L 10 U 4932/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 U 3734/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 4932/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 09.01.2008 und der Bescheid vom 12.05.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.06.2006 abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 18.01.1997 Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. für die Zeit vom 01.05.2002 bis 31.08.2011 zu gewähren.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Verletztenrente nach einem Arbeitsunfall.

Die 1972 geborene Klägerin kam am 18.01.1997 auf dem Heimweg von ihrer Arbeit als Kassiererin an einer Tankstelle mit ihrem Pkw auf eisglatter Fahrbahn ins Schleudern und prallte in eine Gruppe anderer Pkw. Sie erlitt dabei unter anderem ein offenes Schädel-Hirn-Trauma mit offener Nasengerüstfraktur, eine offene Orbitadach- und geschlossene Orbitabodenfraktur links, eine Schädelfraktur links und eine Stirnhöhlenvorder- und -hinterwandfraktur links (vgl. u.a. Bl. 39-1 Rs. VA), die über die Jahre mehrere operative Eingriffe erforderlich machten. Nach dem Unfall bestand Arbeitsunfähigkeit bis zum 08.03.1998 (Bl. 233 VA), danach war die Klägerin bis in das Jahr 2012 nicht mehr berufstätig und sie bezog durchgehend - so ihre Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat - Sozialleistungen.

Auf der Grundlage eines hno-ärztlichen, eines nervenärztlichen und eines augenärztlichen Gutachtens lehnte die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente mit Bescheid vom 27.03.1998 ab (Bl. 205-3 Rs. VA). Widerspruchs-, Klage- und Berufungsverfahren blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 23.06.1998, Bl. 221-1 Rs. VA; Urteil des SG S. vom 08.12.1999, Bl. 254 ff. VA; Urteil des LSG R. vom 17.10.2000, Blatt 285-2 ff. VA), weitere Ermittlungen wurden nicht durchgeführt.

Mit zwei am 29.10.2002 (Bl. 291-1 VA) und am 04.02.2003 (Bl. 307-1 VA) bei der Beklagten eingegangen Schreiben machte die Klägerin sinngemäß die Verschlimmerung ihrer Unfallfolgen geltend. Sie wies insbesondere darauf hin, dass sie auf Grund der schweren Verletzungen unter ständigen Kopfschmerzen und zeitweisen Doppelbildern leide.

Die von der Beklagten daraufhin veranlassten Gutachten erbrachten im Ergebnis keine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). Der Augenarzt Dr. H. diagnostizierte nach Untersuchung im April 2004 zwar einen auf den Verkehrsunfall zurückzuführenden Sehnervenschwund (Opticusatrophie) mit einer MdE von 25 v.H. (Bl. 347-1 und Bl. 360 VA). Die mit Erstellung eines weiteren augenärztlichen Gutachtens vom Oktober 2005 beauftragten Augenärzte Dr. M. und Dr. S. konnten den von Dr. H. diagnostizierten Sehnervenschwund aber nicht bestätigen. Sie diagnostizierten - bei Angaben der Klägerin über temporäre Doppelbilder und Cephalgien (Bl. 450-1, 3 Rs. VA) - ein Sicca-Syndrom (Trockenheit der Augenhöhle), rechts größer als links, eine geringe konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung links, eine verminderte Akkomoda¬tions¬breite des rechten Auges bei guter Akkomodationsbreite links sowie (Bl. 450-3 Rs. VA) eine dekompensierende Exophorie (latentes Auswärtsschielen, vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 265. Aufl., unter "Heteropathie") mit stark herabgesetzter Fusion (Verschmelzung der Bilder zu einem gemeinsamen Sinneseindruck, vgl. Pschyrembel, a.a.O. unter "Fusion"). Bei Berücksichtigung der von der Klägerin zeitweise angegebenen Doppelbilder betrage die MdE 10 v.H. Die HNO-Ärzte Prof. Dr. D. und S. diagnostizierten nach Untersuchung der Klägerin im September 2004 einen verbreiterten Nasenrücken, eine leichte Abflachung der Stirnkontur links sowie eine Hypästhesie des Nervus supraorbitalis links. Im Vergleich zur hno-ärztlichen Begutachtung des Jahres 1997 habe eine unveränderte Situation bestanden (Bl. 400-3 Rs. VA), die MdE betrage weiterhin weniger als 10 v.H. Der Neurologe und Psychiater Prof. Dr. S. ging in seinem Gutachten nach Aktenlage vom Januar 2006 auf neurologischem Fachgebiet von einer Teilschädigung des ersten Trigeminusastes links mit Gefühlsstörungen im Stirnbereich aus, eine Trigeminusneuralgie liege allerdings nicht vor. Die Klagen der Klägerin über wiederkehrende Kopfschmerzen im Stirnbereich seien auf Grund der knöchernen Verletzung dort noch einige Jahre nach dem Unfallereignis als Narbenkopfschmerzen nachvollziehbar, eine messbare MdE sei dadurch jedoch nicht anzunehmen (Bl. 470-2 VA). Als unfallbedingte Gesamt-MdE schlug Prof. Dr. S. 10 v.H. vor.

Auf dieser Grundlage anerkannte die Beklagte mit Bescheid vom 12.05.2006 die von der Klägerin subjektiv beklagten Beschwerden in Form gelegentlich auftretender Doppelbilder und Narbenkopfschmerzen nach knöchernen Schädelverletzungen als Unfallfolgen. Sie lehnte allerdings weiterhin die Gewährung einer Verletztenrente bei Bewertung der unfallbedingten Gesamt-MdE mit 10 v.H. ab (Bl. 480-1 VA). Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27.06.2006, Bl. 493 VA).

Die am Montag, dem 31.07.2006, beim Sozialgericht Freiburg mit Hinweis auf starke Kopfschmerzen und Doppelbilder (Bl. 9 SG-Akte) erhobene Klage hat dieses mit Gerichtsbescheid vom 09.01.2008 und unter Hinweis auf die aus seiner Sicht zutreffende Begründung im Widerspruchsbescheid abgewiesen.

Gegen den am 14.01.2008 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 14.02.2008 beim Sozialgericht Freiburg Berufung eingelegt (L 10 U 890/08), die sie u.a. mit Kopfschmerzen begründet hat. Wegen anstehender Operationen hat das Verfahren geruht.

Nach Durchführung dieser Operationen im Bereich von Nase und Auge im Juni 2009 (vgl. Bl. 577 VA) und August 2011 (vgl. Bl. 686-2 VA) hat Prof. Dr. H. , Direktor der HNO-Klinik des Städtischen Klinikums K. , im Rahmen einer sachverständigen Zeugenauskunft gegenüber dem Senat über eine zufriedenstellende Nasenluftpassage und ein zufriedenstellendes kosmetisches Ergebnis berichtet (Bl. 17 f. LSG-Akte).

Im Anschluss daran hat der Senat eine Begutachtung durch den Neurologen und Psychiater Prof. Dr. Dr. W. veranlasst. Bei seiner Untersuchung im September 2012 hat die Klägerin die Operationen vom Juni 2009 und August 2011 als "sehr erfolgreich" bezeichnet (Bl. 41 LSG-Akte). Ihre Kopfschmerzen seien nach der Operation im Juni 2009 etwas und seit der letzten Operation wirklich besser geworden, Doppelbilder sehe sie nur noch "ab und an". Prof. Dr. Dr. W. ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin im Rahmen der multiplen Gesichtsfrakturen mit Betonung der linken Orbitahöhle entweder durch den Unfall selbst oder durch die nachfolgenden Komplikationen eine Schädigung von Ästen des ersten Astes des Nervus Trigeminus links erlitt. Dabei sei es zu keiner Neuralgie im engeren Sinne mit kurzzeitig einschießenden Schmerzen, sondern zu einem anhaltenden Dauerschmerz im Sinne eines neuropathischen Schmerzsyndroms gekommen, das insbesondere durch den letzten Eingriff vom August 2011 deutlich gebessert worden sei. Die MdE hat er bis zur Operation im Juni 2009 mit 30 v.H., für den nachfolgenden Zeitraum bis zur Operation im August 2011 mit 20 v.H. und danach - auch unter Berücksichtigung der Doppelbilder - mit 10 v.H. bewertet.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 09.01.2008 und den Bescheid vom 12.05.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.06.2006 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 18.01.1997 Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H für die Zeit vom 01.05.2002 bis 31.08.2011 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat zwei beratungsärztliche Stellungnahmen des Neurologen und Psychiaters Prof. Dr. S. übersandt, der auch für die Vergangenheit keine rentenberechtigende MdE angenommen hat (Bl. 63 ff. LSG-Akte; Bl. 69 ff. LSG-Akte).

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Akten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Klägerin ist zulässig und im Umfang des von der Klägerin gestellten Antrages auch begründet.

Das Sozialgericht Freiburg hat die Klage zu Unrecht mit Gerichtsbescheid vom 09.01.2008 abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 12.05.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.06.2006 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Der Klägerin steht aus Anlass des am 18.01.1997 erlittenen Wegeunfalls Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. für die Zeit vom 01.05.2002 bis 31.08.2011 zu.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, haben nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern.

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperli¬chen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22.06.2004, B 2 U 14/03 R in SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermö¬gens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust un¬ter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäuße¬rungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit aus¬wirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unent¬behrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich dar¬auf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletz¬ten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswir¬kungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtli¬chen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.

Auf der Grundlage insbesondere des angefochtenen Bescheides mit der ausdrücklichen Anerkennung der bei der Klägerin vorhandenen Kopfschmerzen i.S. von "Narbenkopfschmerzen" und dem Gutachten von Prof. Dr. Dr. W. ist der Senat der Überzeugung, dass die Klägerin für den Zeitraum vom 01.05.2002 bis 31.08.2011 Anspruch auf Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. hat.

Nach ständiger Rechtsprechung müssen im Unfallversicherungsrecht die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung und die als Unfallfolge geltend gemachte Gesundheitsstörung erwiesen sein. Dementsprechend muss auch der innere Zusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und der Zurücklegung des Weges nachgewiesen sein, also sicher feststehen (BSG, Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 24/84 in SozR 2200 § 548 Nr. 70). Dies bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können muss (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 43/84 in SozR 2200 § 555a Nr. 1). Lediglich hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Gesundheitsstörung (haftungsausfüllende Kausalität) genügt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 30.04.1985, a.a.O.). Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen also zu Lasten des jeweiligen Klägers (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.1991, 2 RU 31/90 in SozR 3-2200 § 548 Nr. 11).

Im vorliegenden Fall steht bereits auf Grund der ausdrücklichen und insoweit bestandskräftigen Anerkennung von "Narbenkopfschmerzen nach knöchernen Schädelverletzungen" durch den Bescheid vom 12.05.2006, dort unter 1. (Bl. 480-1 VA), zwischen den Beteiligten und damit auch für den Senat fest, dass die bei der Klägerin seit dem Unfall und bis heute im Bereich der Augenhöhle und von dort ausstrahlenden Kopfschmerzen Unfallfolge sind. Denn mit der Anerkennung von "Narbenkopfschmerzen" erfasste die Beklagte die damals von der Klägerin geschilderte Schmerzsituation, die sich - dem Grund nach, wenn auch nicht in Bezug auf die Intensität - bis heute nicht geändert hat. Dem entsprechend bedarf es vorliegend keiner weiteren Diskussion zur genauen Ursache dieser Kopfschmerzen, insbesondere zu der Frage, ob diese Kopfschmerzen im Zusammenhang mit der - sowohl von Prof. Dr. S. in seinem Aktengutachten für die Beklagte als auch von Prof. Dr. Dr. W. in seinem Gutachten für den Senat beschriebenen unfallbedingten - Trigeminusschädigung stehen. Entsprechend muss der Senat auch den Überlegungen von Prof. Dr. S. und seinen Zweifeln, dass die durchgeführten Operationen keine Auswirkungen auf eine Trigeminusschädigung gehabt hätten, nicht nachgehen.

Der Senat hat auch keinen Zweifel, dass diese Kopfschmerzen vom Ausmaß her bis zur Operation im August 2011 eine MdE um 20 v.H. gerechtfertigt haben. Der Senat schließt sich insoweit der Beurteilung des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. Dr. W. an.

Anhaltspunkte für diese Einschätzung der MdE sind zum einen die eigenen Angaben der Klägerin gegenüber Prof. Dr. Dr. W. , wonach sie vor der Operation im Juni 2009 einen Dauerschmerz verspürt und deswegen zeitweise auch in enormem Umfang Schmerzmittel (Valoron) eingenommen habe. Nach der Operation 2009 seien die Schmerzen dann zum ersten Mal etwas besser geworden, seit der Operation 2011 habe sie nur noch in relativ geringem Umfang Kopfschmerzen (Bl. 54 LSG-Akte). Den Angaben der Klägerin ist vorliegend auch deshalb Glauben zu schenken, da sich die Klägerin im Rahmen der Untersuchung bei Prof. Dr. Dr. W. ausgeprägt dissimulierend gezeigt hat (Bl. 46 f. LSG-Akte) und sich weder in der Schmerz-Simulationsskala noch in dem strukturierten Fragebogen für simulierte Schmerzen Hinweise für eine Beschwerdeübertreibung durch die Klägerin gefunden haben (Bl. 49, 51 LSG-Akte). Auf Letzteres hat auch Prof. Dr. S. in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme hingewiesen (Bl. 63 Rs. LSG-Akte).

Soweit jedoch Prof. Dr. S. unterstellt, der Sachverständige Prof. Dr. W. stütze sich in der Beurteilung der funktionellen Auswirkungen ausschließlich auf die Angaben der Klägerin ihm gegenüber (Bl. 63 Rs. f. LSG-Akte), trifft dies nicht zu. Denn Prof. Dr. Dr. W. belegt seine Annahme aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen der langen Behandlungsgeschichte der Klägerin (Bl. 27 ff. LSG-Akte) und unterzieht sie damit einer hinreichenden Plausibilitätsprüfung.

Tatsächlich sind die - unfallbedingten - Kopfschmerzen seit dem Unfall aktenkundig. Dabei fällt auf, dass die Klägerin ihre Klagen über Kopfschmerzen, die sie im Wesentlichen immer wieder auf den Bereich der linken Augen- und Stirnseite mit weiteren Ausstrahlungen bezieht, Ärzten verschiedenster Fachrichtungen in gleicher Weise vortrug. Bereits im Unfalljahr 1997 schilderte die Klägerin u.a. dem neurologischen Gutachter B. "sehr schwere finstere Kopfschmerzen", die im ehemaligen Frakturbereich an der Stirn anfingen und sich dann langsam über den ganzen Kopf hinweg nach hinten ausbreiteten (Bl. 150-2 Rs. f. VA). Dass der Nervenarzt B. damals diese Kopfschmerzen als unfallunabhängig, weil u.a. durch Verspannungen im HWS- und Schulter-Nackenbereich bedingt, ansah, ist ebenso unzutreffend wie - angesichts der bereits dargestellten verbindlichen Anerkennung als Unfallfolge - unerheblich. Wendet man sich dann dem hier streitgegenständlich relevanten Zeitraum ab 2002 zu, dann greift u.a. Prof. Dr. H. im Juli 2004 die Schilderungen der Klägerin auf, es habe sich der seit dem Unfall bestehende Kopfschmerz links frontal und orbital verstärkt, das Gesicht sei periorbital morgens immer geschwollen (Bl. 315-2 VA). Im Februar 2008 wies Prof. Dr. H. gegenüber der Beklagten darauf hin, es bestünden seit dem Unfall ausgeprägte Mittelgesichtsschmerzen einschließlich einer Hautüberempfindlichkeit (Bl. 524 VA). Daneben wies auch Prof. Dr. E. , Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin des Städtischen Klinikums K. , auf die Schilderung anfallsweiser heftiger Schmerzen in den geschilderten Regionen hin (Bl. 552-1 VA). Auch der zwischenzeitlich behandelnde HNO-Arzt Dr. S. dokumentierte ständige Kopf- und Narbenschmerzen in diesem Bereich (Bl. 313-1 VA). In vergleichbarer Weise wiesen die HNO- und augenärztlichen Gutachter der Jahre 2004 und 2005 (Bl. 400, 450 VA) auf rezidivierende und schlimmer gewordene Cephalgien links frontal betont mit Ausstrahlungen in das linke Auge hin. Keiner dieser Ärzte zweifelte jemals an den Schmerzangaben der Klägerin und auch Prof. Dr. Dr. W. , der die Klägerin zuletzt untersucht hat, hat keinerlei Hinweise auf eine fehlende Glaubwürdigkeit gefunden. Schließlich bejahte selbst Prof. Dr. S. in seinem Gutachten nach Aktenlage im Jahre 2006 das Vorliegen der von der Klägerin angegebenen Schmerzen und deren Zusammenhang mit dem Unfall.

Bei seiner Beurteilung der MdE für die Kopfschmerzen hat sich Prof. Dr. Dr. W. (Bl. 58 LSG-Akte) an die Empfehlungen der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft gehalten. Dieser Beurteilung schließt sich der Senat an. Danach sind - so Prof. Dr. Dr. W. weiter - Kopfschmerzen vom Spannungstyp, der die angegebenen Schmerzen der Klägerin mit Hauptschmerzen links oberhalb des Auges im Bereich der Augenbraue und Ausstrahlungen von dort in das Auge und die Stirn (Bl. 54 LSG-Akte) entsprechen, bei häufigem Vorliegen und leichtem Charakter mit einer MdE von 0 bis 10 v.H., bei häufigem Vorliegen und schwerem Charakter mit einer MdE von 20 bis 30 v.H. zu bewerten. Dies entspreche - so der Sachverständige Prof. Dr. Dr. W. - in etwa auch den Angaben für Gesichtsneuralgien, wonach mittelgradige Neuralgien mit häufigeren, leichten bis mittelgradigen Schmerzen, die schon durch geringe Reize auslösbar sind, mit einer MdE von 20 bis 40 v.H. zu bewerten sind. Auch Prof. Dr. S. hat gegen diese Darlegung der allgemeinen Grundsätze der MdE-Bewertung durch den gerichtlichen Sachverständigen keine Einwände erhoben. Damit übereinstimmend werden Kopfschmerzen nach Schädel-Hirn-Traumen nach der unfallmedizinischen Literatur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, S. 186) bei leichter Ausprägung mit einer MdE von 10 bis 20 v.H. und bei mittelgradiger Ausprägung mit einer MdE von 20 bis 30 v.H. bewertet.

Dabei geht der Senat mit Prof. Dr. Dr. W. auf Grund der aktuellen Beschwerdeangaben der Klägerin gegenüber dem Sachverständigen davon aus, dass die MdE für die Kopfschmerzen seit der Operation im August 2011 mit der dadurch eingetretenen Beschwerdebesserung nur noch 10 v.H. beträgt. Dem hat selbst Prof. Dr. S. ausdrücklich zugestimmt.

Für die Zeit vor der Operation im August 2011 und damit vor der dadurch eingetretenen Beschwerdebesserung bewertet der Senat die MdE in Übereinstimmung mit Prof. Dr. Dr. W. mit 20 v.H. Denn es handelte sich um häufige Kopfschmerzen, nämlich - so der gerichtliche Sachverständige - um einen anhaltenden Dauerschmerz mit nicht nur leichtem, sondern schwererem Charakter. Soweit Prof. Dr. Dr. W. für die Zeit vor der Operation im Juni 2009 eine MdE um 30 v.H. veranschlagt hat, hat er dies allein auf die Angaben der Klägerin, mit der Operation sei es "etwas besser" geworden, gestützt. Für den Senat ist diese Angabe indessen zu unspezifisch, um hieraus eine Abstufung um zehn Prozentpunkte vornehmen zu können. Diesen Bedenken hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat Rechnung getragen und ihren Antrag auf eine MdE um 20 v.H. auch für die Zeit vor der Operation im Juni 2009 beschränkt.

Den Einwänden von Prof. Dr. S. in seinen von der Beklagten vorgelegten Stellungnahmen gegen eine MdE in Höhe von 20 v.H. folgt der Senat nicht.

Prof. Dr. S. erläutert bereits nicht, warum er eine höhere MdE als 10 v.H. verneint, obwohl er - mit Prof. Dr. Dr. W. - den derzeitigen (Schmerz)Zustand der Klägerin, also nach der Operation vom August 2011, mit 10 v.H. bewertet, und obwohl es durch die Operation zu einer ganz erheblichen Besserung des Beschwerdezustandes gekommen ist. Stattdessen versucht Prof. Dr. S. den (von Prof. Dr. Dr. W. angenommenen) Kausalzusammenhang zwischen Trigeminusschädigung und Besserung durch die erfolgte Operation in Zweifel zu ziehen. Indessen kommt es, wie ausgeführt, angesichts der bereits als Unfallfolge - im Übrigen aus Sicht des Senats zu Recht - anerkannten Kopfschmerzen auf deren genaue anatomische Ursache nicht an. Insoweit gehen die Ausführungen von Prof. Dr. S. an der Sache vorbei. Wenn aber - so Prof. Dr. Dr. W. und Prof. Dr. S. übereinstimmend - die MdE für die Unfallfolgen einschließlich der Kopfschmerzen nach der Operation im August 2011 immerhin noch 10 v.H. betragen, muss bei einer wesentlichen Besserung durch die Operation für die Zeit davor von einer erheblich höheren MdE ausgegangen werden.

Nicht zu folgen vermag der Senat auch der Behauptung von Prof. Dr. S. , ohne Befunde aus der Vergangenheit lasse sich eine MdE für die Vergangenheit nicht bewerten. Nach den Erfahrungen des Senats aus einer Vielzahl sozialrechtlicher Streitigkeiten mit der Beurteilung von Schmerzzuständen - und der entsprechenden Darstellung in der mündlichen Verhandlung hat auch die Beklagte nicht widersprochen - sind Kopfschmerzen, wie Schmerzen allgemein, dem unmittelbaren Nachweis, also einer klassischen Befunderhebung, regelmäßig nicht zugänglich. Schmerzen lassen sich nicht messen. Möglich sind für den Nachweis entsprechender Beschwerden Rückschlüsse aus anderen feststellbaren Tatsachen, z.B. lindernde Gesten, Augentränen u.a. (s. die Darstellung von Prof. Dr. S. in seiner zweiten Stellungnahme). Abgesehen davon, dass die Klägerin gegenüber dem Sachverständigen gerade über derartige lindernde Gesten berichtet hat (Druck auf die Schmerzregion Augenbraue erbringe Besserung, Bl. 54 LSG-Akte), ist die Feststellung derartiger, zu Rückschlüssen auf Schmerzen führender Tatsachen in erster Linie geeignet, entsprechende Beschwerdeangaben - hier also über Kopfschmerzen - zu verifizieren. Dass die Klägerin an Kopfschmerzen leidet, steht aber - mehrmals dargelegt - fest und bedarf keines weiteren objektivierbaren Nachweises. Damit kommt es auch nicht darauf an, aus welchen Gründen die früheren Gutachter solche Befunde nicht beschrieben haben. Im Übrigen hielt selbst der Nervenarzt B. die Angaben der Klägerin, wie alle anderen mit der Begutachtung und Behandlung befassten Mediziner und wie selbst Prof. Dr. S. im Jahre 2006, für glaubhaft.

Die von Prof. Dr. S. aufgestellte Forderung nach einer konkreten Befunderhebung in Bezug auf das konkrete Ausmaß von Schmerzen ist damit erst recht nicht realistisch. Auch Prof. Dr. S. beschreibt nicht, wie er sich den konkreten Befund eines konkreten Ausmaßes eines Schmerzes vorstellt. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob die Angaben des Versicherten hierzu, zum Ausmaß seiner Beschwerden, hier also zu Häufigkeit und Schwere der Kopfschmerzen, glaubhaft sind. Insoweit hat Prof. Dr. Dr. W. zu Recht für seine MdE-Beurteilung die Angaben der Klägerin zu Grunde gelegt, an deren Glaubwürdigkeit - wie dargelegt - keine Zweifel bestehen.

Schließlich setzt sich Prof. Dr. S. mit seiner Behauptung, ohne konkrete Befunde lasse sich keine MdE beurteilen, in Widerspruch zu seinem früheren Gutachten. Dort sah er sich sehr wohl in der Lage, ohne eigene Untersuchung der Klägerin, allein auf der Grundlage der bis heute insoweit unveränderten aktenkundigen Befunde, die nach seinen jetzt vorgelegten Stellungnahmen keine hinreichende Grundlage für eine Beurteilung sein sollen, das Vorliegen von Kopfschmerzen und deren Zusammenhang mit dem Unfall zu bejahen. Selbst die Beurteilung der MdE war ihm ohne Untersuchung der Klägerin und ohne eine zielgerichtete Anamnese, wie sie nun der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. Dr. W. erstellt hat, möglich (unter 10 v.H.). Dabei war schon anhand der - oben bereits beschriebenen - Befundberichte der behandelnden Ärzte erkennbar, dass es sich nicht nur um gelegentliche Kopfschmerzen handelte, sondern ein erhebliches Schmerzsyndrom bestand. Schon wegen des Fehlens einer zielgerichteten Anamnese hätte er damals keine derartige Beurteilung vornehmen dürfen. Dies gilt erst recht, wenn seine jetzt für eine Beurteilung aufgestellten Forderungen zu Grunde gelegt würden.

Der Senat geht auf der Grundlage der von der Klägerin im Oktober 2002 bzw. Februar 2003 angegebenen Verschlimmerung des Beschwerdezustandes davon aus, dass zum damaligen Zeitpunkt tatsächlich eine Verschlechterung der Kopfschmerzen eintrat. Bestätigt wird dies durch den Bericht von Prof. Dr. E. vom Juli 2002 (Bl. 315-2 VA), wonach sich der Kopfschmerz im letzten Vierteljahr, also zu irgendeinem Zeitpunkt im Monat April 2002 verstärkt habe. Hiervon ausgehend kann eine dauerhafte Verschlechterung ab 01.05.2002 angenommen werden.

Die Verletztenrente beginnt somit am 01.05.2002 und endet am Ende des Monats, in dem die Besserung eingetreten ist (§ 73 Abs. 3 SGB VII), hier also im Monat August 2011 durch die Operation und damit am 31.08.2011. Damit ist die Beklagte entsprechend dem von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat gestellten Antrag zu verurteilen.

Da der Senat somit dem von der Klägerin gestellten Antrag in vollem Umfang folgt, erübrigen sich Ausführungen zur Frage, dass zwar weitere Unfallfolgen vorlagen und vorliegen, diese aber zu keiner höheren MdE führen. Lediglich am Rande weist der Senat deshalb darauf hin, dass die HNO-Ärzte Prof. Dr. D. und S. die MdE auf ihrem Fachgebiet, wie im früheren Gutachten, mit unter 10 v.H. bewerteten. Auf augenärztlichem Gebiet wurde der von Dr. H. diagnostizierte Sehnervenschwund bei der nachfolgenden Begutachtung durch die Augenärzte Dres. M. /S. nicht bestätigt und auch in der Folgezeit finden sich keine Hinweise auf eine derartige Gesundheitsstörung. Stattdessen bestand neben einem beidseitig trockenen Auge eine verminderte Akkomodationsbreite des rechten Auges bei guter Akkomodationsbreite des linken Auges. Beide Störungen sind, da nur die linke Gesichtshälfte vom Unfall betroffen war, nicht unfallbedingt. Als unfallbedingt anzusehen ist daher nur eine geringe konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung links und eine dekompensierende Exophorie mit stark herabgesetzter Fusion als einer Form des latenten Schielens mit - im Bescheid vom 12.05.2006 ebenfalls ausdrücklich anerkannt - gelegentlich auftretenden Doppelbildern. Diese Gesundheitsstörungen wurden von den Gutachtern mit einer MdE um 10 v.H. bewertet, allerdings mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die Einbeziehung der angegebenen Doppelbilder. Hierzu hat Prof. Dr. Dr. W. allerdings dargelegt, dass diese Doppelbilder keine Erhöhung der MdE im Verhältnis zu den Kopfschmerzen rechtfertigten. Dies ist angesichts des nur gelegentlichen Auftretens nachvollziehbar. Insgesamt hat auch Prof. Dr. Dr. W. keinen Grund gesehen, die für die Kopfschmerzen angenommene MdE wegen der Unfallfolgen auf den anderen Fachgebieten zu erhöhen. Dies ist aus Sicht des Senats zutreffend und dem folgend hat die Klägerin ihren Antrag auf eine MdE um 20 v.H. beschränkt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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