L 4 P 1632/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 10 P 1511/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 1632/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 19. Februar 2013 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte zu Recht die Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe II für die Zeit vom 18. September 2009 bis 30. Juni 2011 aufgehoben hat.

Der 1966 geborene und am 2012 verstorbene Ehemann der Klägerin (im Folgenden: Versicherter) war Mitglied bei der Beklagten oder einer ihrer Rechtsvorgängerinnen (im Folgenden einheitlich Beklagte), auch als Trägerin der sozialen Pflegeversicherung. Er litt seit 1984 an rezidivierenden Schwellungen im Gesicht, an Lippen, Zunge und Rachen sowie an Atembeschwerden, weshalb die Diagnosen eines Melkersson-Rosenthal-Syndroms, teils nur als Verdachtsdiagnose, oder der Verdacht auf ein Quincke-Ödem gestellt wurden. Während einer stationären familienorientierten Rehabilitation, in deren Verlauf es zu mehreren Attacken mit Gesichtsschwellungen und Schmerzen im Gesichtsbereich sowie Atemnotbeschwerden kam, wurde am 15. Mai 2008 ein Port implantiert, um bei akuten Attacken schnell Medikamente applizieren zu können (Bericht des Kinderarztes Dr. T. vom 28. Mai 2008). Seit 9. Mai 2008 waren ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen G, B, H und RF festgestellt. Die Beklagte als Trägerin der Rentenversicherung bewilligte dem Versicherten ab 1. August 2005 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit, die mehrmals verlängert wurde, zuletzt bis 30. September 2013. Die Beklagte als Trägerin der sozialen Pflegeversicherung bewilligte dem Versicherten für die Zeit vom 4. Juli 2007 bis 29. Februar 2008 Pflegegeld nach der Pflegestufe I (Bescheid vom 20. Februar 2008). Ob nach Ablauf dieses Zeitraums eine weitere Bewilligung erfolgte, ergibt sich aus den von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten nicht.

Auf den Antrag des Versicherten vom 16. Juli 2008 auf Höherstufung bewilligte die Beklagte ab diesem Tag Pflegegeld nach der Pflegestufe II (Bescheid vom 18. August 2008). Dieser Bewilligung lag das Gutachten der Pflegefachkraft K., Sozialmedizinischer Dienst der Beklagten (SMD), vom 4. August 2008 zugrunde. Sie nannte als im Vordergrund stehende pflegebegründende Diagnosen ein Melkersson-Rosenthal-Syndrom und eine Trigeminus-Neuralgie beidseits sowie als weitere Diagnosen unter anderem eine eingeschränkte Beweglichkeit wegen Schmerzen, depressive Phasen und extreme Angstattacken. Sie schätzte den täglichen Hilfebedarf bei der Grundpflege auf 126 Minuten (Körperpflege 66 Minuten, Ernährung und Mobilität jeweils 30 Minuten). Der Versicherte fühle sich allgemein sehr kraftlos und liege meist ganztägig auf der Couch. Wegen der eingeschränkten Beweglichkeit im Ober- und Unterkörper benötige der Versicherte intensive Hilfestellung bei allen Aktivitäten im Bereich der Körperpflege, bei der mundgerechten Zubereitung der Nahrung wegen fehlender Kraft, eingeschränkter Feinmotorik und des Tremors in beiden Händen, bei der Nahrungsaufnahme wegen des Tremors, beim Aufstehen/Zu-Bett-Gehen wegen der Schmerzen bei Bewegung und des Schwankschwindels sowie der deshalb bestehenden hohen Sturzgefahr, beim An- und Auskleiden, weil er wegen Schmerzen die Arme nicht über den Kopf heben könne, sowie bei der mindestens einmal wöchentlichen Begleitung in eine Arztpraxis und der damit verbundenen Wartezeit. Pflege erschwerend seien die durch Bewegung hervorgerufenen Schmerzen.

Wegen der Weiterbewilligung der Rente wegen voller Erwerbsminderung erstattete Dr. G., SMD, ihr Gutachten vom 28. April 2009 nach einer körperlichen Untersuchung des Klägers am Vortag. Sie diagnostizierte rezidivierende anfallsartige Trigeminusneuralgien beidseits mit Schwellneigung und Atemnot, eine Angststörung bei unsicherer Persönlichkeit sowie eine Inaktivitätsatrophie der Skelettmuskulatur. Sie nahm ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden an, besprach mit dem Versicherten, dass er seinen Körper durch Bewegung dringend wieder stärken müsse, und schlug eine mehrwöchige psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme vor mit dem Ziel, Ängste abzubauen, Selbstbewusstsein zu erlangen und eine körperliche Kondition zu erreichen. Weiter führte sie aus, nach der Untersuchung habe sich u.a. keine Begründung mehr für den zuletzt festgestellten Umfang aus der Pflegeversicherung gefunden. Die Beklagte als Trägerin der Rentenversicherung bewilligte dem Versicherten eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation (Bescheid vom 20. Mai 2009), die der Versicherte nicht antrat. Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. Sc., Chefarzt der von der Beklagten ausgewählten Rehabilitationseinrichtung, führte im Schreiben vom 18. September 2009 nach einem Vorgespräch mit dem Versicherten am 16. September 2009 aus, aus organmedizinischer und psychotherapeutischer Sicht bestehe beim Versicherten keine Rehabilitationsfähigkeit. Er sei weitgehend auf Hilfe von außen (derzeit die Klägerin, die Schwiegermutter und ein ambulanter Pflegedienst) angewiesen und könne sich nur wenig selbst versorgen. Arzt für Allgemeinmedizin und Arbeitsmedizin Dr. Fr., SMD, vertrat in seiner Stellungnahme vom 22. April 2010 unter Bezugnahme auf dieses Schreiben des Dr. Sc. die Auffassung, es ergebe sich keinerlei Notwendigkeit, ein stationäres Heilverfahren einleiten zu müssen.

Die Beklagte veranlasste eine Überprüfung der bisherigen Pflegestufe. Daraufhin erstattete Ärztin Dr. G., SMD, ihre gutachterliche Stellungnahme nach Aktenlage vom 9. Juni 2009. Wegen der am 27. April 2009 erfolgten körperlichen Untersuchung verzichtete sie auf eine Begutachtung in der Häuslichkeit. Sie kam zu der Auffassung, seit 27. April 2009 sei in keiner grundpflegerischen Verrichtungen Hilfe erforderlich und durch Behandlung eine Besserung eingetreten. Zum Zeitpunkt der Untersuchung habe der Versicherte allein gewohnt, da die Klägerin wegen Aufnahme einer Beschäftigung umgezogen sei. Er wasche sich jetzt allein. Bei der körperlichen Untersuchung hätten sich keine Gelenksversteifung und Lähmungen gezeigt. Er habe sich allein die Kleidung (lange Hose) und Schuhe ausgezogen, den Oberkörper freigemacht sowie nach der Untersuchung sich wieder selbstständig bekleidet. Es habe sich bei der Untersuchung eine Muskelverschmächtigung gefunden, weshalb eine eingeschränkte Möglichkeit der Kraftentwicklung nachvollziehbar sei. Bei der Untersuchung fielen zunächst zögerliche und vorsichtige Bewegungsabläufe auf. Der Versicherte habe sich aus Angst vor einsetzenden Schmerzen und Anfällen von Schwellungen im Gesicht und Rachenraum wenig und nur wenn nötig bewegt. Im Verlaufe der zweistündigen Untersuchung hätten die Ängste eindeutig nachgelassen und der Versicherte habe die erforderlichen Übungen zur Funktionsprüfung von Wirbelsäule und Gelenke gut ausgeführt. Nach Anhörung des Versicherten hob die Beklagte gestützt auf § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ihren Bescheid vom 18. August 2008 für die Zukunft auf und stellte die Leistungen mit Ablauf des Tages der Bekanntgabe des Bescheides ein, weil mindestens erhebliche Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe I) nicht mehr vorliege (Bescheid vom 11. September 2009).

Der Versicherte erhob Widerspruch und legte ein ausgefülltes Pflegetagebuch für den Zeitraum vom 28. Oktober bis 10. November 2009 vor, in welchem die Klägerin ergänzend vermerkte, sein Zustand sei derzeit sehr instabil. Auf Veranlassung der Beklagten erstattete Internist Dr. R. zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit sein Gutachten (ohne Datum) aufgrund einer Untersuchung in der Wohnung des Versicherten am 19. März 2010 (im Folgenden Gutachten vom 19. März 2010) und zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit sein Gutachten vom 16. April 2010 aufgrund einer körperlichen Untersuchung am 12. April 2010 in den Räumen der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg. Im Gutachten vom 19. März 2010 nannte er als pflegebegründende Diagnose ein Melkersson-Rosenthal-Syndrom, schätzte den täglichen Hilfebedarf auf 0 Minuten und führte aus, das Gutachten der Pflegefachkraft K. vom 30. Juli 2008 sei zu beanstanden. Sie habe einen Pflegebedarf aus Beeinträchtigungen abgeleitet, die weder mit der Krankheit Melkersson-Rosenthal-Syndrom noch mit den differenzialdiagnostisch in Betracht zu ziehenden Diagnosen Angioödem oder Quinke-Ödem verknüpft seien. Bei der heutigen Begutachtung habe ein akutes Krankheitsbild bestanden, das mit den genannten Diagnosen in Einklang stehe. Eine tiefergehende Untersuchung sei wegen der akuten Ausprägung nicht durchführbar gewesen. Für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit fehle es unter anderem an der Regelmäßigkeit. Sämtlichen genannten Krankheiten liege charakteristischerweise ein Auftreten in Schüben, die 2009 kaum und 2010 mehrmals aufgetreten seien, zugrunde. Funktionsbeeinträchtigungen, die Pflegebedürftigkeit begründen würden, könnten in Kenntnis dieser Krankheit ausgeschlossen werden. Im Gutachten vom 16. April 2010 führte er aus, das Leistungsvermögen des Versicherten sei gegenwärtig aufgehoben.

Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch des Versicherten zurück (Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 2010). Im Vergleich zur Begutachtung vom 30. Juli 2008 sei eine Änderung in den Verhältnissen eingetreten, weil sich die Anzahl und die Intensität der Anfälle durch die Behandlung mit dem Portsystem verringert habe. Dem Versicherten sei es wieder möglich, außerhalb eines akuten Schubs die täglichen Verrichtungen selbst durchzuführen. Der Bewilligungsbescheid vom 18. August 2008 sei daher gemäß § 48 SGB X mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben gewesen.

Wegen der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs zahlte die Beklagte Pflegegeld weiter (Bescheid vom 7. Oktober 2009), hob diesen Bescheid nach Erlass des Widerspruchsbescheids auf und forderte das vom 18. September 2008 bis 30. Juni 2010 gezahlte Pflegegeld in Höhe von EUR 4.022,00 zurück (Bescheid vom 3. Juni 2010). Der Versicherte erhob Widerspruch.

Der Versicherte erhob am 18. Juni 2010 Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG), die die Klägerin nach seinem Tod fortführte. Am 27. April 2009 (Tag der Untersuchung durch Dr. G.) habe sich eine Ausnahmesituation dargestellt, welche keinesfalls seine grundsätzliche Lebenssituation widerspiegele. Im April 2009 habe bis zu seinem Nachzug zu ihr (der Klägerin) seine (des Versicherten) Schwester die Pflege übernommen, weshalb verständlicherweise Gesichtspunkte der Scham eine Rolle gespielt hätten. Die Erkrankung zeichne sich durch bestimmte Krankheitsschübe aus. In den Phasen dazwischen sei die Lebenssituation besser, ohne dass er (der Versicherte) die täglichen Verrichtungen vollständig allein übernehmen könne. Zweimal wöchentlich habe er im streitgegenständlichen Zeitraum Physiotherapie wahrgenommen, zu der er regelmäßig durch sie (die Klägerin) hingefahren worden sei. Die Wegstrecke betrage zehn bis 15 Minuten. Der Versicherte reichte Atteste des Internisten Dr. Ke. vom 11. Februar und 31. Mai 2011 (sämtliche Verrichtungen des täglichen Alltags müssten mit fremder Hilfe erledigt werden) sowie die Stellungnahme der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Z. vom 27. April 2011 (aus neuropsychiatrischer Sicht sei der Versicherte ein Pflegefall und auf fremde Pflegedienste oder die noch berufstätige Klägerin angewiesen) ein.

Die Beklagte trat der Klage unter Verweis auf die durchgeführten Begutachtungen entgegen.

Vom 23. August bis 7. September 2010 befand sich der Versicherte in stationärer Behandlung. Er berichtete bei der Aufnahme über seit einem Jahr zunehmende Schmerzen im Bereich des ganzen Körpers, Kribbelmissempfindungen, Taubheitsgefühle im Bereich der Extremitäten, beinbetont, sowie seit sechs Monaten bekannte Sehstörungen. Die radiologische Untersuchung der Halswirbelsäule und der Lendenwirbelsäule zeigte degenerative Veränderungen sowie Protrusionen. Eine psychiatrisch-konsiliarische Vorstellung empfahl bei bekannter reaktiver Depression mit Anpassungsstörungen eine höhere Dosierung der Medikation. Am 2. und 6. September 2010 traten linksseitige neuralgieforme Gesichtsschmerzen sowie Schwellungen im Bereich des linken oberen Jochbeins und der Oberlippe bzw. des rechten oberen Jochbeins auf, die sich unter Behandlung besserten (vom SG beigezogener Bericht des Chefarztes K. vom 12. Oktober 2010). Vom 1. bis 29. Mai 2011 befand sich der Versicherte als Begleitperson seiner beiden Kinder in einer familienorientierten Rehabilitation in der Nachsorgeklinik T ... Dr. D., Ärztlicher Leiter dieser Klinik, unterrichtete das SG und die Beklagte (Schreiben vom 16. Mai 2011), der Versicherte habe bereits mehrmals eine intensivmedizinische Behandlung benötigt. Er liege fast bewegungsunfähig im Bett und benötige eine intensive Pflege.

Das SG zog die den Versicherten betreffenden Schwerbehindertenakten des Landratsamts Bodenseekreis - Versorgungsamt - sowie die Akten des Sozialgerichts Neubrandenburg (S 5 SB 28/08) bei und hörte den Versicherten behandelnde Ärzte als sachverständige Zeugen. Dr. Ke. nannte in seiner Auskunft vom 9. Mai 2011 unter anderem eine allgemeine Schwäche bis Kachexie, weshalb sämtliche Verrichtungen des täglichen Alltags nur mit Hilfe der Klägerin möglich seien. Ärztin Z. teilte in ihrer Auskunft vom 7. Juni 2011 mit, der Versicherte habe wiederholt über Schwellungen und Schmerzen im Gesicht, gelegentlich mit Schleimhautblutungen geklagt. Er habe an depressiven Verstimmungen gelitten und sei körperlich rasch hinfällig und hilfebedürftig geworden. Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten Winkler berichtete in seiner Auskunft vom 6. Juli 2011 über neun Behandlungen in der Zeit von September 2008 bis Juni 2011, die parallel zu Behandlungen in der Hautklinik der Charité erfolgt seien.

Die W.-Z. Kliniken übersandten die Berichte des Chefarztes Dr. Sa. über die stationären Behandlungen vom 26. bis 27. April 2008 (vom 10. Juni 2008), 2. bis 3. Mai 2008 (vom 23. Mai 2008) und 29. bis 30. Oktober 2009 (vom 30. Oktober 2009) wegen einer Exazerbation des Melkersson-Rosenthal-Syndroms und Angioödemen im Gesicht. Ärztin für Allgemeinmedizin Ge. übersandte dem SG einen Auszug aus der Patientenkartei für den Zeitraum September 2008 bis Juli 2009.

Im Auftrag des SG erstattete Arzt für Allgemeinmedizin, Öffentliches Gesundheitswesen und Sozialmedizin B. sein Gutachten vom 22. August 2011 aufgrund eines Hausbesuchs am 22. Juli 2011. Der Versicherte verbringe die meiste Zeit des Tages im Bett. Er leide an einem Melkersson-Rosenthal-Syndrom, offensichtlich mit einer hohen Frequenz an Anfällen. Aus der Dokumentation werde aber auch ersichtlich, dass unter geeigneter medikamentöser Therapie eine Besserung aufgetreten sei und die Schmerzen ausreichend beherrschbar seien. Dennoch sei es zu einem starken Kräfteabbau und einer Kachexie gekommen, was neben dem geringen Körpergewicht (46 bis 47 kg) auch durch die Verschmächtigung der Muskulatur der Extremitäten deutlich werde. Eigentlich müsste der Versicherte unter somatischen Gesichtspunkten auch bei den wiederholten Anfällen und dem damit verbundenen erheblichen Leidensdruck in der Lage sein, einen Großteil der Grundpflege selbstständig zu übernehmen, was aktuell nicht der Fall sei. Es sei davon auszugehen, dass eine psychische Überlagerung der somatischen Beschwerden vorliege. Vor abschließender Stellungnahme sollte ein psychiatrisches Gutachten erstellt werden.

Nervenarzt und Arzt für Psychotherapie Prof. Dr. St. erstattete sein Gutachten vom 15. Dezember 2011 aufgrund eines Hausbesuchs am 12. Dezember 2011. Während des ganzen Gesprächs habe der Versicherte im Bett gelegen. Bei ihm liege ein ungewöhnlicher Krankheitsverlauf in einer extremen Variante vor. Die (vorliegende) körperliche Hinfälligkeit gehöre typischerweise nicht zu dem Melkersson-Rosenthal-Syndrom. Neben dem Melkersson-Rosenthal-Syndrom liege eine psychosomatische Erkrankung (anhaltende Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren) mit schwerster Verlaufsform vor. Insgesamt wirke sich die Erkrankung gravierend auf die Verrichtungen des täglichen Lebens aus. Der Versicherte sei nicht in der Lage, die Körperhygiene selbstständig zu verrichten, Mahlzeiten selbstständig zu sich zu nehmen (Anlage einer Magensonde im Oktober 2011) und sich in nennenswertem Umfang selbstständig zu bewegen. Der Versicherte befinde sich in einem erbarmungswürdigem Gesamtzustand. Er sei völlig abgemagert, werde teilweise künstlich ernährt, trage Windeln und sei psychisch in sehr angespannter Verfassung, wenngleich er Letzteres eher abstreite. Auch wenn eine körperliche Ursache für das Gesamtbild nicht hinreichend auszumachen sei, bestehe de facto ein körperlich schwer kranker Zustand mit zahlreichen Folgeerscheinungen.

Arzt B. schätzte in seinem weiteren Gutachten vom 25. März 2012 daraufhin den täglichen Hilfebedarf auf 149 Minuten (Körperpflege 79 Minuten, Ernährung 36 Minuten, Mobilität 34 Minuten). Die beim Versicherten bestehende schwere psychische Erkrankung bedinge eine erhebliche pflegerische Versorgung. Der Versicherte sei aber durchaus in der Lage, mit den verbleibenden Funktionsfähigkeiten des Bewegungsapparats, auch unter Berücksichtigung der Schmerzsymptomatik, bei der Pflege und der Nahrungsaufnahme mitzuwirken. Außerdem werde er täglich mobilisiert, was trotz des erheblich reduzierten Allgemeinzustands auf die bedingte Gebrauchsfähigkeit des Bewegungsapparats schließen lasse. Der erforderliche Pflegeaufwand bestehe, soweit aus den gutachterlichen Untersuchungen und der Aktenlage beurteilbar, seit September 2009. Seit diesem Zeitpunkt habe der körperliche Verfall offensichtlich kontinuierlich zugenommen. In seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 25. November 2012 zu Einwänden der Beklagten führte Arzt B. aus, unter Berücksichtigung des zunehmenden körperlichen Abbaus sei ein Hilfebedarf im Rahmen der Pflegestufe II seit September 2009 realistisch. Bei der bereits von Dr. G. in ihrem Gutachten vom 28. April 2009 dokumentierten bestehenden offensichtlichen psychischen Überlagerung des Krankheitsbildes könne bei rascher Progredienz der psychiatrischen Erkrankung durchaus ein Zeitraum von wenigen Monaten ausreichen, um den Gesundheitszustand erheblich zu verschlechtern und insofern einen pflegerischen Hilfebedarf bedingen. Den Hilfebedarf nach der Pflegestufe II seit September 2009 zeigten auch der Bericht des Chefarztes K. vom 12. Oktober 2010 und die von Prof. Dr. St. beschriebene, nach der Vorgeschichte seit 2007 bestehende psychosomatische Erkrankung.

Die Beklagte bewilligte ab 1. Juli 2011 Pflegegeld nach der Pflegestufe II (Bescheid vom 22. Mai 2012). Der Versicherte begehrte weiterhin auch Pflegegeld für die Zeit von Mitte September 2009 bis Juni 2011.

Mit Urteil vom 19. Februar 2013 hob das SG den Bescheid der Beklagten vom 11. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Mai 2010 für den Zeitraum von September 2009 bis einschließlich Juni 2011 auf. Streitgegenstand sei nur noch der Zeitraum von September 2009 bis Juni 2011, da die Beklagte mit Bescheid vom 22. Mai 2012 Pflegestufe II ab Juli 2011 anerkannt und der Versicherte den streitgegenständlichen Zeitraum auf die Zeit von September 2009 bis einschließlich Juni 2011 begrenzt habe. Die Beklagte habe zu Unrecht die Leistungsgewährung zum "14." September 2009 aufgehoben, weil der Versicherte auch über den "13." September 2009 hinaus die Voraussetzungen für die Pflegestufe II erfüllt habe. Beim Versicherten sei zeitlich nach Erteilung des Bescheids vom 18. August 2008 bzw. zum Zeitpunkt der Leistungsaufhebung keine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eingetreten. Dies ergebe sich übereinstimmend aus den Gutachten der Sachverständigen B. und Prof. Dr. St ... Unter Berücksichtigung des von Prof. Dr. St. bestätigten ausgeprägten Schmerzsyndroms schwerster Verlaufsform und der damit einhergehenden Einschränkungen sei auch die vom Sachverständigen B. angegebene Pflegezeit (149 Minuten täglich für die Grundpflege) nachvollziehbar sowie auch dessen Auffassung zuzustimmen, Pflegestufe II liege ab September 2009 vor. Beiden Sachverständigen folgend sei eine rasche Progredienz der psychiatrischen bzw. psychosomatischen Erkrankung, die zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes und einem pflegerischen Hilfebedarf geführt habe, im Hinblick auf die schwere Verlaufsform innerhalb weniger Monate nachvollziehbar. Das Gutachten der Dr. G. schließe eine Schwerpflegebedürftigkeit ab September 2009 nicht aus, zumal ihre persönliche Untersuchung des Versicherten bereits am 27. April 2009 erfolgt sei. Der Annahme einer Pflegebedürftigkeit ab September 2009 könne auch nicht das Gutachten des Dr. R. entgegengehalten werden, da eine tiefergehende Untersuchung durch ihn aufgrund des damals bestehenden akuten Krankheitsbildes nicht stattgefunden gehabt habe. Auch lasse er die für die Pflegestufe II maßgebliche psychosomatische/psychiatrische Erkrankung außer Betracht.

Gegen das ihr am 12. März 2013 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit an das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) adressiertem Telefax vom 10. April 2013, beim SG am 10. April 2013 eingegangen, Berufung eingelegt. Sie verweist auf die Gutachten der Dr. G. und des Dr. R., die sowohl im April 2009 als auch im März 2010 keinen Pflegebedarf festgestellt hätten. Es sei zweifelhaft, wenn der Sachverständige B. rückwirkend die Gutachten in Zweifel ziehe und aus dem Gesundheitszustand des Versicherten im Zeitpunkt des erstmaligen Kennenlernens im August 2011 Rückschlüsse auf die Vergangenheit ziehe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 19. Februar 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte berufe sich allein auf Feststellungen im Rentenverfahren, das sich im Hinblick auf die zu beurteilenden Sachverhalte grundlegend von einem Verfahren auf Feststellung der Pflegebedürftigkeit unterscheide. Die beiden Gutachten (der Dr. G. und des Dr. R.) gäben nicht im Einzelnen eine Einschätzung zu den entsprechenden Tatbeständen der Pflegeversicherung ab. Im Jahr 2009 sei von der Klinik, in der eine beabsichtigte Rehabilitationsmaßnahme habe stattfinden sollen, dem Versicherten bescheinigt worden, er sei nicht rehabilitationsfähig.

Der Senat hat das genannte Schreiben des Dr. Sc. vom 18. September 2009 sowie die den Versicherten betreffenden Schwerbehindertenakten des Landratsamts Bodenseekreis Versorgungsamt - und die Akten des Sozialgerichts Neubrandenburg (S 5 SB 28/08) beigezogen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akte des Senats und des SG, auf die genannten beigezogenen Akten sowie die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Im Berufungsverfahren ist allein darüber zu entscheiden, ob die Beklagten zu Recht die Bewilligung des Pflegegeldes nach der Pflegestufe II ab 18. September 2009 bis zur erneuten Bewilligung ab 1. Juli 2011 aufgehoben hat. Denn im Berufungsverfahren wendet sich die Beklagte dagegen, dass das SG den diesen Zeitraum erfassenden Aufhebungsbescheid vom 11. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Mai 2010 aufgehoben hat. Die Beklagte geht von einer Aufhebung der Bewilligung des Pflegegeldes nach der Pflegestufe II ab 18. September 2009 aus. Denn sie fordert das wegen der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs zunächst weiter gezahlte Pflegegeld erst ab diesem Tag zurück.

2. Die Berufung der Beklagten ist zulässig. Die Beklagte hat die Berufung form- und fristgerecht eingelegt. Die Berufung bedurfte nicht nach § 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Zulassung. Denn die Beklagte wendet sich gegen die Verurteilung, Pflegegeld nach der Pflegestufe II für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr (18. September 2009 bis 30. Juni 2011) zahlen zu müssen (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

3. Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das SG hat den Bescheid der Beklagten vom 11. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Mai 2010, soweit er nicht durch den Bescheid vom 22. Mai 2012 gegenstandlos geworden ist, zu Recht aufgehoben. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse, auf die die Beklagte die von ihr verfügte Aufhebung der Bewilligung des Pflegegelds nach der Pflegestufe II stützte, lässt sich nicht feststellen.

a) Die Klägerin ist als Sonderrechtsnachfolgerin (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB I -) berechtigt, den Anspruch des Versicherten geltend zu machen.

b) Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid der Beklagten vom 11. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Mai 2010, soweit er nicht durch den Bescheid vom 22. Mai 2012 gegenstandlos geworden ist. Nicht Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2010 wegen der Rückforderung des vorläufig weiter gezahlten Pflegegelds nach der Pflegestufe II.

c) Zulässige Klage ist allein die reine Anfechtungsklage. Um den Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe II auch ab 18. September 2009 durchzusetzen, bedarf es keiner (zusätzlichen) Leistungsklage (vgl. z.B. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 12. Juli 1989 - 7 RAr 58/88 - in juris). Denn schon mit der Aufhebung des Bescheids vom 11. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Mai 2010 wäre Pflegegeld nach der Pflegestufe II weiter zu zahlen, weil die im Bescheid vom 18. August 2008 verfügte Bewilligung wieder wirksam wäre.

Bei der Prüfung, ob die Aufhebung der Bewilligung zu Recht erfolgte, ist bei der reinen Anfechtungsklage die Sach- und Rechtslage zu dem Zeitpunkt maßgebend, in dem der angefochtene Verwaltungsakt erlassen worden ist (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 20. April 1993 - 2 RU 52/92 - in juris). Maßgeblich sind daher die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Bekanntgabe der letzten Verwaltungsentscheidung, hier des Widerspruchsbescheids vom 17. Mai 2010.

d) Die Aufhebung der Bewilligung des Pflegegeldes mit Wirkung zum 18. September 2009 kann die Beklagte nicht auf § 48 SGB X stützen. Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach einer bestimmten Pflegestufe ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Ein solcher Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegt vor, wenn sich der Verwaltungsakt nicht in einem einmaligen Gebot oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern ein auf Dauer berechnetes und in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis begründet bzw. inhaltlich verändert (vgl. z.B. BSG, Urteile vom 16. Februar 1984 - 1 RA 15/83 - und 7. Juli 2005 - B 3 P 8/04 R - beide in juris). Wesentlich ist die Änderung, soweit der ursprüngliche Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen so, wie er ergangen ist, nicht mehr erlassen werden dürfte (BSG, Urteil vom 8. September 2010 - B 11 AL 4/09 R - in juris). Zu vergleichen sind nach § 48 Abs. 1 SGB X stets die zum Zeitpunkt der Aufhebung bzw. des Aufhebungstermins bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die zum Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung, bei der die Anspruchsvoraussetzungen vollständig geprüft worden sind, vorhanden gewesen sind (BSG, Urteil vom 7. Juli 2005 - B 3 P 8/04 R - a.a.O.).

Die letzte vollständige Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen und damit der maßgebliche Vergleichszeitpunkt ist vorliegend die durch den Bescheid der Beklagten vom 18. August 2008 erfolgte Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe II ab 16. Juli 2008. Dem zugrunde lag das Gutachten der Pflegefachkraft K. vom 4. August 2008, welches insoweit das maßgebliche Vergleichsgutachten ist.

Pflegebedürftige können nach § 37 Abs. 1 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) anstelle der Pflegesachleistungen ein Pflegegeld erhalten. Pflegebedürftig sind nach § 14 Abs. 1 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, die im Einzelnen in § 14 Abs. 4 SGB XI genannt sind, auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichem oder höherem Maß (§ 15 SGB XI) der Hilfe bedürfen. Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI). Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind Personen, die (in denselben Bereichen) mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XI). Nach § 15 Abs. 3 Satz 1 SGB XI muss der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt (1.) in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen, (2.) in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen. Die Grundpflege umfasst die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen aus den Bereichen der Körperpflege (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI), der Ernährung (Nr. 2) und der Mobilität (Nr. 3). Zur Grundpflege zählt ein Hilfebedarf im Bereich der Körperpflege beim Waschen, Duschen, Baden, der Zahnpflege, dem Kämmen, Rasieren, der Darm- und Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung beim mundgerechten Zubereiten der Nahrung und der Aufnahme der Nahrung sowie im Bereich der Mobilität beim selbstständigen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, dem An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen und dem Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung. Das Ausmaß des Pflegebedarfs ist nach einem objektiven ("abstrakten") Maßstab zu beurteilen. Maßgebend für den zeitlichen Aufwand ist grundsätzlich die tatsächlich bestehende Pflegesituation unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse des zu Pflegenden, allerdings am Maßstab des allgemein Üblichen. § 14 SGB XI stellt allein auf den "Bedarf" an Pflege und nicht auf die im Einzelfall unterschiedliche Art der Deckung dieses Bedarfs oder die tatsächlich erbrachte Pflege ab (vgl. BSG, Urteil vom 21. Februar 2002 - B 3 P 12/01 R - und 10. März 2010 - B 3 P 10/08 R - in juris). Bei der Bestimmung des erforderlichen Zeitbedarfs für die Grundpflege sind als Orientierungswerte die Zeitkorridore der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI (Begutachtungs-Richtlinien) zu berücksichtigen. Diese Zeitwerte sind zwar keine verbindlichen Vorgaben; es handelt sich jedoch um Zeitkorridore mit Leitfunktion (Abschnitt F Nr. 1 der Begutachtungs-Richtlinie; vgl. dazu BSG, Urteil vom 22. Juli 2004 - B 3 P 6/03 R - in juris m.w.N.). Dabei beruhen die Zeitkorridore auf der vollständigen Übernahme der Verrichtungen durch eine Laienpflegekraft. Die Zeiten für den Hilfebedarf bei den einzelnen Verrichtungen beruhen regelmäßig auf Schätzungen, denen eine gewisse und auf wenige Minuten beschränkte Unschärfe nicht abgesprochen werden kann und die dennoch hinzunehmen sind (vgl. BSG, Urteil vom 10. März 2010 - B 3 P 10/08 R - in juris).

Der Senat vermag eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen ab September 2009 nicht festzustellen.

Der Versicherte litt an Schwellungen im Gesicht und an den Lippen, der Zunge und dem Rachen sowie an Atembeschwerden, weshalb ein Melkersson-Rosenthal-Syndrom als Diagnose, teils auch als Verdachtsdiagnose gestellt wurde, sowie an einer psychosomatischen Erkrankung mit schwerster Verlaufsform. Die psychosomatische Erkrankung bedingte einen Bedarf an pflegerischer Versorgung. Der Senat stützt sich insoweit auf die schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. St. vom 15. Dezember 2011 sowie des Sachverständigen B. vom 22. August 2011 und 25. März 2012. Prof. Dr. St. hat nachvollziehbar dargelegt, dass allein das Melkersson-Rosenthal-Syndrom nicht erklären konnte, weshalb eine aktive und passive Bewegung der Extremitäten nicht gelang. Dem entnimmt der Senat, dass allein diese Erkrankung jedenfalls Fähigkeitseinschränkungen, die einen Hilfebedarf in der Pflegeversicherung begründen, nicht zur Folge haben konnte. Hierauf hatte auch bereits Dr. R. in seinem Gutachten vom 19. März 2010 hingewiesen. Maßgeblich für die Einschränkung der Fähigkeiten war die psychische Überlagerung. Einen Anhaltspunkt, dass beim Versicherten eine psychische Erkrankung bestand, bietet schon die Angabe der Klägerin gegenüber Pflegefachkraft K., es gebe viele depressiven Phasen wegen des unklaren Krankheitsverlaufes. Auch nannte Pflegefachkraft K. als Diagnosen u.a. depressive Phasen und extreme Angstattacken. Auch Dr. G. diagnostizierte in ihrem Gutachten vom 28. April 2009 u.a. eine Angststörung bei unsicherer Persönlichkeit und empfahl eine mehrwöchige (mindestens sieben Wochen) psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme, was nur verständlich ist, wenn auch schon damals Anzeichen psychischer Probleme der Versicherten bestanden.

Der Vergleich der im Gutachten der Pflegefachkraft K. vom 30. Juli 2008 wiedergegebenen Befunde mit denjenigen in den Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. St. vom 15. Dezember 2011 sowie des Sachverständigen B. vom 22. August 2011 und 25. März 2012 zeigt keine Unterschiede im Gesundheitszustand und den daraus abzuleitenden Fähigkeitsstörungen auf. Bereits Pflegefachkraft K. gab in ihrem Gutachten vom 30. Juli 2008 an, der Versicherte liege meist ganztägig auf der Couch, ebenso die gerichtlichen Sachverständigen. Auch das vorgelegte Pflegetagebuch enthält den Hinweis, der Versicherte sei nur noch bettlägerig. Schließlich fand auch Dr. R. den Versicherten anlässlich des Hausbesuches am 19. März 2010 für sein Gutachten zur Frage der Pflegebedürftigkeit im Bett liegend vor. Eine Untersuchung war nicht durchführbar. Pflegefachkraft K. und die gerichtlichen Sachverständigen beschrieben jeweils eine Kraftlosigkeit. Auch Dr. G. hielt in ihrer gutachterlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 9. Juni 2009 zur Beurteilung der Pflegebedürftigkeit eine eingeschränkte Möglichkeit der Kraftentfaltung für gut nachvollziehbar. Die beiden Sachverständigen konnten, soweit es ihnen möglich war, ebenso wie Pflegefachkraft K. und auch Dr. G. bei der Untersuchung zu ihrem Gutachten vom 28. April 2009 zur Beurteilung der Erwerbsfähigkeit, Bewegungseinschränkungen nicht feststellen. Die Sachverständigen berichteten aber ebenso wie Pflegefachkraft K. und auch Dr. G. in ihrem Gutachten vom 28. April 2009 und ihrer gutachterlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 9. Juni 2009 darüber, dass der Versicherte Angst habe, durch unvorsichtige Verhaltensweise Anfälle oder eine Schmerzattacke im Gesicht auszulösen. Pflegefachkraft K. beschrieb bereits, der Versicherte habe über Schmerzattacken im Gesicht bei Bewegung geklagt, bewege sich vorsichtig und vermeide deshalb jegliche Belastung, was sich auch in einer verschmächtigten Muskulatur widerspiegele. Dr. G. beschrieb ebenfalls eine Muskelverschmächtigung und hielt eine eingeschränkte Möglichkeit der Kraftentwicklung für nachvollziehbar.

Den Auffassungen von Dr. G. und Dr. R. vermag der Senat nicht zu folgen. Denn sie ziehen die Auswirkungen der psychischen Überlagerung, die Prof. Dr. St. in seinem Gutachten schlüssig darlegte, nicht in ihre Beurteilung ein.

Die Begründung im Widerspruchsbescheid ist nicht tragfähig, um eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse zu belegen. Wenn sich die Anzahl und die Intensität der Anfälle durch die Behandlung mit dem Portsystem verringerten, hätte dies auch bereits zum Zeitpunkt der Begutachtung durch Pflegefachkraft K. am 30. Juli 2008 bestanden, da das Portsystem am 15. Mai 2008 gelegt wurde.

Träfe die Begründung im Widerspruchsbescheid zu, wäre die Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe II von Anfang an fehlerhaft gewesen. Hierfür und gegen eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse spricht auch die Auffassung des Dr. R. in seinem Gutachten vom 19. März 2010, für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit fehle es unter anderem an der Regelmäßigkeit, weil sämtlichen genannten Krankheiten charakteristischerweise ein Auftreten in Schüben, die 2009 kaum und 2010 mehrmals aufgetreten seien, zugrundeliege. Wenn das Charakteristikum der Krankheit das Auftreten in Schüben ist, bestand dieses auch schon zum Zeitpunkt der Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe II durch den Bescheid vom 18. August 2008. Denn die Erkrankung des Versicherten bestand auch schon zu diesem Zeitpunkt. Unter Berücksichtigung dessen hätte die Beklagte dem Versicherten Pflegegeld nicht bewilligen dürfen. Damit wäre der Bescheid vom 18. August 2008 von Anfang an rechtswidrig. Die Beklagte hätte diesen Bescheid dann nach § 45 SGB X zurücknehmen müssen und nicht wie erfolgt - nach § 48 SGB X.

e) Eine Umdeutung des Bescheids vom 11. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Mai 2010 in einen Aufhebungsbescheid nach § 45 SGB X ist nicht möglich.

Nach § 43 Abs. 1 SGB X kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf, soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, dieser, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X kann sich der Begünstigte auf Vertrauen nicht berufen, soweit 1. er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, 2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder 3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

Auch wenn die §§ 45, 48 SGB X auf dasselbe Ziel, nämlich die Beseitigung eines Verwaltungsaktes, gerichtet sind, kann ein nach § 48 SGB X ergangener Bescheid nicht ohne weiteres in einen solchen nach § 45 SGB X umgedeutet werden. Hinzukommen muss, dass der vorliegende Bescheid auch alle Voraussetzungen erfüllt, die für den Erlass des Bescheides vorliegen müssten, in den umgedeutet werden soll. Insofern ist vor allem zu beachten, dass es sich bei § 48 SGB X in der Regel um eine gebundene Entscheidung handelt, während § 45 SGB X grundsätzlich eine Ermessensentscheidung bedingt (vgl. z.B. BSG, Urteile vom 9. September 1998 - B 13 RJ 41/97 R - und 11. April 2002 - B 3 P 8/01 R - beide in juris). Die Beklagte nahm bei ihrer auf § 48 SGB X gestützten Aufhebungsentscheidung keine Interessenabwägung im Sinne des § 45 Abs. 2 SGB X vor. Es ist deshalb offen, welche tatsächlichen Umstände hier in die Interessenabwägung einfließen würden, wie die Abwägung ausgehen würde und ob für eine Ermessensausübung noch weitere Gesichtspunkte übrig bleiben würden (vgl. BSG, Urteil vom 11. April 2002 - B 3 P 8/01 R - a.a.O.). Selbst wenn eine Interessenabwägung zu Ungunsten des Versicherten ausfiele, weil allein eine Aufhebung der Bewilligung des Pflegegelds nach der Pflegestufe II für die Zukunft erfolgte, fehlte es an einer Ermessensentscheidung. Denn die Beklagte war sich zu keinem Zeitpunkt bewusst, dass sie die Entscheidung über die Rücknahme nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen hatte. Sie ging als Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Bewilligung des Pflegegelds nach der Pflegestufe II von § 48 SGB X als gebundene Entscheidung aus.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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