S 2 KA 317/13

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
2
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 2 KA 317/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Streitig ist ein Regress wegen der Verordnung von Immunglobulinen.

Der Kläger ist ein Medizinisches Versorgungszentrum mit Sitz in E-S und ist als Schmerzzentrum tätig. In den streitbefangenen Quartalen 4/2010 bis 2/2011 stand dort u.a. die bei der Beigeladenen zu 1) Versicherte N C, geb. 00.00.1956, in Behandlung. In diesen Quartalen verordneten die Ärzte des Klägers für diese Patientin das intravenöse Immunglobulin Intratect®.

Auf Prüfantrag der Beigeladenen zu 1) setzte die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen Nordrhein mit Bescheid vom 10.09.2012 einen Regress in Höhe von 5.508,74 EUR netto fest.

Diesem Bescheid widersprach der Kläger.

Die Therapie mit intravenösem Immunglobulin sei aufgrund fachärztlich-neurologisch gestellter Indikation seit Oktober 2006 in monatlichen Abständen durchgeführt worden. In der Tat handele es sich hierbei um einen Off-Label-Use, wobei Herr U nicht selbst die Indikation für diese Form der Therapie gestellt habe, sondern diese von der betreuenden neurologischen Fachklinik (B1hospital1 B2, J) festgelegt worden sei. In Ermangelung alternativer Möglichkeiten sei diese Form der Therapie berechtigt gewesen. Die Patientin leide unter einer schweren Depression, die bereits 2003 aufgetreten sei, was die Durchführung einer Therapie mit dem zugelassenen Beta-Interferon eingeschränkt habe, weil unter einer Interferon-Therapie erhebliche psychiatrische Nebenwirkungen bis zu Suiziden beschrieben seien. Auch eine Therapie mit Mitoxantron sei von der Patientin aus Angst vor diesem Medikament (Zytostatikum) abgelehnt worden. Das jetzt zugelassene Medikament Tysabri (Natalizumab) sei seinerzeit noch nicht verfügbar gewesen.

Die gute Wirksamkeit der regelmäßigen Gammaglobulintherapie auf die Multiple Sklerose (MS) sei mehrfach fachneurologisch attestiert worden, nicht nur von der behandelnden Klinik, sondern auch von dem vor Ort mitbehandelnden Neurologen E.

Mit Bescheid vom 07.01.2013 wies der Beklagte den Widerspruch zurück:

Er stelle fest, dass Intratect® nicht zur Behandlung der Encephalitis disseminata zugelassen sei und somit hier die Behandlung in einem Off-Label-Use stattgefunden habe. Die von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) aufgestellten Voraussetzungen für einen kontrollierten Off-Label-Use lägen jedoch nicht vor. Zwar handele es sich bei der Erkrankung MS um eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung. Auch scheine es zumutbare Behandlungsalternativen wegen aufgetretener erheblicher Nebenwirkungen von Betaferon nicht zu geben. Es fehle aber jedenfalls an der für einen Off-Label-Use auf Kosten der Gesetzlichen Krankenversicherung erforderlichen Erfolgsaussicht. Auch habe der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) einen Beschluss vom 20.10.2011, veröffentlicht im Bundesanzeiger vom 11.01.2012, über eine Nichtänderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage VI - Off-Label-Use - Intravenöses Immunglobulin (IVIG) im Anwendungsgebiet MS bekannt gegeben, da sich weder eine positive noch eine negative Bewertung zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis habe feststellen lassen.

Hiergegen richtet sich die am 28.01.2013 erhobene Klage.

Der Kläger wiederholt und vertieft sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren. Er weist darauf hin, dass andere Therapien mit zugelassenen Präparaten (Beta-Interferon, Mitoxantron, Natalizumab) auf Grund von Kontraindikationen von Beginn an nicht eingesetzt worden seien. Soweit der G-BA seinen Beschluss über die Nichtänderung der AM-RL im Januar 2012 veröffentlicht habe, beziehe sich seine Stellungnahme auf einen Zeitpunkt, der deutlich hinter dem Zeitraum liege, in dem die Patientin mit Immunglobulinen behandelt worden sei. Ein therapierender Arzt könne immer nur in Richtlinien behandeln, die zum Zeitpunkt der Behandlung aktuell seien. Im Therapiezeitpunkt habe eine die Sinnhaftigkeit absolut negierende Stellungnahme aber nicht vorgelegen. Vielmehr gebe es ca. 90 Studien mit unterschiedlichem Studiendesign zum Einsatz von Immunglobulinen bei MS, wenngleich sich die Studienergebnisse unterschieden. Seit 9/2006 gebe es in der MS-Konsensusgruppe Konsens über eine Bewertung dahingehend, dass die immunmodulatorische Stufentherapie mit intravenösen Immunglobulinen als Reservetherapie eingesetzt werden könne. In den Oktober 2006 falle der Beginn der Behandlung mit intravenösem Immunglobulin in der Fachklinik. Dort sei die entsprechende Therapieentscheidung gestellt und immer wieder überprüft worden.

Im Übrigen halte die Entscheidung des Beklagten dem "Nikolaus-Beschluss" des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nicht stand. Im konkreten Fall der Patientin sei sogar der positive Wirknachweis der immunmodulatorischen Stufentherapie geführt und nicht "nur eine Aussicht auf eine spürbare Auswirkung". Auch das LSG Berlin-Brandenburg habe in einem Urteil vom 15.04.2011 - L 1 KR 326/08 - den Anspruch einer MS-Patientin mit Immunglobulinen gegenüber der GKV bejaht.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 07.01.2013 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verteidigt seinen Bescheid.

Im Zeitpunkt der Verordnung habe es jedenfalls an dem von der höchstrichterlichen Rechtsprechung für einen Off-Label-Use vorausgesetzten wissenschaftlich konsentierten Wirksamkeitsnachweis von Immunglobolinen bei MS gefehlt. Hierfür reichten nicht schon einzelne (positive) Meinungen aus. Ebenso wenig komme es darauf an, ob die arzneiliche Therapie im konkreten Behandlungsfall positiv bewertet werde.

Der den Verordnungen zeitlich nachfolgende Nichtänderungsbeschluss des G-BA zur AM-RL bestätige nichts anderes, als dass aufgrund der bislang geführten Diskussion und Erkenntnisse ein Off-Label-Use von intravenösen Immunglobolinen bei MS keinen wissenschaftlich konsentierten Wirkungsnachweis erbracht habe. Folglich hätten Versicherte gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V keinen Anspruch auf diese Versorgung zu Lasten der GKV.

Der Kläger könne sich auch nicht darauf berufen, er habe lediglich die Therapie der Fachklinik für Neurologie des B1hospitals B2 übernommen. Die arzneiliche Versorgung im stationären Bereich unterliegt anderen Bedingungen als in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung. Während bezüglich zulassungsüberschreitender Verordnungen von Arzneimitteln im ambulanten Bereich ein "Verbot mit Erlaubnisvorbehalt" gelte, seien im stationären Bereich solche Verordnungen unter einen "Verbotsvorbehalt" gestellt.

Letztlich liege in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung die Therapieverantwortung beim verordnenden Arzt. Soweit ihm diese bei Therapieausschlüssen aus der GKV eine Versorgung des Patienten "gebiete", sei dem durch Ausstellen eines Privatrezeptes nachzukommen.

Die Beigeladenen stellen keine Prozessanträge.

Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen nimmt die Kammer Bezug auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), da dieser nicht rechtswidrig ist.

Nach § 16 Abs. 1 Buchst. a) der maßgeblichen Prüfvereinbarung ab 01.01.2008 (Rhein. Ärzteblatt 12/2007, S. 62 ff.) haben die Prüfungsausschüsse auf Antrag der Krankenkassen u.a. zu prüfen, ob der Vertragsarzt in Einzelfällen unwirtschaftliche Behandlungsleistungen abgerechnet hat. Diese Regelung beruht auf der Ermächtigung in § 106 Abs. 2 Satz 4 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V). Danach können die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit der Kassenärztlichen Vereinigung über die in § 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V genannten Prüfungen hinaus andere arztbezogene Prüfungen vereinbaren. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfungen sind die Prüfgremien befugt, bei Verordnungen, die die Grenzen der Leistungspflicht der GKV nicht eingehalten haben, einen Regress festzusetzen (BSG, Urteil vom 20.03.2013 - B 6 KA 27/12 R -). Der durch einen Verordnungsregress auszugleichende "Schaden" entspricht demjenigen, der durch eine unwirtschaftliche Verordnungsweise im Sinne des § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V auszugleichen ist (vgl. BSG; Urteil vom 05.05.2010 - B 6 KA 5/09 R -; LSG NRW, Urteil vom 11.02.2009 - L 11 (10) KA 32/07 -).

Der von dem Beklagten ausgesprochene Regress ist auch materiell-rechtlich begründet. In den Quartalen 4/2010 bis 2/2011 verordnete der Kläger, dem im ambulanten Bereich die Therapieverantwortung obliegt, das Immunglobulin Intratect®, obwohl hierfür keine Leistungspflicht im Rahmen der GKV bestand, so dass der Beigeladenen zu 1) ein Schaden in entsprechender Höhe entstanden ist.

Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 SGB V haben Versicherte grundsätzlich Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln. Dieser Anspruch unterliegt indes den Einschränkungen aus § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V. Er besteht nur für solche Pharmakotherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Diese Anforderungen sind nicht erfüllt, wenn das verabreichte Medikament nach den Vorschriften des Arzneimittelrechts der Zulassung bedarf, aber nicht zugelassen ist, oder, wenn es zum Verkehr zugelassen ist, in einem Anwendungsgebiet verordnet wird, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt (BSG, Urteil vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R -).

Eine solche zulassungsüberschreitende Anwendung (sog. Off-Label-Use) liegt hier vor, denn die für Intratect® erteilte Zulassung umfasst die Substitution bei primären Immunmangelsyndromen, Myelom oder chronisch-lymphatischer Leukämie, Kindern mit angeborenem AIDS, Immunmodulation bei der idiopathischen thrombozytopenischen Purpura, dem Guillain-Barré-Syndrom und dem Kawasaki-Syndrom sowie bei allogener Knochenmarkstransplantation. Die Therapie der MS ist als Anwendungsgebiet nicht genannt

Nach der o.g. höchstrichterlichen Rechtsprechung kommt die Verordnung eines Medikamentes im Off-Label-Use zu Lasten der GKV nur in Betracht, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachteilig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, keine andere Therapie verfügbar ist und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.

Damit Letzteres angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit resp. einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. Dabei ist die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Behandlungserfolg, die für eine zulassungsüberschreitende Pharmakotherapie auf Kosten der GKV nachgewiesen sein muss, während und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens regelmäßig gleich. Der Schutzbedarf der Patienten, der dem gesamten Arzneimittelrecht zu Grunde liegt und in das Leistungsrecht der GKV einstrahlt, unterscheidet sich in beiden Situationen nicht. Für den Schutz der Patienten ist es gleichgültig, ob die erforderlichen Erkenntnisse innerhalb oder außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens gewonnen worden sind (BSG, Urteil vom 26.09.2006 - B 1 KR 14/06 R -).

Diese Voraussetzungen lagen bezüglich der Verordnung von Immunglobulinen für die Behandlung der sekundär chronischen oder schubförmig verlaufenden MS im Zeitpunkt der streitbefangenen Verordnungen nicht vor. Um eine solche Erkrankung handelt es sich nach dem Entlassungsbericht des B1hospitals B2 vom 27.09.2010 bei der Versicherten N C ("sekundär chronisch progredient verlaufende Encephalomyelitis disseminata", ICD-10-GM G35.31). Auf das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 15.04.2011 - L 1 KR 326/08 - kann sich der Kläger insofern nicht mit Erfolg berufen. Bei der MS-Erkrankung im dort streitigen Fall handelte es sich nicht um den sekundär-progredienten Verlaufstyp, sondern um eine schubförmige MS mit kumulativem Defektsyndrom. Innerhalb des breiten Krankheitsspektrums der MS seien nach Erkenntnis des gehörten Sachverständigen derartige Krankheitsbilder zwar selten, aber durchaus bekannt und in der Literatur beschrieben: Zunächst ein relativ milder schubförmiger Verlauf, dann Entwicklung einer hochaggressiven Phase von Schüben mit Aufbau eines kumulativen Defektsyndromes und schließlich unter einer immunmodulierenden Medikamentation ein stabiler Verlauf bei allerdings deutlichem Defektzustand. Eine solche Erkrankung ist bei der Patientin N C indes nicht beschrieben.

Das BSG hat sich mehrfach mit dem Anspruch von Versicherten auf Versorgung mit Immunglobulinen bei der Indikation MS befasst. In seinen Urteilen vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R - und vom 27.03.2007 -B 1 KR 17/06 R - hat es den Stand der medizinischen Forschung zu dieser Wirkstoffgruppe für die Jahre 1997 bis 2003 eingehend aufgearbeitet. Auch für die folgenden Jahre 2005 und 2006 hat das BSG erkannt, dass es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme des LSG an der erforderlichen Zulassungsreife der MS-Therapie mit Venimmun fehle (Urteil vom 28.02.2008 - B 1 KR 15/07 R -; vgl. dazu auch BSG, Urteile vom 05.05.2010 - B 6 KA 6/09 R, B 6 KA 20/09 R und B 6 KA 24/09 R -). Daran hat sich auch in der weiteren Folge nichts geändert. Nach einer am 02.06.2008 aktualisierten Veröffentlichung des PEI kann die Wirkung intravenös zu verabreichenden Immunglobuline bei schubförmiger MS derzeit weder bestätigt noch widerlegt werden. Es gebe zwar nach der Datenlage Hinweise auf eine mögliche Wirksamkeit von Immunglobulinen zur Behandlung der schubförmig verlaufenden MS, allerdings fehle bisher eine kontrollierte, adäquat durchgeführte Phase III-Studie, auf die die begründete Aussicht auf einen wirksamen Einsatz dieser Medikamentengruppe gestützt werden könnte. Es seien auch keine Forschungsergebnisse ersichtlich, die eine Zulassung des Präparats zur Behandlung der sekundär-chronischen oder der schubförmigen MS erwarten ließen (dazu näher LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 04.06.2009 - L 24 KR 213/08 -; vom 22.04.2009 - L 7 KA 6/09 -; vom 14.10.2009 - L 7 KA 135/06 -; vom 18.02.2010 - L 9 KR 2/08 -; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 08.02.2008 - L 4 KR 2153/06 -). Nach dem Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 13.07.2012 - L 1 KR 30/10 - liegen die generellen Voraussetzungen an die mutmaßliche Evidenz der Qualität und Wirksamkeit einer Behandlung der schubförmigen MS mit IVIG derzeit nach wie vor nicht vor. Die mittlerweile publizierte Phase-III-Studie PRIVIG für das IVIG-Arzneimittel Gamunex® habe den Nachweis, besser als Placebo-Infusionen zu wirken, nicht erbracht. Dies gelte sowohl im Hinblick auf Schubprophylaxe als auch auf eine Verzögerung der Krankheitsprogression. Es sei - insbesondere auch nach der Information des PEI und dem Beschluss des G-BA - nicht zu erwarten, dass die IVIG in absehbarer Zeit zur Behandlung der schubförmigen MS zugelassen sein werde. Aus Sicht des PEI werde nach der PRIVIG-Studie die Einschätzung der klinischen Wirksamkeit von IVIG bei schubförmiger MS gerade erschwert. Die Wirkung bei schubförmiger MS könne danach derzeit weder bestätigt noch widerlegt werden.

Der hier benannte Beschluss des G-BA vom 20.10.2011 (veröffentlicht im BAnz Nr. 6, S. 132, vom 11.01.2012), die AM-RL zu Anlage VI - Off-Label-Use: IVIG im Anwendungsgebiet MS - nicht zu ändern, stützt sich auf die Bewertung der Expertengruppe Off-Label im Bereich Neurologie/Psychiatrie nach § 35 c Abs. 1 SGB V zur Anwendung von IVIG im Anwendungsgebiet MS des BfArM vom 21.06.2010. Diese Expertengruppe hat aufgrund der Bewertung der aktuellen Evidenzlage einstimmig entschieden, weder eine positive noch eine negative Empfehlung von IVIG zur Off-Label-Behandlung bei MS abzugeben. Die Gründe lägen in den Diskrepanzen der Ergebnisse der unterschiedlichen Studien, die publiziert worden seien. Diese Diskrepanzen seien angesichts der variablen Studiendesigns, unterschiedlicher Populationen, unterschiedlicher Laufzeiten, heterogener Endpunkte und Surrogatparameter, fehlender Patientenstratifizierung etc. nicht unerwartet. Insbesondere fänden sich unter den verfügbaren methodisch guten, kontrollierten und randomisierten Studien zur Wirksamkeitsbeurteilung sowohl solche mit positivem als auch mit negativem Ergebnis. Ausgewertet wurden dabei Studien aus den Jahren 1982 bis 2008 (vollständige Bewertung abrufbar unter: http://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/Zulassung/offlabel/Bewertungen/Neuro/IVIG MS.pdf? blob=publicationFile&v=2).

Die für einen Off-Label-Use zu Lasten der GKV notwendige Voraussetzung, dass aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestehen muss, mit dem betreffenden Präparat könne ein Behandlungserfolg erzielt werden, weil Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann, ist damit für die vorliegende Behandlungssituation nicht gegeben. Es reicht als Grundlage für einen Off-Label-Use von Arzneimitteln in der GKV nicht aus, dass positive Folgen einer solchen Behandlung nach dem Wirkungsmechanismus von Immunglobulinen nicht schlechthin ausgeschlossen werden können, dass Patienten in Einzelfällen nach Verabreichung der umstrittenen Medikamente eine Verbesserung ihres Befindens beschreiben und dass einzelne Ärzte oder Wissenschaftler mit plausiblen Gründen einen von der verbreiteten Auffassung abweichenden Standpunkt zu den Erfolgsaussichten einer Behandlung vertreten (BSG, Urteil vom 05.05.2010 - B 6 KA 20/09 R -).

Im Hinblick auf § 135 Abs. 1 SGB V war daher die Verordnung von Immunglobulinen zur Behandlung der MS zu Lasten der GKV nicht zulässig. Diese Bestimmung ist als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ausgestaltet. Neue, nicht zugelassene Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen ohne eine entsprechende positive Entscheidung des G-BA nicht zu Lasten der GKV erbracht werden (BSG, Urteile vom 31.05.2006 - B 6 KA 13/05 R -; vom 21.03.2012 - B 6 KA 16/11 R -).

Auch nach den Maßstäben der "Nikolaus-Entscheidung" (BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005 - 1 BvR 347/98 -) war die Versorgung der Versicherten N C mit Immunglobulinen zu Lasten der Beigeladenen zu 1) nicht gerechtfertigt.

Die verfassungskonforme Auslegung durch das BVerfG hat zur Folge, dass im Rahmen der Anspruchsvoraussetzungen von § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit ausnahmsweise bejaht werden müssen, obwohl ein Mittel bzw eine Behandlungsmethode an sich von der Versorgung zu Lasten der GKV ausgeschlossen ist. Die verfassungskonforme Auslegung setzt u.a. voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt. Daran fehlt es.

Mit den Krankheits-Kriterien des BVerfG, die ab 01.01.2012 Niederschlag im Gesetz gefunden haben (§ 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V), wird eine strengere Vor-aussetzung umschrieben, als sie mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des Off-Label-Use formuliert ist. Denn hieran knüpfen weitergehende Folgen an. Ohne einschränkende Auslegung ließen sich fast beliebig vom Gesetzgeber bewusst gezogene Grenzen überschreiten. Entscheidend ist, dass das vom BVerfG herangezogene Kriterium bei weiter Auslegung sinnentleert würde, weil nahezu jede schwere Krankheit ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen nach sich zieht. Das kann aber ersichtlich nicht ausreichen, das Leistungsrecht des SGB V und die dazu ergangenen untergesetzlichen Regelungen nicht mehr als maßgebenden rechtlichen Maßstab für die Leistungsansprüche der Versicherten anzusehen (BSG, Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R -).

Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Solches ist bei einer bestehenden MS in sekundär-progredienter Verlaufsform trotz der unbestreitbaren Schwere dieser Krankheit nicht anzunehmen (BSG, Urteil vom 27.03.2007 - B 1 KR 17/06 R -; hierzu BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 30.06.2008 - 1 BvR 1665/07 -: "durch nahe Lebensgefahr gekennzeichnete individuelle Notlage"; vgl. ferner BSG, Beschluss vom 12.07.2013 - B 1 KR 123/12 B -).

Die streitigen Verordnungen wären daher als Privatrezept auszustellen gewesen. Das BVerfG hat mehrfach betont, dass aus den Grundrechten regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen folgt, und die gesetzlichen Krankenkassen nicht von Verfassungs wegen gehalten sind, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (z.B. Beschlüsse vom 06.12.2005 - 1 BvR 347/98 - und vom 30.06.2008 - 1 BvR 1665/07 -). Das schließt insbesondere eine stationäre Behandlung zu Lasten der GKV als Alternative zur Pharmakotherapie der MS aus, wenn eine echte Indikation für eine stationäre Behandlung nicht gegeben ist.

Der streitige Regress ist daher rechtmäßig erfolgt. Dies gilt auch hinsichtlich seiner Höhe, die nur die Netto-Kosten erfasst.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Rechtskraft
Aus
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