S 2 KA 466/12

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
2
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 2 KA 466/12
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Streitig ist ein Regress wegen der Verordnung von Opioiden.

Der Kläger ist praktischer Arzt und in P zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. In seiner Behandlung steht u.a. der bei der Beigeladenen zu 1) Versicherte H C, geb. 00.00.1941. In den Quartalen 1/2010 bis 3/2010 verordnete der Kläger für diesen Patienten Tilidin AL comp., Sevredol 20, Valoron N Retard 200/16 mg sowie Valoron N.

Am 23.02.2011 stellte die beigeladene Krankenkasse einen Antrag auf Prüfung in besonderen Fällen für diese Quartale mit dem Ziel der Festsetzung eines Regresses. Die von dem Kläger bei insgesamt vier Versicherten praktizierte Verordnungsweise sei in Bezug auf Indikation und Dosierung nicht zulassungsgerecht. Soweit es den Patienten C betrifft, begründete die Beigeladene zu 1) den Regressantrag in Kurzform mit "Unterhaltung einer Sucht, keine leitliniengerechte Therapie nach LONTS/WHO Stufenschema, WHO Stufenplan (keine Kombination) Sevredol-Morphin: Stufe 3, Valoron: Stufe 2, - nicht retardiert, - Kombination von Schmerzmedikamenten der Stufe II und Stufe III WHO Stufenplan".

Zu diesem Prüfantrag nahm der Kläger unter Beifügung einer Stellungnahme des Vorsitzenden der Kreisstelle B der Beigeladenen zu 2), W, vom 14.10.2009 dahin Stellung, u.a. im Fall C sei die Schmerzmedikation von Seiten der AOK bereits im Jahre 2009 beanstandet worden. Bei Überprüfung durch W sei kein wesentliches Fehlverhalten seiner Verordnungsweise festgestellt worden. Die dort vorgeschlagenen Modifikationen seien umgesetzt worden. Bei dem Patienten sei eine individuelle Schmerztherapie bei Durchbruchschmerz erforderlich. Seit 4/2009 neue Diagnose zusätzlich: myeloproliferatives Syndrom mit Anämie, onkologische Mitbehandlung. Die Therapie chronischer Schmerzen nach Leitlinien befinde sich in einer noch nicht abgeschlossenen Diskussion der Fachgesellschaften. Im Übrigen seien Leitlinien keine bindenden Vorschriften und könnten individuell patientengerecht verändert werden.

Mit Bescheid vom 06.10.2011 lehnte die Prüfungsstelle die Festsetzung eines Regresses wegen der Verordnungen von Analgetika und Psycholeptika in allen vier Fällen ab. Hiergegen legte die Beigeladene zu 1) Widerspruch ein. Bei dem Patienten C handele es sich um einen Nicht-Tumor-Patienten, der u.a. (Prostatahyperplasie, Hyperlipidämie, Sideroblastische Anämie) an Polyarthrose sowie nicht näher bezeichneten Rückenschmerzen leide. Unter pharmakologischen Gesichtspunkten sei die - von dem Kläger praktizierte - Kombination von Opioiden der Stufe 2 in hoher Dosierung mit Opioiden der Stufe 3 nicht sinnvoll und berge die Gefahr eines erhöhten Nebenwirkungspotentials. Eine kombinierte Gabe von Tilidin/Naloxon als "Basisschmerzmedikation" mit diskontinuierlicher Gabe Morphin-haltiger unretardierter Tabletten entspreche nicht dem Stand der medizinischen Wissenschaft und sei daher unwirtschaftlich. Zudem fördere diese nicht sinnvolle Kombination eine mögliche Abhängigkeit, denn gleichzeitig angewandte schwache und starke Opioide wirkten nicht synergistisch. Vielmehr finde z.T. eine Verdrängung des schwachen Opioids statt. Möglicherweise liege bei dem Versicherten eine Hyperalgesie vor. Die gelegentliche bzw. phasenweise Einnahme Morphin-haltiger unretardierter Tabletten sei zu hinterfragen. Aus den Verordnungsdaten, auch länger zurückliegender Zeiträume, sei keine Änderung der verwendeten Wirkstoffe (im Sinne einer Opioidrotation) erkennbar. Soweit es die Stellungnahme von W betrifft, reiche die alleinige Berechnung möglicher maximaler Tagesdosen einzelner Opioidtherapeutika anhand der Fachinformationen nicht aus, um eine sach- und fachgerechte Schmerztherapie zu begründen.

Mit Bescheid vom 03.09.2012 gab der Beklagte dem Widerspruch der Beigeladenen zu 1) gegen die Nichtfestsetzung eines Regresses für die Verordnungen von Sevredol für den Patienten H C in Höhe von 917,72 EUR netto durch den Kläger in den Quartalen 1/2010 bis 3/2010 statt. Im Übrigen wies er den Widerspruch der Beigeladenen zu 1) zurück:

Bei chronischen Schmerzen sollten eine Behandlung überwiegend mit retardierten Zubereitungen durchgeführt und Tropfenformen nur in kleinen Mengen für Durchbruchschmerzen verordnet werden. Träten häufiger Durchbruchschmerzen auf, sollte überlegt werden, ob ein Wechsel von der Versorgung mit Opioiden der Stufe II auf Opioide der Stufe III (Morphine) sinnvoll sei.

Bei den Verordnungen des Patienten H C liege keine sinnvolle bzw. eine inkompatible Kombination von Opioiden der Stufe II und der Stufe III vor. Die Verordnungen des unretardierten Morphin Sevredol als Akuttablette in Höhe von 917,72 EUR netto würden in Regress genommen.

Hiergegen richtet sich die am 21.09.2012 erhobene Klage.

Inhaltlich ist die Klage nicht begründet worden. Es ist auch kein Klageantrag gestellt worden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält seinen Bescheid für rechtmäßig.

Die Beigeladenen stellen keine Prozessanträge.

Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen nimmt die Kammer Bezug auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer ist für den Kläger und die Beigeladenen zu 1) und 2) niemand erschienen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat am Sitzungstag per Telefax mitgeteilt, er werde den Termin zur mündlichen Verhandlung aus persönlichen Gründen nicht wahrnehmen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte in Abwesenheit des Prozessbevollmächtigten des Klägers sowie von Vertretern der Beigeladenen zu 1) und 2) verhandeln und entscheiden, da auf diese Möglichkeit in den form- und fristgerecht zugestellten Terminbenachrichtigungen hingewiesen worden ist.

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), da dieser nicht rechtswidrig ist.

Nach § 16 Abs. 1 Buchst. a) der maßgeblichen Prüfvereinbarung ab 01.01.2008 (Rhein. Ärzteblatt 12/2007, S. 62 ff.) haben die Prüfungsausschüsse auf Antrag der Krankenkassen u.a. zu prüfen, ob der Vertragsarzt in Einzelfällen unwirtschaftliche Behandlungsleistungen abgerechnet hat. Diese Regelung beruht auf der Ermächtigung in § 106 Abs. 2 Satz 4 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V). Danach können die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit der Kassenärztlichen Vereinigung über die in § 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V genannten Prüfungen hinaus andere arztbezogene Prüfungen vereinbaren. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfungen sind die Prüfgremien befugt, die Einhaltung der das Wirtschaftlichkeitsgebot umsetzenden Bestimmungen auch im Einzelfall zu überprüfen und gegebenenfalls einen Regress festzusetzen. Der durch einen Verordnungsregress auszugleichende "Schaden" entspricht demjenigen, der durch eine unwirtschaftliche Verordnungsweise im Sinne des § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V auszugleichen ist (vgl. BSG; Urteil vom 05.05.2010 - B 6 KA 5/09 R -; LSG NRW, Urteil vom 11.02.2009 - L 11 (10) KA 32/07 -).

Der von dem Beklagten ausgesprochene Regress ist auch materiell-rechtlich begründet.

Der Regress stützt sich vorliegend nicht darauf, dass der Kläger bei der Verordnung der Arzneimittel Tilidin AL comp., Sevredol 20, Valoron N Retard 200/16 mg und Valoron N die jeweiligen Tageshöchstdosen überschritten hätte. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist eine Dosierung, die über die Therapieempfehlungen der Roten Liste und der Fachinformation hinaus geht, grundsätzlich rechtswidrig, soweit es nicht für die Abweichung eine medizinische Rechtfertigung gibt, was etwa aufgrund von Besonderheiten im zugrunde liegenden Behandlungsfall denkbar sein kann (BSG, Beschluss vom 03.11.2010 - B 6 KA 35/10 B -). Wie W bereits für die Quartale 1/2009 und 2/2009 im Einzelnen näher dargelegt hat, wurden die maximalen Tagesdosen bei Sevredol 20 und Tilidin comp. AL Tr. jeweils unterschritten. Nichts anderes gilt für alle vier von dem Kläger bei dem Patienten C in den Quartalen 1/2010 bis 3/2010 verordneten Arzneimittel.

Dem Kläger wird jedoch zu Recht vorgehalten, Arzneimittel der WHO-Stufe 2 mit solchen der WHO-Stufe 3 kombiniert zu haben. Dies stellt sich als unwirtschaftlich dar.

Die WHO empfiehlt zur medikamentösen Schmerztherapie ein Vorgehen in drei Stufen, das ursprünglich für die Tumortherapie entwickelt wurde. Beginnend mit dem Therapieschema der Stufe 1 kann bei unzureichender Wirksamkeit das Schema bis zur Stufe 3 gesteigert werden. Zur Stufe 1 gehören dabei nicht-opioide Analgetika, ggf. in Kombination mit Adjuvanzien. Stufe 2 erfasst schwache Opioide, ggf. in Kombination mit nicht-opioiden Analgetika und/oder Adjuvanzien. Stufe 3 beinhaltet starke Opioide, ggf. in Kombination mit nicht-opioiden Analgetika und/oder Adjuvanzien.

Die Kombination schwach wirksamer Opioide der Stufe 2 (Tilidin comp. AL sowie Valoron N retard) mit stark wirksamen Opioiden der Stufe 3 (Morphinsulfat Sevredol) ist medizinisch nicht angezeigt. Beide Opioid-Arten wirken als Agonisten an µ-Opioidrezeptoren und damit über die gleichen Schmerzrezeptoren. Deren Zahl ist begrenzt. Gibt man starke und schwache Opioide in Kombination, konkurrieren diese um die freien Plätze an den Rezeptoren, ohne dass ein additiver Effekt entsteht, weil auch mit einem der beiden Schmerzmittel bereits alle Rezeptoren "im Einsatz" sind. Sinnvoll ist deshalb, wie auch das WHO-Stufenschema angibt, nur die Kombination mit Schmerzmitteln, die auf andere Rezeptoren wirken, z.B. mit Schmerzmedikamenten der WHO-Stufe 1. Hinzu kommt, dass Tilidin comp. AL sowie Valoron N retard auch den Antagonisten Naloxon enthalten. Naloxon gehört zu den reinen Opioid-Antagonisten, die als kompetitive Antagonisten an allen Opioidrezeptoren wirken. Damit heben sie die Wirkungen, die durch Opiate und Opioide verursacht werden, teilweise oder ganz auf (vgl. neben den Quellenangaben der Beigeladenen zu 1) in ihrer Widerspruchsbegründung z.B. auch Hense, Universitätsklinikum Essen, Grundprinzipien der Tumorschmerztherapie, Häufige Fehler in der Praxis, in: Focus Onkologie 7/2000, S. 43-46 (http://www.uk-essen.de/en/tumorforschung/tumortherapie/supportive-therapie/tumorschmerz- Therapie)). Dies gilt gerade angesichts der in Tilidin comp. AL und Valoron N retard enthaltenen relativ großen Naloxon-Menge, welche die Wirkung insbesondere des Morphins der WHO-Stufe 3 (Sevredol 20) hemmt bzw. verhindert.

Rechtsfehlerfrei durfte der Beklagte deshalb die Kosten für das verordnete Sevredol 20 regressieren. Die Gesamtsumme ist dabei rechnerisch aus den einzelnen Nettokosten fehlerfrei berechnet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Rechtskraft
Aus
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