihren Lasten gehen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Der Senat kann trotz des Todes der Klägerin über die Berufung entscheiden. Eine Unterbrechung nach § 239 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist nicht eingetreten, weil diese durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten wird und weder er noch die Beklagte eine Aussetzung des Verfahrens beantragt haben (§ 246 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 202 SGG).
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat - jedenfalls im Ergebnis - zu Recht den Bescheid der Beklagten vom 1. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Februar 2010 teilweise aufgehoben. Die Voraussetzung für eine rückwirkende Aufhebung und Erstattung liegen nicht vor.
Als Rechtsgrundlagen der teilweisen rückwirkenden Aufhebungsentscheidung kommen nur § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2, Nr. 3 und Nr. 4 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) in Betracht. Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (Satz 1). Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Satz 2 Nr. 2), nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (Satz 2 Nr. 3), oder der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (Satz 2 Nr. 4).
Eine wesentliche Änderung liegt durch den Altersrentenbezug seit 2002 vor. Hinsichtlich der rückwirkenden Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2 SGB X (Verletzung einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher Änderungen der Verhältnisse durch Nichtmitteilung des Bezugs der Altersrente an die für die Hinterbliebenenrenten zuständige Stelle der Beklagten) kann der Senat kein vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten der Klägerin feststellen. Für Vorsatz gibt es keine Anhaltspunkte, dies behauptet auch die Beklagte nicht. Die grundsätzlich in Betracht kommende grobe Fahrlässigkeit erfordert ein Handeln, bei dem die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt worden ist und bei dem dasjenige unbeachtet geblieben ist, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (vgl. BGHZ, 10, 14, 16). Diese Feststellung ist im Wesentlichen eine Tatfrage, bei der es auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten des Begünstigten sowie die besonderen Umständen des Falles ankommt. Es gilt also ein subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff (vgl. BSG, Urteil vom 13. Dezember 1972 - 7 RKg 9/69, nach juris). Die entsprechende Feststellung mit Vollbeweis hätte angesichts der Umstände des Falls im vorliegenden Fall die persönliche Befragung der Klägerin durch den Senat erfordert. Aufgrund ihres Todes ist dies nicht mehr möglich. Der Senat kann sich nunmehr kein Bild mehr darüber machen, ob die Klägerin nach ihren persönlichen Fähigkeiten überhaupt in der Lage war, die ihr auferlegten Pflichten zu erkennen und danach zu handeln. Der Akteninhalt enthält hierzu keine ausreichenden Anhaltspunkte. Der Senat sieht auch keine andere Möglichkeit, diese Kenntnisse auf andere Weise nachträglich hinreichend sicher zu erhalten. Die Unmöglichkeit geht zu Lasten der Beklagten.
Die Voraussetzungen einer rückwirkenden Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 SGB X (Einkommenserzielung nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsakt, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt hätte) liegen nicht vor, weil die Beklagte kein Ermessen ausgeübt hat. Hier wäre ausnahmsweise eine Ermessensentscheidung erforderlich gewesen. Das Wort "soll" in § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X bedeutet, dass der Leistungsträger im Regelfall den Verwaltungsakt rückwirkend aufheben muss. In atypischen Fällen ist er jedoch zur Ausübung von Ermessen berechtigt und verpflichtet (vgl. BSG, Urteil vom 23. März 1995 - 13 RJ 39/94; BVerwG, Urteil vom 17. September 1987 - 5 C 26/84, beide nach juris). Ein solcher Fall liegt dann vor, wenn der Einzelfall auf Grund der besonderen Umstände von dem (typischen) Regelfall signifikant abweicht, in dem die Rechtswidrigkeit eines ursprünglich richtigen Verwaltungsakts ebenfalls durch nachträgliche Veränderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 77/09 R m.w.N., nach juris). Dabei ist zu prüfen, ob die mit der Aufhebung verbundene Pflicht zur Erstattung der zu Unrecht erhaltenen Leistungen nach Lage des Falls eine Härte bedeutet, die den Leistungsbezieher in atypischer Weise stärker belastet als den Betroffenen im Normalfall; zu berücksichtigen ist auch das Verhalten des Leistungsträgers im Geschehensablauf. Ein atypischer Fall liegt hier vor. Er ist dann anzunehmen, wenn der Versicherungsträger - wie hier - durch einen missverständlichen Hinweis einen besonderen Vertrauenstatbestand geschaffen hat (vgl. BSG, Urteil vom 24. September 1986 - 10 RKg 9/85, nach juris). Die Beklagte hatte in ihrem Bescheid vom 28. Januar 1999 der Klägerin mitgeteilt, dass die gesetzliche Verpflichtung besteht, den Bezug, das Hinzutreten oder die Veränderung von Versichertenrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung mitzuteilen. Nicht darauf hingewiesen hatte sie jedoch, dass die Mitteilung an die zuständige Stelle der Beklagten selbst dann erfolgen musste, wenn das Hinzutreten des Erwerbseinkommens durch eine Leistungsgewährung der Beklagten selbst erfolgte. Es ist lediglich davon die Rede, dass die Mitteilung an "uns" zu erfolgen habe. Ein entsprechender Hinweis wäre aber jedenfalls deswegen erforderlich gewesen, weil die Klägerin beide Rentenanträge bei derselben Beratungsstelle in Mühlhausen abgab und die Beklagte ihr bewusst als einheitliche Behörde gegenüber trat. Es lag dann nahe, dass die Klägerin darauf vertrauen musste, dass die Beklagten den Bezug der Altersrente kannte und dies keine Auswirkungen auf die Höhe ihrer Leistungen aus der Witwenrente hatte.
Letztlich liegen auch die Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 4 SGB X nicht vor, weil hierfür hinsichtlich des teilweisen Wegfalls der Witwenrente eine zumindest grob fahrlässige Unkenntnis erforderlich wäre. Sie kann aus den oben bereits dargestellten Gründen durch den Senat nicht positiv mit Vollbeweis festgestellt werden. Auch insoweit geht die Beweislosigkeit zu Lasten der Beklagten.
Da bereits die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB X nicht vorliegen, kann der Senat die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage offen lassen, ob - wie die Vorinstanz wohl zu Unrecht angenommen hat - die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X oder die Zehnjahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X bereits abgelaufen waren.
Aufgrund der Rechtswidrigkeit der rückwirkenden Aufhebungsentscheidung kommt eine Erstattung nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte zu Recht die Bewilligung einer großen Witwenrente teilweise aufgehoben und einen Erstattungsanspruch von 3.066,93 EUR geltend gemacht hat.
Die 1941 geborene Klägerin beantragte am 17. Dezember 1998 in der örtlichen Beratungsstelle M. bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten, der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (nachfolgen ebenfalls Beklagte), eine große Witwenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemanns, was diese mit Bescheid vom 28. Januar 1999 ab dem 1. Januar 1999 bewilligte. Hierin ist auf Seite 3 unter der Überschrift "Mitteilungspflichten" u.a. folgendes vermerkt:
"Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen können Einfluß auf die Rentenhöhe haben. Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns den Bezug, das Hinzutreten oder die Veränderung von Erwerbseinkommen [ ] oder von Erwerbsersatzeinkommen unverzüglich mitzuteilen. Erwerbsersatzeinkommen sind, auch als Kapitalleistung oder Abfindung, folgende Leistungen: - [ ] - Versichertenrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung [ ]. Die Meldung von Veränderungen erübrigt sich bei Einkommen aus einer in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübten rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit oder bei Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung."
Durch Bescheid vom 17. Mai 2002 erfolgte eine Neufeststellung der großen Witwenrente zum 1. Juli 2002 unter Berücksichtigung des maßgeblichen aktuellen Rentenwertes. Im Bescheid ist vermerkt, dass die im früheren Rentenbescheid genannten Mitteilungspflichten nach wie vor gelten.
Die Klägerin beantragte am 31. Juli 2002 in der örtlichen Beratungsstelle M. der Beklagten die Altersrente für Frauen wegen Vollendung des 60. Lebensjahres. Sie teilte unter Angabe der Versicherungsnummer mit, dass sie eine Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres Ehemanns bezog. Die Beklagte bewilligte die begehrte Alterrente ab 1. November 2002. Deren Bezug teilte die Klägerin der Beklagten nicht mit; eine Anpassung der großen Witwenrente erfolgte nicht.
Die bei der Beklagten für die Hinterbliebenrenten zuständige Abteilung erhielt im Juni 2009 erstmals Kenntnis vom Bezug der Altersrente. Mit Bescheid vom 1. Juli 2009 setzte sie die Höhe der großen Witwenrente ab 1. August 2009 unter Berücksichtigung des Bezugs der Altersrente neu fest. Für die Zeit vom 1. November 2002 bis zum 31. Juli 2009 hob sie aufgrund der Anrechnung der Altersrente die Entscheidung teilweise auf. Der Betrag in Höhe von 3.066,93 EUR sei zu erstatten. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 2010 zurück. In beiden Bescheiden sind keine Ermessenserwägungen enthalten.
Mit ihrer am 26. März 2010 beim Sozialgericht Nordhausen eingegangenen Klage hat sich die Klägerin gegen die rückwirkende Aufhebung und Erstattung gewendet und vorgetragen, es liege ein atypischer Fall vor, der zur Ermessensausübung verpflichtet hätte. Das Sozialgericht hat den Bescheid vom 1. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 25. Februar 2010 mit Urteil vom 17. Oktober 2011 hinsichtlich der rückwirkenden Aufhebung und Erstattung aufgehoben. Die Klägerin habe keine Mitteilungspflichten verletzt. Die Beklagte habe darüber hinaus bereits 2002 Kenntnis vom doppelten Rentenbezug gehabt, so dass die Jahresfrist abgelaufen sei. Letztlich liege auch ein atypischer Fall vor, der zur Ermessensausübung verpflichtet hätte.
Mit ihrer am 23. Dezember 2011 eingegangenen Berufung hat sich die Beklagte gegen die Entscheidung des Sozialgerichts gewendet. Nach ihrer Auffassung liegen die Voraussetzungen für eine Aufhebung und Erstattung vor. Die Jahresfrist sei noch nicht abgelaufen gewesen, es sei auch kein atypischer Fall gegeben.
Die Klägerin ist am 4. April 2013 verstorben. Einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens haben weder ihr Prozessbevollmächtigter noch die Beklagte gestellt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 17. Oktober 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, eine Aufhebung komme nicht in Betracht, weil die Jahresfrist verstrichen sei. Die Beklagte habe seit Beantragung der Altersrente vom gleichzeitigen Bezug der Witwenrente gewusst, etwaige Organisationsmängel dürften nicht zu ihren Lasten gehen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Der Senat kann trotz des Todes der Klägerin über die Berufung entscheiden. Eine Unterbrechung nach § 239 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist nicht eingetreten, weil diese durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten wird und weder er noch die Beklagte eine Aussetzung des Verfahrens beantragt haben (§ 246 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 202 SGG).
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat - jedenfalls im Ergebnis - zu Recht den Bescheid der Beklagten vom 1. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Februar 2010 teilweise aufgehoben. Die Voraussetzung für eine rückwirkende Aufhebung und Erstattung liegen nicht vor.
Als Rechtsgrundlagen der teilweisen rückwirkenden Aufhebungsentscheidung kommen nur § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2, Nr. 3 und Nr. 4 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) in Betracht. Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (Satz 1). Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Satz 2 Nr. 2), nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (Satz 2 Nr. 3), oder der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (Satz 2 Nr. 4).
Eine wesentliche Änderung liegt durch den Altersrentenbezug seit 2002 vor. Hinsichtlich der rückwirkenden Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2 SGB X (Verletzung einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher Änderungen der Verhältnisse durch Nichtmitteilung des Bezugs der Altersrente an die für die Hinterbliebenenrenten zuständige Stelle der Beklagten) kann der Senat kein vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten der Klägerin feststellen. Für Vorsatz gibt es keine Anhaltspunkte, dies behauptet auch die Beklagte nicht. Die grundsätzlich in Betracht kommende grobe Fahrlässigkeit erfordert ein Handeln, bei dem die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt worden ist und bei dem dasjenige unbeachtet geblieben ist, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (vgl. BGHZ, 10, 14, 16). Diese Feststellung ist im Wesentlichen eine Tatfrage, bei der es auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten des Begünstigten sowie die besonderen Umständen des Falles ankommt. Es gilt also ein subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff (vgl. BSG, Urteil vom 13. Dezember 1972 - 7 RKg 9/69, nach juris). Die entsprechende Feststellung mit Vollbeweis hätte angesichts der Umstände des Falls im vorliegenden Fall die persönliche Befragung der Klägerin durch den Senat erfordert. Aufgrund ihres Todes ist dies nicht mehr möglich. Der Senat kann sich nunmehr kein Bild mehr darüber machen, ob die Klägerin nach ihren persönlichen Fähigkeiten überhaupt in der Lage war, die ihr auferlegten Pflichten zu erkennen und danach zu handeln. Der Akteninhalt enthält hierzu keine ausreichenden Anhaltspunkte. Der Senat sieht auch keine andere Möglichkeit, diese Kenntnisse auf andere Weise nachträglich hinreichend sicher zu erhalten. Die Unmöglichkeit geht zu Lasten der Beklagten.
Die Voraussetzungen einer rückwirkenden Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 SGB X (Einkommenserzielung nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsakt, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt hätte) liegen nicht vor, weil die Beklagte kein Ermessen ausgeübt hat. Hier wäre ausnahmsweise eine Ermessensentscheidung erforderlich gewesen. Das Wort "soll" in § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X bedeutet, dass der Leistungsträger im Regelfall den Verwaltungsakt rückwirkend aufheben muss. In atypischen Fällen ist er jedoch zur Ausübung von Ermessen berechtigt und verpflichtet (vgl. BSG, Urteil vom 23. März 1995 - 13 RJ 39/94; BVerwG, Urteil vom 17. September 1987 - 5 C 26/84, beide nach juris). Ein solcher Fall liegt dann vor, wenn der Einzelfall auf Grund der besonderen Umstände von dem (typischen) Regelfall signifikant abweicht, in dem die Rechtswidrigkeit eines ursprünglich richtigen Verwaltungsakts ebenfalls durch nachträgliche Veränderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 77/09 R m.w.N., nach juris). Dabei ist zu prüfen, ob die mit der Aufhebung verbundene Pflicht zur Erstattung der zu Unrecht erhaltenen Leistungen nach Lage des Falls eine Härte bedeutet, die den Leistungsbezieher in atypischer Weise stärker belastet als den Betroffenen im Normalfall; zu berücksichtigen ist auch das Verhalten des Leistungsträgers im Geschehensablauf. Ein atypischer Fall liegt hier vor. Er ist dann anzunehmen, wenn der Versicherungsträger - wie hier - durch einen missverständlichen Hinweis einen besonderen Vertrauenstatbestand geschaffen hat (vgl. BSG, Urteil vom 24. September 1986 - 10 RKg 9/85, nach juris). Die Beklagte hatte in ihrem Bescheid vom 28. Januar 1999 der Klägerin mitgeteilt, dass die gesetzliche Verpflichtung besteht, den Bezug, das Hinzutreten oder die Veränderung von Versichertenrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung mitzuteilen. Nicht darauf hingewiesen hatte sie jedoch, dass die Mitteilung an die zuständige Stelle der Beklagten selbst dann erfolgen musste, wenn das Hinzutreten des Erwerbseinkommens durch eine Leistungsgewährung der Beklagten selbst erfolgte. Es ist lediglich davon die Rede, dass die Mitteilung an "uns" zu erfolgen habe. Ein entsprechender Hinweis wäre aber jedenfalls deswegen erforderlich gewesen, weil die Klägerin beide Rentenanträge bei derselben Beratungsstelle in Mühlhausen abgab und die Beklagte ihr bewusst als einheitliche Behörde gegenüber trat. Es lag dann nahe, dass die Klägerin darauf vertrauen musste, dass die Beklagten den Bezug der Altersrente kannte und dies keine Auswirkungen auf die Höhe ihrer Leistungen aus der Witwenrente hatte.
Letztlich liegen auch die Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 4 SGB X nicht vor, weil hierfür hinsichtlich des teilweisen Wegfalls der Witwenrente eine zumindest grob fahrlässige Unkenntnis erforderlich wäre. Sie kann aus den oben bereits dargestellten Gründen durch den Senat nicht positiv mit Vollbeweis festgestellt werden. Auch insoweit geht die Beweislosigkeit zu Lasten der Beklagten.
Da bereits die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB X nicht vorliegen, kann der Senat die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage offen lassen, ob - wie die Vorinstanz wohl zu Unrecht angenommen hat - die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X oder die Zehnjahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X bereits abgelaufen waren.
Aufgrund der Rechtswidrigkeit der rückwirkenden Aufhebungsentscheidung kommt eine Erstattung nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
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