S 28 KA 639/09

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
28
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 28 KA 639/09
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 12 KA 87/13
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Der Bescheid des Beklagten vom 28.07.2009 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Gegenstand des Rechtsstreits ist eine Richtgrößenprüfung im Jahr 2006. Der Beklagte hat diesbezüglich den von der Prüfungsstelle gegen die Klägerin festgesetzten Regress i.H.v. 59.926,77 EUR bestätigt.

Die Klägerin nimmt als Allgemeinärztin mit den Zusatzbezeichnungen Akupunktur und Betriebsmedizin in A-Stadt an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Die Gesamtfallzahl der klägerischen Praxis im Jahr 2006 betrug 8908 Fälle.

Mit Schreiben vom 06.10.2008 informierte der Prüfungs- und Beschwerdeausschuss die Klägerin über die Einleitung der Richtgrößenprüfung 2006. Die Prüfung erstrecke sich auf die von der Klägerin verordneten Arzneimittel, Verbandmittel und den Sprechstundenbedarf. Das klägerische Gesamtverordnungsvolumen des Jahres 2006 habe 795.007,44 EUR betragen, das Richtgrößenvolumen 488.212,95 EUR. Damit liege eine Überschreitung i.H.v. 62,84% vor.

Die Klägerin nahm mit Schreiben vom 24.10.2008 ausführlich Stellung. Sie wies darauf hin, dass sie eine große Landarztpraxis führe und im Quartal über 2300 Patienten versorge. Sie habe ein großes Patientenklientel, das multimorbid sei und für die das Arzneimittelbudget von vornherein nicht ausreichen könne. Sie behandle jedes Quartal 100 Patienten, die sehr kostenaufwändig seien. Diese Kosten beliefen sich auf ca. 65.000 EUR, was einer Jahressumme von 260.000 EUR entspreche. Aufgrund der Lage ihrer Praxis in A-Stadt, weit weg von den Großstädten, liege die Erstbetreuung mit Verschreibung von Medikamenten und Verordnung von Physiotherapie in der Pflicht des Hausarztes. Im Einzelnen führte die Klägerin u.a. an, dass 200 ihrer Patienten Medikamente von mehr als 300 EUR im Quartal benötigten. Die Praxis habe einen hohen Kinderanteil; pro Quartal seien im Jahr 2006 482 Kinder (1-12 Jahre) behandelt worden. Die Klägerin habe 36 Patienten mit Krankheitsbildern wie Colitis ulcerosa oder M.Crohn im Jahr 2006 gehabt, die Kosten von ca. 18.000 EUR verursacht hätten. Außerdem habe sie 2006 106 an Krebs erkrankte Patienten betreut. Die Nachverordnung von teuren Demenzmedikamenten bei nur acht Patienten hätte 6.802 EUR gekostet. Zudem habe die Klägerin 2006 ca. 100 Patienten mit Depressionen sowie ca. 500 Asthmatiker betreut. Darüber hinaus betreue sie 80 Rheumapatienten in ihrer Praxis. 62 Patienten bekämen v.a. nach Stentimplantation Iscover&Plavix (Kosten von ca. 44.000 EUR). 151 Patienten mit Refluxösophagitis und Ulcus duodeni/ventrikulie würden betreut (ca. 20.000 EUR). Ein weiterer Schwerpunkt der Praxis liege in der Schmerztherapie. Auch betreue sie elf MS-Patienten (ca. 50.000 EUR Kosten) sowie viele ältere Menschen, u.a. in vier Alten- und Pflegeheimen. Schließlich betreue sie 167 Osteoporosepatienten (20.000 EUR).

Mit Prüfbescheid vom 17.12.2008 setzte die Prüfungsstelle wegen Überschreitung des Richtgrößenvolumens für das Jahr 2006 einen Regress in Höhe von 59.926,77 EUR fest. Die Prüfungsstelle verwies auf ihre Zuständigkeit gem. § 106 Abs. 5a SGB V i.V.m. § 14 Prüfungsvereinbarung bezüglich der Prüfung und Entscheidung, ob bei der Verordnung von Arzneimitteln auf den Namen des Patienten, Verbandmitteln und Sprechstundenbedarf gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen worden sei und welche Maßnahmen zu treffen seien. Prüfgegenstand seien die Gesamtverordnungskosten des Jahres 2006, die Arzneimittel, die auf den Nahmen des Patienten verordnet worden seien, sowie Verbandmittel und Sprechstundenbedarf beinhalteten. Eine unwirtschaftliche Verordnungsweise läge vor. Es sei festzustellen, dass in verschiedenen Indikationsbereichen ein Mehraufwand an Verordnungskosten gegenüber der Fachgruppe vorliege. In einzelnen Indikationsgruppen erkannte die Prüfungsstelle den jeweiligen Mehrbedarf als zu berücksichtigende Praxisbesonderheiten an. Insgesamt ergäben sich zu berücksichtigende Verordnungskosten i.H.v. 103.706,92 EUR. Auch nach Abzug aller zu berücksichtigenden Praxisbesonderheiten liege die Überschreitung des Richtgrößenvolumens noch immer über dem Prüfvolumen. Unter anteilsmäßigem Abzug von Zuzahlungen und Rabatten ergebe sich ein Nettoregress i.H.v. 67.499,95 EUR. Von diesem seien Regresse abzuziehen, die bereits für den gleichen Prüfgegenstand ausgesprochen worden seien, so dass der neue Regress netto 59.926,77 EUR betrage.

Die Klägerin legte mit Schreiben vom 19.12.2008 Widerspruch ein und begründete diesen mit Schreiben vom 28.04.2009 näher. Sie wies u.a. darauf hin, dass ihre Praxis mit allen Geräten zur Grundversorgung auf dem Land ausgestattet sei (EKG, Ergometrie, Lungen-funktion, Allergologie, Sonografie (Abdomen und Schilddrüse), Notfallmedizin, Akupunktur, Infusionstherapie), was das besonders schwere und kostenintensive Patientengut erkläre. Zudem besitze die Klägerin viele Zusatzqualifikationen. Auch seien bei der Durchsicht der CD "Unterlagen Richtgrößenprüfung 2006" Medikamente im Wert von 53.981,70 EUR fehlerhaft oder falsch erfasst worden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.07.2009 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass die Prüfungsstelle richtiger-weise von den (Brutto-)Verordnungskosten in Höhe von 795.007,44 EUR ausgehen durfte. Er stellte fest, dass die Verordnungskosten durchaus Patienten der Praxis zugeordnet werden könnten. Der Beklagte habe im Übrigen eine erneute Prüfung der Unterlagen vorgenommen. Prüfgegenstand seien die Gesamtverordnungskosten des Jahres 2006. Diese beinhalteten Arzneimittel, die auf den Namen des Patienten verordnet worden seien, sowie Verbandmittel und Sprechstundenbedarf. Nicht prüfrelevant seien die Verordnungskosten von Arzneimitteln, die als sog. "Besondere Arzneimittel" gälten und grundsätzlich als Praxisbesonderheit zu werten seien. Der Beklagte erkannte den Mehrbedarf an Vitamin D im Rahmen der Dialyse, an Analgetika/anderen Opioiden, an Bisphosphonaten, an Glaukommitteln sowie an Heparinen in Höhe von insgesamt 17.487,72 EUR als zu berücksichtigende Praxisbesonderheiten an. Auch seien Kosten für Hilfsmittel und Impfstoffe, die nicht zu den prüfrelevanten Arzneimitteln zählten, aus dem Gesamtverordnungsvolumen herauszurechnen. In diesem Rahmen seien Kosten von 2.773,91 EUR (Hilfsmittel) und 2.410,28 EUR (Impfstoffe) anzuerkennen. Zudem habe die Prüfungsstelle wegen der ver-mehrten Betreuung von Schnitt- und Schürfwunden, Ulcus cruris oder Dekubitus einen Mehraufwand von 18.795,33 EUR an Verbandmaterial zugestanden. Ein weiterer Mehrbedarf sei wegen der engen Zusammenarbeit der Praxis mit einem Kardiologen aus Kronach zu-gestanden worden, da hier viele ambulante Herzkatheteruntersuchungen durchgeführt würden. Es würden Thrombozytenregationshemmer (Plavix/Iscover) i.H.v. 12.899,56 EUR anerkannt. Desweiteren würden wegen der Betreuung von über 500 Asthmatikern pro Jahr ein Mehrbedarf i.H.v. 11.860,66 EUR für Antiobstruktiva berücksichtigt. Durch die Betreuung von Diabetespatienten würde der Klägerin der Mehrbedarf von 3.407,72 EUR für Diabetes Teststreifen herausgerechnet. Bezüglich des Praxisschwerpunktes Schmerztherapie würde ein Mehrbedarf von 2.712,53 EUR an Analgetika zugestanden. Wegen des Schwerpunkts der Betreuung von Patienten mit Depressionen werde ein Be-trag von 9.277,67 EUR an Psychoanaleptika anerkannt. Darüber hinaus habe die Prüfungsstelle den Mehrbedarf an Protonpumpenhemmern i.H.v. 22.081,04 EUR berücksichtigt. Ins-gesamt seien somit Mehrkosten i.H.v. 103.706,92 EUR berücksichtigt worden. Der Beklagte bestätige diese Mehrkosten. Die von der Prüfungsstelle angestellten Maßstäbe seien nicht zu beanstanden. Weitere Praxisbesonderheiten lägen nicht vor. Es sei zu berücksichtigen, dass viele der Präparate, die einen Fall, wie von der Klägerin geschildert, zu einem kostenintensiven Fall machten, bereits über Anlage 2 zur Richtgrößenvereinbarung berücksichtigt seien. Diese Kosten belasteten das Verordnungsvolumen der Klägerin nicht und seien nicht prüfrelevant. Gerade bei Tumorpatienten sei dies ausschlaggebend. Im übrigen seien die Praxisbesonderheiten, die eine Landarztpraxis mit sich bringe, von der Prüfungsstelle berücksichtigt worden, zumal bereits bei der Ermittlung des Richtgrößenvolumens die Werte der Allgemeinärzte Land mit Diabetesvereinbarung zugrunde gelegt worden seien. Die auch nach Berücksichtigung der Praxisbesonderheiten immer noch ho-he Überschreitung des Richtgrößenvolumens sei vielmehr auf die überdurchschnittliche teure Medikation der Klägerin zurückzuführen. So liege die Klägerin allein bei den verordnungsintensivsten Indikationsbereichen beim Vergleich der Kosten pro Verordnung wesentlich höher, teilweise doppelt so hoch, wie der Durchschnitt der Vergleichsgruppe. Es liege in der Praxis der Klägerin ein großes Einsparpotential vor.

Die Klägerin hat am 05.08.2009 Klage zum Sozialgericht München erhoben. Zur Klagebegründung hat die Klägerin insbesondere ausgeführt, dass gegen die Klägerin weder vor noch nach dem streitgegenständlichen Verfahren ein Regress wegen unwirtschaftlicher Verordnung der Arzneikosten bestandskräftig ausgesprochen worden sei. Der Beklagte habe in einer Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten (Verordnung von Arz-neimitteln) für das Quartal 3/2006 sogar festgestellt, dass eine wirtschaftliche Verordnungsweise bei den Arzneimitteln gegeben sei. Berechne man im streitgegenständlichen Verfahren die durchschnittlichen Arzneikosten des Jahres 2006, so ergebe sich ein Fall-wert von 115,50 EUR, der etwa dem Fallwert entspreche, den die Klägerin im Quartal 3/2007 aufgewiesen habe, als der Prüfungsausschuss keinen Regress verhängt habe. Es sei nicht einzusehen, dass die Klägerin bei annähernd gleichen Werten im Gesamtjahr 2006 einen Regress von 59.926,77 EUR zahlen solle. Im Übrigen könne das Quartal 3/2006 nicht erneut einer Wirtschaftlichkeitsprüfung, diesmal in Form einer Richtgrößenprüfung, unterzogen werden, nachdem der Beklagte für dieses Quartal bereits bestandskräftig entschieden habe, dass die Klägerin die Arzneimittel wirtschaftlich verordnet habe. Die Möglichkeit der Prüfung einzelner Verordnungsquartale im Rahmen einer Richtgrößenprüfung sei vom Gesetzgeber erst zum 01.04.2007 eingeführt worden. Wegen der Bestandskraft hinsichtlich des Quartals 3/2006 sei vorliegend das gesamte Jahr 2006 keiner Richtgrößenprüfung mehr zugängig. Ausweislich der der Klägerin übermittelten Richtgrößen-Trendmeldungen läge im Übrigen ein niedrigeres Gesamtverordnungsvolumen sowie ein größeres Richtgrößenvolumen vor. Dementsprechend habe für das Gesamtjahr 2006 lediglich eine Überschreitung von 28,77% vorgelegen. Die Klägerin weist zudem darauf hin, dass nach Abzug der besonderen Arzneimittel nur noch ein zu berücksichtigendes Gesamtverordnungsvolumen von 790.389,63 EUR verbleibe, mithin 4.617,81 EUR weniger als vom Beklagten ausgewiesen. Darüber hinaus sei ein Betrag von 38.471,76 EUR von dem Gesamtverordnungsvolumen abzuziehen, da bezüglich dieser Verordnungskosten die Krankenkassen keine Versichertennummern vorgelegt hätten, mit der Folge, dass diesbezüg-lich für die Klägerin keine Überprüfung möglich sei. Ein weiterer Betrag von 53.981,70 EUR sei in Abzug zu bringen, da dieser fehlerhafte oder falsch erfasste Arzneiverordnungen betreffe. Herauszurechnen seien ebenfalls die in der ATC-Liste als "unbekannt" bezeichneten Arzneimittel i.H.v. 6.642,40 EUR. Insgesamt führe dies zu einem zu berücksichtigenden Gesamtverordnungsvolumen von 691.293,77 EUR; dies führe wiederum zu einer Überschreitung vor Prüfung von 41,60%. Abzüglich des von dem Beklagten als Praxisbesonderheit anerkannten Mehrbedarfs i.H.v. 103.706,92 EUR führe dies zu einem bereinigten Gesamtverordnungsvolumen i.H.v. 587.586,85 EUR. Bei einem Richtgrößenvolumen von 488.212,95 EUR resultiere daraus eine Überschreitung unterhalb von 25%. Hilfsweise wurde vorgetragen, dass einzelne, von der Klägerin im Widerspruchsverfahren vorgetragene Praxisbesonderheiten nicht adäquat berücksichtigt worden seien. Insbesondere hätte der Mehraufwand für den ATC-Code AC09 (Mittel mit Wirkung auf das Renin-Angiotensin-System) i.H.v. 36.709,26 EUR berücksichtigt werden müssen. Nicht nachvollziehbar sei des weiteren, warum aufgrund der Betreuung von Patienten mit Depressionen lediglich Psychoanaleptika i.H.v. 9,277,67 EUR und nicht in Höhe von 15.458,38 EUR berücksichtigt worden seien. Im Übrigen verweist die Klägerin auf die mit dem Versorgungsstrukturgesetz zum 01.01.2012 eingeführte Regelung des § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB "Beratung vor Regress". Diese Vorschrift sei auf den vorliegenden Fall anwendbar, da hinsichtlich der Richtgrößenprüfung 2005 eine individuelle Beratung noch nicht stattgefunden habe.

Der Beklagte hat der Klägerin im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens eine CD-ROM mit aktualisierten personenenbezogenen Daten übermittelt.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 28.07.2009 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, über den Widerspruch der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestandes auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 28.07.2009 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass der Beklagte über ihren Widerspruch unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu entscheidet.

Der streitgegenständliche Bescheid ist teilweise nicht mit § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und § 84 Abs. 6 SGB V (jeweils in der Fassung vom 31.10.2006; im Folgenden "a.F.") vereinbar.

Gem. § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V a.F. wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung ge-prüft durch arztbezogene Prüfung ärztlich verordneter Leistungen bei Überschreitung der Richtgrößenvolumina nach § 84 (Auffälligkeitsprüfung). § 84 Abs. 6 Satz 1 SGB V a.F. regelt, dass die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen sowie das Kassenärztliche Vereinigung bis zum 15. November für das jeweils folgende Kalenderjahr zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung für das auf das Kalen-derjahr bezogene Volumen der je Arzt verordneten Arznei- und Verbandmittel (Richtgrößenvolumen) arztgruppenspezifische fallbezogene Richtgrößen als Durchschnittswerte unter Berücksichtigung der nach Absatz 1 getroffenen Arzneimittelvereinbarung vereinbaren, erstmals bis zum 31. März 2002. Zusätzlich sollen die Vertragspartner die Richtgrößen nach altersgemäß gegliederten Patientengruppen und darüber hinaus auch nach Krankheitsarten bestimmen (§ 84 Abs. 6 Satz 2 SGB V a.F.). Die Richtgrößen leiten gem. § 84 Abs. 6 Satz 3 SGB V a.F. den Vertragsarzt bei seinen Entscheidungen über die Verordnung von Arznei- und Verbandmitteln nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot. Die Überschreitung des Richtgrößenvolumens löst eine Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 Abs. 5a unter den dort genannten Voraussetzungen aus (§ 84 Abs. 6 Satz 4 SGB V a.F.).

§ 14 der Prüfungsvereinbarung vom 22.06.2006 (im Folgenden "PV") über das Verfahren zur Überwachung und Prüfung der Wirtschaftlichkeit durch den Prüfungs- und Beschwerdeausschuss Ärzte Bayern nach § 106 SGB V regelt die arztbezogene Prüfung bei Überschreitung von Richtgrößen (Auffälligkeitsprüfung) näher. Gem. § 14 Abs. 1 Satz 3 PV ermittelt die Geschäftsstelle der Prüfgremien das tatsächliche Verordnungsvolumen (brutto) des jeweiligen Vertragsarztes und stellt dieses dem jeweiligen Richtgrößenvolumen gegenüber. Das Verordnungsvolumen (brutto) beinhaltet die Kosten sämtlicher vom Vertragsarzt verordneten Arznei- und Verbandmittel sowie den verordneten Sprechstunden-bedarf sowie gesondert die verordneten Heilmittel jeweils ohne Berücksichtigung der Zuzahlungen und der jeweils gültigen Rabatte (z.B. Apotheken-, Herstellerrabatt).

Nicht zu beanstanden ist, dass der Beklagte, nachdem er für das Quartal 3/2006 bereits eine Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten (Verordnung von Arzneimitteln) durchgeführt hatte, im Anschluss noch eine Richtgrößenprüfung der klägerischen Praxis für das Jahr 2006 vorgenommen hat. Gem. § 14 Abs. 5 Satz 1 PV schließt eine bereits durchgeführte Prüfung der ärztlichen Verordnungsweise bzw. des Sprechstundenbedarfs nach Durchschnittswerten eine Richtgrößenprüfung nicht aus. Als durchgeführt gilt eine Durchschnittsprüfung, wenn ein entsprechender Bescheid des Prüfungsausschusses zu-gestellt wurde (§ 14 Abs. 5 Satz 2 PV). Vorliegend ist die Richtgrößenprüfung 2006 am 06.10.2008 und somit nach der für das Quartal 3/2006 durchgeführten Durchschnittswertprüfung (Bescheid vom 07.11.2007) eingeleitet worden. Im Übrigen können sog. "einstweilige Durchschnittsprüfungen" im Interesse des hohen Rangs des Wirtschaftlichkeitsgebots durchgeführt werden (vgl. Clemens in: jurisPK, Stand 01.04.2012, § 106 SGB V Rn. 204). Dies gilt nach Auffassung der Kammer auch dann, wenn – wie vorliegend – im Rahmen der vorhergehenden Durchschnittswertprüfung, die im Übrigen nur ein Quartal des Jahres 2006 und lediglich die Verordnung von Arzneimitteln betraf, keine Regress-maßnahme zu Lasten des Vertragsarztes festgesetzt worden ist.

Der streitgegenständliche Bescheid ist jedoch zu beanstanden, soweit der Beklagte die Kosten sämtlicher Sprechstundenbedarfsverordnungen der Klägerin aus dem Jahr 2006 in die klägerischen Gesamtverordnungskosten einbezogen hat. Hierfür besteht keine gesetzliche Grundlage. Zudem enthalten die der Klägerin zugerechneten Gesamtverordnungskosten Verordnungskosten für Arzneimittel, die nicht eindeutig bestimmten Behand-lungsfällen zugeordnet werden können.

Nach der Vorschrift des § 84 Abs. 6 SGB V a.F. bezieht sich das Richtgrößenvolumen auf das Volumen der je Arzt verordneten Arznei- und Verbandmittel. Aufgrund der Verweisung von § 84 Abs. 6 Satz 1 SGB V a.F. auf die zu schließende Arzneimittelvereinbarung gem. § 84 Abs. 1 SGB V a.F., die gem. § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB V a.F. u.a. die von den Vertragsärzten nach § 31 SGB V a.F. veranlassten Leistungen umfasst, können auch Harn- und Blutteststreifen sowie Aminosäuremischungen, Eiweißhydrolysate, Elementar-diäten und Sondennahrung (vgl. § 31 Abs. 1 Sätze 1, 2 SGB V a.F.) in Richtgrößen ein-bezogen werden. Für andere als diese genannten Hilfsmittel können aber Richtgrößen nicht festgelegt werden (vgl. Clemens in: jurisPK, Stand 01.04.2012, § 106 SGB V Rn. 196).

Im vorliegenden Fall wurden entsprechend § 14 Abs. 1 Sätze 3, 4 PV in das klägerische Verordnungsvolumen pauschal die Kosten des von der Klägerin verordneten Sprechstundenbedarfs i.H.v. 23.562,44 EUR einbezogen. Eine Differenzierung entsprechend der Vorgaben des § 84 Abs. 1, 6 SGB V a.F. i.V.m. § 31 Abs. 1 Sätze 1, 2 SGB V a.F. sieht die ein-schlägige Prüfvereinbarung nicht vor. Eine solche ist auch von der Prüfungsstelle und dem Beklagten nicht zugunsten der Klägerin vorgenommen worden. Diese Vorgehensweise ist mit dem Gesetz nicht vereinbar (vgl. Clemens, ebenda, Rn. 196; in diese Richtung auch LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 27.07.2011, L 5 KA 28/11 B ER, Rn. 16 - juris).

Bei einer erneuten Entscheidung über den Widerspruch der Klägerin hat der Beklagte zu beachten, dass bei der Berechnung des Gesamtverordnungsvolumens der Klägerin nur diejenigen Sprechstundenbedarfsverordnungen Berücksichtigung finden dürfen, die Arzneimittel, Verbandmittel, Harn- und Blutteststreifen, Aminosäuremischungen, Eiweißhydrolysate, Elementardiäten sowie Sondennahrung umfassen. Es ist davon auszugehen, dass die Richtgröße weiterhin angewendet werden kann, auch wenn sie großzügiger aus-fällt, als es für diesen Verordnungs(teil)bereich an sich angedacht war (vgl. Clemens, ebenda, Rn. 198).

Darüber hinaus ist der streitgegenständliche Bescheid zu beanstanden, soweit die Gesamtverordnungskosten der Klägerin im Jahr 2006 Verordnungskosten für Arzneimittel enthalten, zu denen entweder keine Versichertennummer oder die Ziffer "0000000000" angegeben oder Arzneimittel als "unbekannt" bezeichnet wurden. Bezüglich der Kosten dieser Arzneimittel stand zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass den beigeladenen Krankenkassen ein Schaden entstanden ist. Der Beklagte hat in seinem Schriftsatz vom 12.03.2010 erläutert, dass Arzneimittel i.H. v. 3.502,07 EUR verordnet worden seien, bei denen entweder keine Versichertennummer oder die Ziffer "0000000000" angegeben worden sei. Darüber hinaus seien Kosten i.H.v. 6.642,40 EUR für als "unbekannt" bezeichnete Arzneimittel ermittelt worden. In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagtenvertreter lediglich eine exemplarische Übersicht übergeben, aus der sich ergibt, dass einzelne dieser verordneten Arzneimittel bestimmten Behandlungsfällen zugeordnet werden können. Eine Zuordnung sämtlicher in Frage ste-hender Arzneimittelverordnungen i.H.v. 10.144,47 EUR ist jedoch aufgrund der Aktenlage nicht möglich. Insofern bestehen Zweifel, ob die von den Krankenkassen bzw. den Prüfgremien der Klägerin zugeordneten Verordnungskosten von dieser tatsächlich in einem zum Regress berechtigenden Umfang veranlasst wurden. Daher fehlt insoweit für die Festsetzung eines Arzneikostenregresses die entscheidende Grundlage (BSG, Urteil vom 27.04.2005, Az. B 6 KA 1/04 R, Rn. 18 - juris).

Bei der erneuten Entscheidung über den Widerspruch der Klägerin hat der Beklagte zu beachten, dass entweder diejenigen Arzneimittelverordnungskosten, die nicht bestimmten Behandlungsfällen zugeordnet werden können, aus dem Gesamtverordnungsvolumen der Klägerin herausgerechnet werden oder aber ein Nachweis der Zuordnung dieser Verordnungskosten im Einzelnen nachgereicht wird.

Hinsichtlich der von der Klägerin angeführten Praxisbesonderheiten geht das Gericht da-von aus, dass der Beklagte den diesbezüglichen Mehrbedarf fehlerfrei und vollständig berücksichtigt hat. Die Art und der Umfang der Berücksichtigung der klägerischen Praxisbesonderheiten sind daher nicht zu beanstanden.

Schließlich findet auf den vorliegenden Fall entgegen der Auffassung der Klägerin der zum 01.01.2012 eingeführte § 106 Abs. 5e SGB V keine Anwendung. Danach erfolgt ab-weichend von Absatz 5a Satz 3 bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent eine individuelle Beratung nach Absatz 5a Satz 1 (§ 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V). Ein Erstattungsbetrag kann bei künftiger Überschreitung erstmals für den Prüfzeitraum nach der Beratung festgesetzt werden (§ 106 Abs. 5e Satz 2 SGB V). Dies gilt entsprechend, wenn ein Vertragsarzt die ihm angebotene Beratung abgelehnt hat (§ 106 Abs. 5e Satz 3 SGB V). Gem. § 106 Abs. 5e Satz 7 SGB V gilt § 106 Abs. 5e SGB V auch für Verfahren, die am 31.12.2011 noch nicht abgeschlossen waren. Der Gesetzgeber hat in der Gesetzesbegründung ausdrücklich bestimmt, dass für ein bereits vor dem Inkrafttreten abgeschlossenes Widerspruchsverfahren die Neuregelung nicht gilt, auch wenn eine Klage gegen die Entscheidung des Beschwerdeausschusses noch an-hängig ist (BT-Drs. 17/10156, S. 95; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.02.2013, Az. L 5 KA 222/13 ER-B, Rn. 36 – juris). Vorliegend war das Widerspruchs-verfahren am 28.07.2009 und somit vor Inkrafttreten des § 106 Abs. 5e SGB V abge-schlossen.

Der Beklagte ist daher verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin erneut zu entscheiden. Dabei wird er die oben näher erläuterte Rechtsauffassung des Gerichts zu beachten haben.

Die Kostenentscheidung basiert auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
Rechtskraft
Aus
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