S 2 KA 483/12

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
2
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 2 KA 483/12
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Streitig ist ein Regress wegen der Verordnung von Zolpidem.

Der Kläger ist Facharzt für Allgemeinmedizin und in E zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. In den streitbefangenen Quartalen 1/2010 bis 4/2010 stand u.a. die bei der Beigeladenen zu 1) Versicherte D C, geb. 00.00.1949, in seiner Behandlung. In diesen Quartalen verordnete der Kläger für diese Patientin Zolpidem-ratiopharm 10 mg Filmtabletten.

Unter dem 15.12.2011 stellte die beigeladene BKK vor Ort einen Antrag auf Prüfung in besonderen Fällen für diese Quartale. Die empfohlene Tagesdosis von Zolpidem betrage 10 mg (eine Tablette). Frau C habe im Jahr 2010 pro Monat 4 x 20 Tabletten der Stärke 10 mg verordnet bekommen. Damit sei die empfohlene Tagesdosis überschritten worden (2,6 Tbl. pro Tag).

Zu diesem Prüfantrag nahm der Kläger mit Schreiben vom 27.01.2012 dahin Stellung, nach dem plötzlichen, nicht verarbeiteten Tod des Ehemanns 1998 habe Frau C unter Panikattacken, Depressionen mit Schlafstörungen gelitten. Dadurch sei eine stationäre Behandlung vom 06.08.99 bis 08.01.00 auf der psychiatrischen Abteilung des T. W Hospital notwendig geworden. Sie sei mit folgenden psychiatrischen Medikamenten entlassen worden: Dogmatil Kps, Stilnox Tbl und Aponal 50 Tbl. Bis heute sei es ihm, dem Kläger, gelungen, Dogmatil und Aponal völlig abzusetzen, jedoch in Bezug der immer noch schweren Schlafstörungen habe er bei der Medikation mit Zolpidem bleiben müssen. Es sei mehrmals versucht worden, Zolpidera ab- oder umzusetzen, jedoch ohne Erfolg. Die Patientin leide immer noch unter dem Tod ihres Ehemannes, was sich durch schwere Schlafstörungen äußere. Ohne Zolpidem sei die Patientin nicht in der Lage, ihre sozialen Kontakte aufrecht zu erhalten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Bei einem Krankenhausaufenthalt im T. W Hospital vom 19.04.2011 bis 02.05.2011 seien auch dort rezid. depressive Störungen mit Schlafstörungen diagnostiziert worden. Auch dort sei empfohlen worden, die häusliche Medikation wie bisher beizubehalten. Selbstverständlich werde er weiterhin versuchen, das Zolpidem zu reduzieren oder abzusetzen. Wenn das jedoch zu einer Verschlimmerung der Depressionen und Schlafstörungen folgen sollte bis hin zu einer erneuten Einweisung, sehe er in der Verschreibung eines Schlafmittels den geringeren Schaden der Kasse als eine stationäre psychiatrische Behandlung. Mit Bescheid vom 02.04.2012 gab die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen Nordrhein dem Antrag der Beigeladenen zu 1) statt und setzte einen Regress für die Verordnungen von Zolpidem in Höhe von 504,47 EUR netto für die Quartale 1/2010 bis 4/2010 fest.

Einen hiergegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Bescheid vom 10.09.2012 zurück:

Laut Fachinformation sei Zolpidem zur Kurzzeitbehandlung von Schlafstörungen zugelassen. Die Dauer der Behandlung sollte so kurz wie möglich sein. Sie sollte im Allgemeinen wenige Tage bis zu 2 Wochen betragen und, einschließlich der schrittweisen Absetzphase, 4 Wochen nicht übersteigen. In bestimmten Fällen könne eine über die maximale Behandlungsdauer hinausgehende Behandlung erforderlich sein. Sie sollte jedoch nicht ohne erneute Beurteilung des Zustandsbildes des Patienten erfolgen. Die empfohlene Tagesdosis für Erwachsene betrage 10 mg Zolpidemtartrat unmittelbar vor dem Schlafengehen.

Die Anwendung von Benzodiazepin-ähnlichen Arzneistoffen könne zur Entwicklung von körperlicher und seelischer Abhängigkeit führen. Dies gelte nicht nur für die missbräuchliche Anwendung besonders hoher Dosen, sondern auch bereits für den therapeutischen Dosierungsbereich. Das Risiko einer Abhängigkeit steige mit der Dosis und der Dauer der Behandlung. Derartige Arzneimittel zur Behandlung von Schlafstörungen seien gemäß Anlage III Ziffer 32 der AM-RL zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherungen nur eingeschränkt ver-ordnungsfähig:

- ausgenommen zur Kurzzeittherapie bis zu 4 Wochen - ausgenommen für eine länger als 4 Wochen dauernde Behandlung in medizinisch begründeten Einzelfällen.

Eine längerfristige Anwendung von Hypnotika/Hypnogenen oder Sedativa sei besonders zu begründen.

Der Kläger habe das Medikament Zolpidem für die Patientin D C laut Prüfantrag in der Zeit vom 08.01.2010 bis 27.12.2010 verordnet. Es seien 49 Verordnungen à 20 Tabletten Zolpidem im Jahr 2010 ausgestellt worden. Damit seien die Kurzzeittherapie von 4 Wochen und die empfohlene Tagesdosis von 10 mg bei Weitem überschritten worden. Durch die Anzahl und Dauer der Verordnungen von Zolpidem habe der Kläger gegen die Arzneimittel-Richtlinie gehandelt.

Hiergegen richtet sich die am 25.09.2012 erhobene Klage.

Der Kläger trägt vor, er habe der Patientin das Medikament über einen längeren Zeitraum verordnet. Insoweit ergebe sich aus § 31 Abs. 1 SGB V in Verbindung mit § 16 Abs. 5 der Arzneimittelrichtlinien, dass eine abweichende Verordnung ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen zulässig sei. Zur Stützung seines Vortrages verweist der Kläger auf einen Krankenbericht der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie N L vom 21.11.2012. Aus diesem ergebe sich, dass die Verordnung von Zolpidem bei der Patientin C zwingend erforderlich sei.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 26. Juni 2012 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verteidigt seinen Bescheid. Eine längerfristige Anwendung von Hypnotika/Hypnogene oder Sedativa sei besonders zu begründen. Nach § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V (gleichlautend § 16 Abs. 5 AM-RL) könne der Vertragsarzt Arzneimittel, die aufgrund der Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nummer 6 von der Versorgung ausgeschlossen seien, ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen mit Begründung verordnen. Nach dem eindeutigen Wortlaut dieser Bestimmung reiche es danach nicht für die ausnahmsweise Verordnung zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung, einen medizinisch begründeten Einzelfall darzulegen, sondern die Verordnung sei zeitgleich mit einer Begründung zu versehen. Dies sei vorliegend nicht geschehen. Abgesehen davon, dass die Stellungnahme des Klägers vom 21.11.2012 nur den Einzelfall medizinisch begründe, erfüllt die "nachgereichte" Begründung das Tatbestandsmerkmal einer Verordnung mit Begründung nicht. Hierzu hätte es der Kennzeichnung eines Ausnahmefalles auf den jeweiligen Arzneiverordnungsblättern nach Muster 16 gemäß Anlage 2 zum BMV-Ä bedurft.

Die Beigeladenen stellen keine Prozessanträge.

Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen nimmt die Kammer Bezug auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer ist für den Kläger und die Beigeladenen zu 1) und 2) niemand erschienen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat am Sitzungstag per Telefax mitgeteilt, er werde den Termin zur mündlichen Verhandlung nicht wahrnehmen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte in Abwesenheit des Prozessbevollmächtigten des Klägers sowie von Vertretern der Beigeladenen zu 1) und 2) verhandeln und entscheiden, da auf diese Möglichkeit in den form- und fristgerecht zugestellten Terminbenachrichtigungen hingewiesen worden ist.

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), da dieser nicht rechtswidrig ist.

Nach § 16 Abs. 1 Buchst. a) der maßgeblichen Prüfvereinbarung ab 01.01.2008 (Rhein. Ärzteblatt 12/2007, S. 62 ff.) haben die Prüfungsausschüsse auf Antrag der Krankenkassen u.a. zu prüfen, ob der Vertragsarzt in Einzelfällen unwirtschaftliche Behandlungsleistungen abgerechnet hat. Diese Regelung beruht auf der Ermächtigung in § 106 Abs. 2 Satz 4 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V). Danach können die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit der Kassenärztlichen Vereinigung über die in § 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V genannten Prüfungen hinaus andere arztbezogene Prüfungen vereinbaren. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfungen sind die Prüfgremien befugt, die Einhaltung der das Wirtschaftlichkeitsgebot umsetzenden Bestimmungen auch im Einzelfall zu überprüfen und gegebenenfalls einen Regress festzusetzen. Der durch einen Verordnungsregress auszugleichende "Schaden" entspricht demjenigen, der durch eine unwirtschaftliche Verordnungsweise im Sinne des § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V auszugleichen ist (vgl. BSG; Urteil vom 05.05.2010 - B 6 KA 5/09 R -; LSG NRW, Urteil vom 11.02.2009 - L 11 (10) KA 32/07 -).

Der von dem Beklagten ausgesprochene Regress ist auch materiell-rechtlich begründet.

Der Regress stützt sich darauf, dass der Kläger bei der Pharmakotherapie mit dem Arzneimittel Zolpidem die Anzahl und die Dauer der Verordnungen überschritten hatte. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist eine Dosierung, die über die Therapieempfehlungen der Roten Liste und der Fachinformation hinaus geht, grundsätzlich rechtswidrig, soweit es nicht für die Abweichung eine medizinische Rechtfertigung gibt, was etwa aufgrund von Besonderheiten im zugrunde liegenden Behandlungsfall denkbar sein kann (BSG, Beschluss vom 03.11.2010 - B 6 KA 35/10 B -).

Zolpidem ist eine Benzodiazepin-verwandte Substanz mit vorwiegend sedativer und schlafanstoßender Wirkung. Die Substanz verstärkt die Wirkung des inhibitorischen Neurotransmitters GABA (y-Aminobuttersäure) durch alloste-rischen Angriff an der spezifischen a1-Untereinheit des GABAA-Rezeptors. Dies führt durch einen verstärkten Chlorid-Einstrom zu einer Hyperpolarisation von Nervenzellen und zu einer Reduktion der neuronalen Erregbarkeit (Lauer-Taxe online zu Zolpidem ratiopharm 10 mg Filmtabl.; Stoffinformation aus den Wirkstoffdossiers).

Nach der Fachinformation der Fa. ratiopharm GmbH zu Zolpidem-ratiopharm 10 mg Filmtabletten sollte die Dauer der Behandlung so kurz wie möglich sein. Sie sollte im Allgemeinen wenige Tage bis zu 2 Wochen betragen und, einschließlich der schrittweisen Absetzphase, 4 Wochen nicht übersteigen. Die Absetzphase sollte auf den einzelnen Patienten abgestimmt sein. In bestimmten Fällen kann eine über die maximale Behandlungsdauer hinausgehende Behandlung erforderlich sein. Sie sollte jedoch nicht ohne erneute Beurteilung des Zustandsbildes des Patienten erfolgen. Die empfohlene Tagesdosis für Erwachsene beträgt 10 mg Zolpidemtartrat unmittelbar vor dem Schlafengehen.

Rechtlich bestimmt Nr. 32 der Anlage III zu den Arzneimittel-Richtlinien (AM-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), dass Hypnotika/Hypnogene oder Sedativa (schlaferzwingende, schlafanstoßende, schlaffördernde oder beruhigende Mittel) zur Behandlung von Schlafstörungen nur zur Kurzzeittherapie bis zu 4 Wochen oder für eine länger als 4 Wochen dauernde Behandlung in medizinisch begründeten Einzelfällen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähig sind. Eine längerfristige Anwendung von Hypnotika/Hypnogenen oder Sedativa ist besonders zu begründen.

Hintergrund ist, dass die Anwendung von Benzodiazepinen oder benzodiazepin-ähnlichen Stoffen zur Entwicklung von physischer und psychischer Abhängigkeit von diesen Substanzen führen kann. Das Risiko einer Abhängigkeitsentwicklung steigt mit der Dosis und der Dauer der Behandlung (Fachinformation zu Zolpidem-ratiopharm, Punkt 4.4; vgl. ferner IQWiG, Medikamentenabhängigkeit: Was hilft beim Absetzen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln?, erstellt am 20.04.2010, letzte Aktualisierung: 06.11.2013, http://www.gesundheitsinformation.de/medikamentenabhaengigkeit-was-hilft-beim-absetzen-von-schlaf-und.638.de.html).

Die AM-RL sind gemäß § 91 Abs. 6 SGB V für die Vertragsärzte bindend (vgl. BSG, Urteil vom 14.12.2011 - B 6 KA 29/10 R -).

Zutreffend weist der Kläger insoweit darauf hin, dass der Vertragsarzt nach § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V (gleichlautend § 16 Abs. 5 AM-RL) Arzneimittel, die aufgrund der Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nummer 6 von der Versorgung ausgeschlossen sind, ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen mit Begründung verordnen kann.

Eine Arzneimittelverordnung "mit Begründung" liegt hier jedoch nicht vor. Weil der Gesetzgeber die Durchbrechung des vom G-BA vorgenommenen Verordnungsausschlusses nur unter sehr engen Voraussetzungen zulassen will ("ausnahmsweise", "in medizinisch begründeten Einzelfällen", "mit Begründung"), muss die erforderliche Begründung in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Verordnung abgegeben und nach außen kundgetan werden, indem sie z.B. auf dem Verordnungsvordruck selbst enthalten ist oder diesem beigefügt oder zeitnah der betroffenen Krankenkasse übermittelt wird. Zu diesem Zweck enthält der Rezeptvordruck nach Muster 16 oben rechts ein eigenständiges Feld "Begr.-Pflicht" (zwischen "Spr.-St. Bedarf" und "Apotheken-Nummer/IK"). Würde es hingegen genügen, dass bei einer auf § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V gestützten vertragsärztlichen Verordnung die gesetzlich vorgeschriebene Begründung z.B. erstmals in einem viel später durchgeführten Regressverfahren gegeben wird, unterschiede sich der Fall nicht von anderen Einzelverordnungsregressen, in denen typischerweise die Verordnungsfähigkeit eines Arzneimittels erstmals im Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung (§ 106 SGB V) geklärt wird. Das Tatbestandsmerkmal "mit Begründung" liefe dann leer (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.02.2012 - L 9 KR 292/10 -; SG Marburg, Gerichtsbescheid vom 08.07.2013 - S 12 KA 722/11 -). Das Begründungserfordernis verlangt auch, das die Therapieentscheidung zu dokumentieren ist (§ 10 Abs. 1 Satz 2 AM-RL).

An einer solchen Begründung fehlt es bei den beanstandeten Verordnungen. Insbesondere vermag die Bezugnahme auf den Entlassungsbericht des T. W Hospitals vom 12.05.2011 (Krankenhausaufenthalt der Versicherten dort vom 19.04.2011 bis 02.05.2011) und den Krankenbericht der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie N. L vom 21.11.2012, die beide Behandlungen der Versicherten in den Jahren 2011/2012 betreffen, keine Begründung für die Verordnungen im Jahre 2010 darzustellen. Rechtsfehlerfrei durfte der Beklagte deshalb die Kosten für das in den Quartalen 1/2010 bis 4/2010 verordnete Zolpidem regressieren. Die Gesamtsumme ist dabei rechnerisch aus den einzelnen Nettokosten fehlerfrei berechnet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Anlass, die Berufung zuzulassen (§ 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG), besteht nicht.
Rechtskraft
Aus
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