L 9 R 5181/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 12 R 1927/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 5181/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 29. Oktober 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist zwischen den Beteiligten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die 1963 geborene Klägerin kam im Oktober 1987 aus der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland. Sie hat keinen Beruf erlernt. Nach ihren Angaben hat sie in der Türkei eine kurze Zeit in einer Bäckerei gearbeitet, während sie in der Bundesrepublik Deutschland nicht berufstätig war, sondern ihre Kinder erzogen hat. Ausweislich des Versicherungsverlaufs vom 30.03.2011 hat die Klägerin in der Zeit von Januar 2005 bis Dezember 2010 Arbeitslosengeld II bezogen.

Am 27.12.2010 beantragte sie die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte zog ein von dem Neurologen und Psychiater Dr. K. für die Agentur für Arbeit A. erstattetes Gutachten vom 03.12.2010 bei und ließ die Klägerin von dem Neurologen und Psychiater Dr. H. begutachten. Dieser stellte – unter Hinzuziehung eines Dolmetschers – bei der Klägerin im Gutachten vom 08.03.2011 eine Somatisierung, Anpassungsstörungen (zum Untersuchungszeitpunkt keine depressive Symptomatik mit Relevanz für das Leistungsvermögen) und degenerative Wirbelsäulenveränderungen (zum Untersuchungszeitpunkt ohne fokale Defizite mit Relevanz für das Leistungsvermögen) und eine Adipositas fest. Er gelangte zum Ergebnis, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ohne Nachtschicht, ohne erhöhten Zeitdruck und ohne Wirbelsäulenzwangshaltungen könne die Klägerin sechs Stunden und mehr verrichten.

Mit Bescheid vom 25.03.2011 lehnte die Beklagte die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung ab, weil die medizinischen Voraussetzungen nicht vorlägen. Nach ihrer medizinischen Beurteilung könne die Klägerin noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25.05.2011 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 08.06.2011 Klage zum Sozialgericht Ulm (SG) erhoben und vorgetragen, sie leide unter starken Schmerzen. Dr. K. habe im Gutachten vom 03.12.2010 ausgeführt, aufgrund der aktuellen Beschwerden sei von einer dauerhaften Einschränkung auszugehen. Die Klägerin hat einen Entlassungsbericht der HNO-Klinik des K.hospitals vom 08.10.2012 über eine stationäre Behandlung vom 05.10.2012 bis 08.10.2012 vorgelegt.

Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin (Professor Dr. I., Chefarzt der Chirurgischen Abteilung der St. A. Klinik, die Internisten Dr. R. und Dr. D. sowie den Neurologen und Psychiater Dr. K.) schriftlich als sachverständige Zeugen gehört (Auskünfte vom 19.07.2011, 24.07.2011, 06.08.1011 und 09.09.2011). Hierauf wird Bezug genommen.

Auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG Dr. S., Arzt für innere Medizin und Hausarzt, mit der Begutachtung der Klägerin beauftragt. Dieser hat im Gutachten vom 13.04.2012 bei der Klägerin auf seinem Fachgebiet folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: Arterielle Hypertonie, Refluxösophagitis, Gastroduodenitis, Schlafapnoe-Syndrom, psychosomatische Störungen und Adipositas (92 kg bei 152 cm). Er hat ausgeführt, die Klägerin sei in der Lage, leichte Arbeiten bis zu drei Stunden täglich zu verrichten. Tätigkeiten mit Zwangshaltungen, häufigem Bücken, Ersteigen von Treppen, Leitern und Gerüsten sowie mit Heben und Tragen von Lasten könne die Klägerin nicht durchführen. Aufgrund des chronischen Schmerzsyndroms der Lendenwirbelsäule (LWS) und der Kniegelenke bei Gonarthrose und Adipositas, des Schwindelsyndroms sowie der Schlafapnoe mit Müdigkeit und Konzentrationsschwäche dürfe die Klägerin keinen gefährlichen Maschinen bedienen. Außerdem benötige sie vermehrte Arbeitspausen. Die Klägerin sei aufgrund der orthopädischen Erkrankungen nicht in der Lage, viermal täglich mindestens 500 m zu Fuß zurückzulegen. Die Leistungseinschränkungen der Klägerin bestünden seit zehn Jahren.

Die Beklagte hat beratungsärztliche Stellungnahmen des Leitenden Medizinaldirektors Dr. S. vom 06.10.2011 und 27.04.2012 vorgelegt, der u. a. ausführt, die von Dr. S. angenommene Minderung des Leistungsvermögen im Erwerbsleben sei aus prüfärztlicher Sicht keineswegs plausibel und stehe im Gegensatz zu sämtlichen Vorgutachten. Die von Dr. S. erhobenen Untersuchungsbefunde und die gestellten Diagnosen sprächen nicht für eine Minderung des Leistungsvermögens im quantitativen Umfang.

Mit Urteil vom 29.10.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin sei nach Überzeugung des SG nicht erwerbsgemindert. Bei seiner Beurteilung stütze sich das SG auf das Gutachten von Dr. H. vom 08.03.2011. Die Berichte der behandelnden Ärzte der Klägerin und das Gutachten von Dr. S. seien nicht geeignet, eine andere Leistungseinschätzung zu begründen. Da die Klägerin vollschichtig leistungsfähig sei, habe sie keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung. Ihr stehe auch keine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu, da sie nach dem 01.01.1961 geboren sei. Auf die Entscheidungsgründe im Übrigen wird Bezug genommen.

Gegen das am 10.12.2012 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 13.12.2012 Berufung eingelegt und vorgetragen, das SG habe nicht ausreichend ermittelt. Ihr Gesundheitszustand habe sich seit Klageerhebung weitergehend verschlechtert. So habe Dr. S. im Gutachten vom 13.04.2012 festgestellt, dass sie aufgrund der orthopädischen Gesundheitsstörungen nicht in der Lage sei, viermal täglich mindestens 500 m zu Fuß zurückzulegen und leichte Arbeiten lediglich bis zu drei Stunden täglich durchführen könne. Dies sei im Urteil nicht ausreichend gewürdigt worden. Deshalb hätte ein weiterer Arzt mit ihrer Begutachtung beauftragt oder auf andere Weise festgestellt werden müssen, ob ihr Gesundheitszustand einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung rechtfertige. Die Klägerin hat einen Arztbrief des Orthopäden Dr. Z. vom 12.11.2012 (Diagnose: Pseudoradikuläres LWS-Syndrom) vorgelegt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 29. Oktober 2012 sowie den Bescheid der Beklagten vom 25. März 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Mai 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 1. Dezember 2010 Rente wegen Erwerbsminderung nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erwidert, aus der Berufungsbegründung und dem Befundbericht vom 12.11.2012 ergäben sich keine neuen rechtserheblichen Tatsachen, die zu einer Änderung ihrer bisherigen Beurteilungen führen könnten.

Die Klägerin hat weitere Arztbriefe des Orthopäden Dr. Z. vom 29.06.2013 (Diagnose: Bandscheibenprolaps L4/5, Lumboischialgie links), des Radiologen Dr. B. vom 20.11.2012 (MRT LWS) und des Neurologen und Psychiaters Dr. P. vom 30.01.2013 vorgelegt.

Der Senat hat den Psychiater Dr. G. schriftlich als sachverständigen Zeugen gehört. Dieser hat unter dem 16.10.2013 über Behandlungen der Klägerin vom 09.11.2010 bis 29.08.2013 (seit Jahren depressive Verstimmungen und verschiedene somatische Beschwerden, v.a. sehr starke Kopfschmerzen, zum Teil mit Übelkeit, im Rahmen verschiedener Probleme) berichtet. Die depressive Symptomatik sei bei der letzten Befunderhebung etwas gebessert gewesen.

Die Beklagte hat beratungsärztliche Stellungnahmen des Leitenden Medizinaldirektors Dr. S. vom 29.01.2013, des Leitenden Medizinaldirektors Dr. S. vom 02.08.2013 und des Leitenden Medizinaldirektors Dr. H. vom 07.11.2013 vorgelegt.

Mit Verfügung vom 13.01.2014 hat die Berichterstatterin auf die Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG hingewiesen und dem Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung der Klägerin ist jedoch nicht begründet. Das angefochtene Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden, da die Klägerin keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung hat.

Gemäß § 153 Abs. 4 SGG kann das LSG - nach vorheriger Anhörung der Beteiligten - die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Im vorliegenden Fall sind die Berufsrichter des Senats einstimmig zum Ergebnis gekommen, dass die Berufung unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist. Mit Schreiben vom 13.01.2014 hat der Senat die Beteiligten auch auf die Möglichkeit einer Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG hingewiesen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Eine Zustimmung der Beteiligten ist nicht erforderlich.

Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die hier von der Klägerin beanspruchte Rente wegen voller und teilweiser Erwerbsminderung - § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) - dargelegt und ebenso zutreffend ausgeführt, dass ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung oder teilweiser Erwerbsminderung nicht besteht, weil die Klägerin noch vollschichtig, das heißt wenigstens sechs Stunden täglich, leistungsfähig ist. Zu Recht hat das SG auch entschieden, dass ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit schon deswegen nicht in Betracht kommt, weil die Klägerin nicht vor dem 02.01.1961 geboren ist. Der Senat schließt sich dem nach eigener Prüfung und unter Berücksichtigung des Vorbringens im Berufungsverfahren sowie der im Berufungsverfahren durchgeführten Ermittlungen uneingeschränkt an, sieht gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe weitgehend ab und weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils zurück.

Ergänzend ist auszuführen, dass auch der Senat nicht festzustellen vermag, dass das Leistungsvermögen der Klägerin für körperlich leichte Tätigkeiten zu ebener Erde in normal temperierten Räumen ohne Wirbelsäulenzwangshaltungen, ohne Nachtschicht und ohne Zeitdruck auf unter sechs Stunden täglich herabgesunken ist. Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat aufgrund des Gutachtens des Neurologen und Psychiaters Dr. H. vom 08.03.2011, das im Wege des Urkundenbeweises verwertet wird, der sachverständigen Zeugenaussagen der Internisten Dr. R. und Dr. D. vom 25.07.2011 und 06.08.2011 sowie der beratungsärztlichen Stellungnahmen der Leitenden Medizinaldirektoren Dr. S., Dr. S. und Dr. H. vom 06.10.2011, 27.04.2012, 02.08.2013 und 07.11.2013, die als qualifiziertes Beteiligten-vorbringen verwertet werden.

Der abweichenden Leistungsbeurteilung von Dr. S. vermag sich der Senat – ebenso wie das SG – nicht anzuschließen. Aus dem Gutachten von Dr. S. ist schon nicht zu entnehmen, welche Gesundheitsstörungen zu quantitativen Leistungseinschränkungen führen sollen, zumal weder die von ihm erhobenen Untersuchungsbefunde noch die von ihm gestellten Diagnosen für eine Minderung des Leistungsvermögens der Klägerin sprechen, wie Dr. S. in der Stellungnahme vom 27.04.2012 nachvollziehbar dargelegt hat. Darüber hinaus haben auch die behandelnden Internisten Dr. R. und Dr. D. ein sechsstündiges Leistungsvermögen bei der Klägerin angenommen, wie sich aus ihren sachverständigen Zeugenaussagen vom 25.07.2011 und 06.08.2011 ergibt.

Aus dem Gutachten des Internisten Dr. S. ergeben sich auch keine Befunde auf orthopädischem oder psychiatrischem Gebiet, die die von ihm vorgenommene Leistungseinschätzung begründen könnten. Im Übrigen würde eine solche Beurteilung von ihm als Internisten fachfremd abgegeben und auch im Widerspruch zu den Beurteilungen der Fachärzte, des Chirurgen Dr. R. im Gutachten vom 10.04.2006 und des Neurologen und Psychiaters Dr. H. im Gutachten vom 08.03.2011, stehen, zumal Dr. S. - entgegen der Ansicht der Klägerin – keine Verschlimmerung im Gesundheitszustand der Klägerin während des Klageverfahrens festgestellt, sondern vielmehr behauptet hat, die Leistungseinschränkungen der Klägerin bestünden seit zehn Jahren, d.h. auch schon zum Zeitpunkt der Begutachtung durch den Chirurgen Dr. R., der ein über sechsstündiges Leistungsvermögen der Klägerin bestätigt hatte.

Aus den von Dr. S. bei der Klägerin erhobenen Befunden vermag der Senat auch nicht abzuleiten, dass die Klägerin nicht mehr in der Lage wäre, viermal täglich mindestens 500 m in zumutbarer Zeit zurückzulegen, zumal Dr. S. an der Wirbelsäule der Klägerin lediglich einen Druck- und Klopfschmerz an der unteren Halswirbelsäule (HWS) und der LWS erhoben und eine aktiv und passiv freie Beweglichkeit der Extremitäten bei seitengleich auslösbaren Reflexen festgestellt hat. Darüber hinaus hat die Klägerin gegenüber Dr. H. angegeben, sie gehe ein bis zwei Stunden spazieren, was auch gegen die Beurteilung von Dr. S. spricht. Soweit er vermehrte Arbeitspausen bei der Klägerin für erforderlich hält, hat er eine Begründung hierfür ebenfalls nicht abgegeben. Der bei der Klägerin am 20.11.2012 mittels MRT diagnostizierte Bandscheibenvorfall bei LWK4/5 war lediglich flach ausgeprägt und die von Dr. Z. im Arztbrief vom 29.06.2013 beschriebene Lumboischialgie links war einer Behandlung zugänglich, wobei eine Besserung auf Krankengymnastik eintrat. Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin auf Dauer lässt sich daraus nicht ableiten.

Aus der sachverständigen Zeugenaussage des Psychiaters Dr. G. vom 16.10.2013, der die Klägerin im Zeitraum vom 09.11.2010 bis 29.08.2013 behandelt hat, lässt sich ebenfalls keine wesentliche Verschlimmerung im Vergleich zu den von Dr. H. im Gutachten vom 08.03.2011 erhobenen Befunden ableiten, zumal Dr. G. ausführt, die depressiven Verstimmungen und die somatischen Beschwerden bestünden seit Jahren, wobei sich die depressive Symptomatik seit der letzten Befunderhebung etwas gebessert habe.

Es bestand und besteht auch keine Notwendigkeit, ein weiteres Gutachten allein deswegen einzuholen, weil die Leistungseinschätzung von Dr. S. von derjenigen des Neurologen und Psychiaters Dr. H. und der behandelnden Internisten Dr. R. und Dr. D. abweicht. Die Würdigung unterschiedlicher Gutachtensergebnisse gehört vielmehr zur Beweiswürdigung, die dem Senat vorbehalten ist (vgl. BSG, Urteil vom 22.10.2008 – B 5 KN 1/06 B in Juris).

Nach alledem war das angefochtene Urteil des SG nicht zu beanstanden. Die Berufung der Klägerin musste deswegen zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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