L 3 U 57/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 98 U 155/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 3 U 57/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 23. November 2010 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1962 geborene Kläger betreibt seit Januar 2007 das Taxiunternehmen D, S. Er ist bei der Beklagten seit dem 18. Januar 2007 als selbstständiger Unternehmer gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) in Verbindung mit § 44 Abs. 1 der Satzung der Beklagten pflichtversichert.

Am 23. Januar 2009 erlitt der Kläger einen von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfall, bei dem er mit seinem Fahrzeug frontal auf einen, ihm die Vorfahrt nehmenden Pkw bei ungebremster Geschwindigkeit von 50 km/h prallte. Am 25. Januar 2009 stellte der Kläger sich bei Dr. S vor, der in seinem Durchgangsarzt (DA) Bericht vom selben Tag als Diagnose einen Muskelhartspann im Bereich der Halswirbelsäule (HSW) und Schmerzen beidseits der Lendenwirbelsäule (LWS) aufführte. Grob neurologisch und motorisch seien keine Auffälligkeiten feststellbar, aktuell allenfalls geringe Kopfschmerzen. Nach dem Unfall seien keine Übelkeit, kein Erbrachen, kein Schwindel aufgetreten. Zum Unfallhergang gab der Kläger an, dass der Airbag sich bei dem Auffahrunfall nicht ausgelöst habe und er mit dem Kopf auch nirgendwo angeprallt sei. Bewusstlosigkeit habe nicht bestanden, unter Einnahme von Paracetamol 500 mg hätten sich die Beschwerden gebessert.

Am 28. Januar 2009 suchte der Kläger den Facharzt für Chirurgie Dr. B auf, der ein HWS Distorsionstrauma I. Grades ohne neurologische Auffälligkeiten diagnostizierte (H Arzt Bericht vom 28. Januar 2009).

Am 26. Februar 2009 suchte der Kläger den Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde (HNO) Dr. G auf, der einen dekompensierten, auskultatorisch nicht objektivierbaren Tinnitus auris rechts bei Hochton-Schallempfindungsschwerhörigkeit rechts nach HWS Schleudertrauma diagnostizierte und vermerkte, dass der Kläger den Tinnitus rechts erst nach einigen Tagen richtig bemerkt habe und keine Hörminderung und kein Schwindelgefühl bestünden. Hergang und Befund würden gegen die Annahme eines Arbeitsunfalles sprechen. Von Dr. G veranlasste Röntgenaufnahmen der HWS des Klägers vom 12. März 2009 ergaben eine Osteochondrose mit Verschmälerungen der Intervertebralräume gering bei HWK 5/6 und deutlicher bei HWK 6/7, dort auch eine Arthrose mit geringer dorsaler Kantenausziehung und Spondylosis deformans. Ein Nachweis einer bei dem Auffahrunfall erlittenen Fraktur oder knöchernen Destruktion wurde nicht festgestellt. Dr. B führte dazu aus, dass die Röntgenaufnahme der HWS bis auf eine Streckhaltung keine traumatischen, aber beginnende degenerative Veränderungen aufweise. Der Kläger klage weiterhin über einen posttraumatischen Tinnitus rechts ohne Gleichgewichtsstörungen.

Die Beklagte veranlasste die Einholung einer Stellungnahme ihres Beratungsarztes Dr. B, der bei vorbestehenden degenerativen Veränderungen der HWS einen verzögerten Heilungsverlauf für möglich hielt, einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Tinnitus jedoch ablehnte.

Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. Juli 2009 es ab, den Tinnitus als Folge des Arbeitsunfalles vom 23. Januar 2009 anzuerkennen; insofern bestehe kein Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Unfallfolge sei lediglich eine HWS-Distorsion ersten Grades.

Mit seinem hiergegen gerichteten Widerspruch machte der Kläger geltend, der behandelnde Facharzt für Chirurgie Dr. S, habe als Befund und Diagnose direkt nach dem Frontalaufprall Folgendes festgestellt: 1. HWS Distorsion, 2. LWS Distorsion, Tinnitus auris (siehe beigefügter Arztbericht vom 26. Juni 2009 an die Haftpflichtversicherung des Unfallschädigers). Ein Tinnitus sei häufig Folge eines sogenannten Schleudertraumas und ein Tinnitus, der in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einem Unfall erstmals aufgetreten sei, könne durchaus dem Schadensereignis zugerechnet werden. Er selbst habe vor dem Schadensfall niemals Tinnitus Beschwerden gehabt, sondern erstmalig danach, mit typischerweise etwas verzögertem Beginn nach dem schweren Unfall. Die diesbezüglichen Beeinträchtigungen seien direkt nach dem Schadensereignis von sogenannten Primärverletzungen wie Schmerzen in der WS, Nacken- und Kopfschmerzen überdeckt worden, Schwindel sei bereits unmittelbar nach dem Aufprall vorhanden gewesen. Der behandelnde Arzt Dr. S habe zunächst geraten abzuwarten, da Tinnitus Beeinträchtigungen manchmal wieder verschwinden würden. Als dies dann zirka vier Wochen lang nicht der Fall gewesen sei, sei die Überweisung zum HNO Spezialisten erfolgt.

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 03. Februar 2010 als unbegründet zurück. Ein Tinnitus als Folge eines Traumas könne nur dann ausreichend wahrscheinlich gemacht werden, wenn gleichzeitig andere objektivierbare pathologische Befunde aufgetreten seien, etwa eine messbare Hörstörung, objektivierbare Gleichgewichtsstörungen, neurologische Ausfälle oder eine Schädelbasisfraktur. All dies sei beim Kläger nicht festgestellt worden. Ein Tinnitus als alleiniges Symptom lasse sich in der Regel nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit als Unfallfolge darstellen (vgl. auch Feldmann, Gutachten des HNO Arztes, 1997; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, Seite 468).

Die hiergegen vor dem Sozialgericht (SG) Berlin erhobene Klage, mit der der Kläger pauschal "Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung" geltend gemacht und diesen Antrag trotz entsprechenden Hinweises des Gerichts (Schreiben vom 12. Juli 2010), dass die Beklagte über konkrete Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung noch gar keine Entscheidung getroffen habe, nicht im Sinn einer Feststellungsklage korrigiert hat, hat das SG Berlin mit Gerichtsbescheid vom 23. November 2010 als unzulässig abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Verfügungssatz des Bescheides vom 27. Juli 2009, der ganz generell von "Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung" spreche, noch keine Entscheidung über konkrete Leistungsansprüche der gesetzlichen Unfallversicherung beinhalte (vgl. Bundessozialgericht BSG , Urteile vom 07. September 2004, B 2 U 45/03 und B 2 U 46/03 R, beide in juris). Der Sache nach habe die Beklagte lediglich entschieden, dass der Tinnitus keine Folge des Arbeitsunfalles vom 23. Januar 2009 sei. Zulässig wäre daher nur der Antrag auf Feststellung des Kausalzusammenhanges zwischen der Gesundheitsstörung und dem Unfall gewesen (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG)), worauf das Gericht auch ausdrücklich hingewiesen habe.

Mit seiner hiergegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren auf Feststellung seines Tinnitus als Unfallfolge weiter und trägt vor, er sei in HNO ärztlicher Behandlung bei Dr. G sowie bei Dr. A, Tinnitus Zentrum C, gewesen. Auch sei er im Jahr 1998 bei der Bundesagentur für Arbeit begutachtet worden sei, jedoch würden keine Unterlagen mehr vorliegen. Er sei seit 1991 Taxifahrer und sei in dieser Eigenschaft zudem alle drei Jahre, heute allerdings nur noch alle fünf Jahre, durch das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten, Referat Fahrerlaubnisse, Personenbeförderung, begutachtet worden. Der aktuelle Personenbeförderungsschein sei am 21. April 2011 ausgestellt worden, die Begutachtung sei wohl im Zeitraum Januar bis April 2011 erfolgt. Auf entsprechende Anfrage des Gerichts hat das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (Schreiben vom 13. September 2012) mitgeteilt, dass im Rahmen der ärztlichen Untersuchung auch das Hörvermögen auf schwere Störungen hin untersucht werde (Anlage 5 zu § 48 Abs. 4 und 5 der Fahrerlaubnisverordnung) und Kopien über die ärztlichen Tauglichkeitsuntersuchungen übersandt (Arzt für Allgemeinmedizin Dr. S, Bescheinigung über die ärztliche Untersuchung vom 17. März 2011: Keine weitergehende Untersuchung, da keine Beeinträchtigungen des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögen hätten festgestellt werden können; beigefügt war lediglich die Begutachtung der Seefähigkeit/Zeugnis).

Das Landessozialgericht (LSG) hat alsdann Befundberichte (BB) von Dr. G vom 30. November 2011 sowie von Dr. A vom Tinnitus Zentrum C vom 16. Dezember 2011 eingeholt.

Im Auftrag des LSG hat die Fachärztin für HNO Heilkunde Dr. H am 27. September 2012 ein Gutachten erstattet. Die Sachverständige gelangte nach Untersuchung des Klägers zur Feststellung einer Normalhörigkeit mit Schallempfindungsschwerhörigkeit rechts bei Normalhörigkeit links. Die relevanten Frequenzen lägen rechts bei 15 35 40, links bei 10 10 10, was einem prozentualen Hörverlust von 0 links und 10 rechts entspreche. Da keine Hörtests aus der Zeit vor dem Unfall vorgelegt worden seien, lasse sich das Hörvermögen vorher und nachher nicht eindeutig abgrenzen. Der Kläger selbst habe nach dem Unfall lediglich Nacken-, später WS Beschwerden angegeben sowie ein Ohrgeräusch rechts mit einiger Verzögerung und eine gewisse Benommenheit für einige Tage, aber keine Hörstörung. Die Untersuchungen hätten keine Durchblutungsstörungen ergeben, der Kläger gebe ein nicht objektivierbares hochfrequentes Ohrgeräusch rechts bei 8 kHz an. Die Sachverständige hat des Weiteren ausgeführt, dass eine HWS Distorsion grundsätzlich geeignet sei, eine Innenohrstörung hervorzurufen, in der Regel direkt im Anschluss an das Trauma oder mit kurzer Latenz. Ein Ohrgeräusch als Unfallfolge sei aber nur anzuerkennen, wenn es cochleär und frequenzstabil sei und mit einer weiteren Innenohrstörung (Hörminderung oder vestibulärer Schwindel) einhergehe. Beim Kläger sei das Ohrgeräusch im Maximum der Hörstörung und in allen drei Untersuchungen nahezu frequenzstabil gewesen, es liege auch auf der betroffenen Seite eine Hörminderung im Hochtonbereich vor. Da keine konkurrierenden Erkrankungen vorliegen würden und Voraudiogramme nicht hätten beigebracht werden können, müsse man von einer unfallbedingten Hörminderung und somit auch von einem unfallbedingten Ohrgeräusch rechts ausgehen. Für beides zusammen ergebe sich jedoch lediglich eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 10 v. H., da die Hörminderung noch als Normalhörigkeit mit einer Einzel MdE von 0 zu bewerten und das Ohrgeräusch ohne nennenswerte psychische Begleiterscheinungen geblieben sei.

Das LSG hat BB’e vom Tinnitus Zentrum C, vom 31. Mai 2013, von der Allgemeinmedizinerin Dr. H vom 03. Juli 2013 (mit Bericht der C vom 26. Juli 2011 nach Erleiden eines erneuten Auffahrunfalls), vom Facharzt für Chirurgie Dr. M vom 25. Juli 2013 (nach erneutem Unfall zunehmender Tinnitus sowie am 15. August 2011 posttraumatische Angstzustände beklagt) sowie vom Facharzt für Chirurgie Dr. B vom 02. August 2013 eingeholt und des Weiteren Unterlagen über den streitgegenständlichen Unfall beigezogen.

Mit Schreiben vom 11. Oktober 2012 hat die Sachverständige Dr. H ergänzend zu den mittlerweile vorliegenden medizinischen Unterlagen dahingehend Stellung genommen, dass diese keine neuen Aspekte bringen würden und die Einschätzung in ihrem Gutachten somit unbeeinflusst bleibe.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 23. November 2010 aufzuheben und unter Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 27. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03. Februar 2010 festzustellen, dass der chronische Tinnitus auris weitere Folge des Arbeitsunfalls des Klägers vom 23. Januar 2009 ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Ausführungen der Sachverständigen Dr. H zur Kausalität des Tinnitus und der festgestellten Hörminderung sowie zur MdE Einschätzung würden nicht überzeugen. Ausweislich der vom Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin übersandten Unterlagen seien bei der ärztlichen Tauglichkeitsuntersuchung am 17. März 2011 durch Dr. S keine schweren Störungen des Hörvermögens festgestellt worden. Auch die Schlussfolgerung von Frau Dr. H, dass das Ohrgeräusch rechts unfallbedingt sei, weil keine konkurrierenden Erkrankungen bzw. Voraudiogramme vorhanden gewesen seien, sei nicht zulässig. Allein aus dem Fehlen konkurrierender, unfallunabhängiger Ursachen oder aus einem zeitlichen Zusammenhang könne nicht automatisch auf die Wesentlichkeit des angeschuldigten Geschehens geschlossen werden (vgl. BSG, Urteil vom 09. Mai 2006, B 2U 1/05R, in juris). Die Beklagte hat des Weiteren auf das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 14. April 2005 (L1 168/03, in juris) zu den Voraussetzungen für die Anerkennung eines Tinnitus als Folge einer HWS-Verletzung hingewiesen.

Mit Beschluss vom 07. März 2013 ist der Rechtsstreit gemäß § 153 Abs. 5 SGG der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen worden.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, die zur Verhandlung und Entscheidung vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe:

Die Berichterstatterin konnte aufgrund des Beschlusses des Senats vom 07. März 2013 gem. § 153 Abs. 5 SGG als Einzelrichterin zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheiden.

Die zulässigerweise auf Feststellung weiterer Unfallfolgen gerichtete Berufung ist gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG statthaft, aber unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung, dass der chronische Tinnitus auris als weitere Folge seines Arbeitsunfalls vom 23. Januar 2009 festgestellt wird.

Versicherungsfälle sind gemäß § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (BKen). Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle der Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit. Nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Der Gesetzgeber bringt mit der wiederkehrenden Formulierung "infolge" – vgl. §§ 8 Abs. 1 S. 1, 45 Abs. 1 Nr. 1, 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII - das Erfordernis eines Zusammenhangs zum Ausdruck. Es muss eine kausale Verknüpfung des Unfalls bzw. seiner Folgen mit der betrieblichen Sphäre bestehen, mithin eine rechtliche Zurechnung für besonders bezeichnete Risiken der Arbeitswelt beziehungsweise gleichgestellter Tätigkeiten, für deren Entschädigung die gesetzliche Unfallversicherung als spezieller Zweig der Sozialversicherung einzustehen hat, und zwar nicht nur im Sinne einer Kausalität im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, sondern auch im Sinne der Zurechnung des eingetretenen Erfolges zum Schutzbereich der unfallversicherungsrechtlichen Norm als eines rechtlich wesentlichen Kausalzusammenhangs (BSG, Urteil vom 09. Mai 2006, B 2 U 1/05 R, in juris). Die Frage nach diesem Zurechnungszusammenhang stellt sich auf drei Ebenen, nämlich als Unfallkausalität zwischen ausgeübter Tätigkeit und Unfallereignis, als haftungsbegründende Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheitserstschaden und als haftungsausfüllende Kausalität zwischen Gesundheitserstschaden und länger andauernden Unfallfolgen (BSG, a. a. O.; Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010, Kap. 1.4, S. 21 f.). Die vorgenannten Merkmale der versicherten Tätigkeit und des Unfallereignisses müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (etwa BSG, Urteil vom 27. Juni 2006, B 2 U 20/04 R, in juris). Ein Zusammenhang ist hinreichend wahrscheinlich, wenn nach herrschender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel an einer anderen Ursache ausscheiden (vgl. BSG a. a. O.).

Das Gericht ist jedoch nicht in dem nach § 128 Abs. 1 S. 1 SGG erforderlichen Maße überzeugt, dass der chronifizierten subjektive Tinnitus rechts mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückzuführen ist. Zwar leidet der Kläger an einem chronischen subjektiven rechtsseitigen Tinnitus, der sich zwar naturgemäß nicht objektivieren lässt, sich aber ausreichend sicher aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen ergibt. So diagnostizierte der HNO-Arzt Dr. G am 26. Februar 2009 erstmals einen dekompensierten, auskultatorisch nicht objektivierbaren Tinnitus auris rechts bei Hochton-Schallempfindungsschwerhörigkeit rechts. Diese Diagnose deckt sich mit derjenigen von Dr. A vom Tinnitus Zentrum C (BB vom 16. Dezember 2011), der ausgeführt hat, der Kläger sei erstmals am 18. Dezember 2009 und zuletzt am 29. August 2011 in Abständen von ca. sechs Monaten vorstellig geworden und es sei ein chronisch dekompensierter Tinnitus auris rechts bei geringgradiger Schwerhörigkeit rechts festgestellt worden. Auch die vom LSG beauftragte Fachärztin für HNO-Heilkunde Dr. H ist in ihrem Gutachten vom 27. September 2012 zur Feststellung einer geringgradigen Schallempfindungsschwerhörigkeit sowie einem Ohrgeräusch rechts gelangt.

Das Gericht ist jedoch nicht davon überzeugt, dass dieser chronische Tinnitus auris auch mit Wahrscheinlichkeit ursächlich bedingt ist durch den Arbeitsunfall vom 23. Januar 2009. Wie für die haftungsausfüllende Kausalität zwischen angeschuldigtem Ereignis und eingetretener Verletzungsfolge erforderlich ist, muss es mindestens hinreichend wahrscheinlich sein, dass das Unfallereignis ursächlich für den beim Kläger aufgetretenen Tinnitus geworden ist. Das wäre dann der Fall, wenn die Gründe für eine solche Kausalität die dagegen sprechenden deutlich überwiegen würden (BSG, Urteil vom 02. Februar 1978 – 8 RU 66/77 -, in juris). Nach Auswertung aller fachärztlicher Stellungnahmen und Unterlagen gelangt das Gericht jedoch zum gegenteiligen Ergebnis.

Unter Berücksichtigung der in der unfallmedizinischen Literatur erarbeiteten Grundsätze zu möglichen Störungen bei HWS-Distorsionen ist ein Tinnitus als Folge eines HWS-Traumas nur dann wahrscheinlich, wenn gleichzeitig andere objektivierbare pathologische Befunde auftreten, etwa eine messbare Hörstörung, objektivierbare Gleichgewichtsstörungen, neurologische Ausfälle oder eine Schädelbasisfraktur. Ein Tinnitus als alleiniges Symptom lässt sich in der Regel nicht als Unfallfolge begründen (vgl. hierzu Feldmann, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, 6. Auflage 2006, Seite 280). Ob auch ein HWS-Trauma leichten Grades - Schweregrad 0 oder I nach Erdmann - überhaupt einen Tinnitus auslösen kann, ist in der unfallmedizinischen Literatur stark umstritten. Überwiegend wird die Auffassung vertreten, dass ein Ohrengeräusch als Folge einer HWS-Distorsion wahrscheinlicher ist je schwerer die Primärschädigung ist, wobei ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang nicht unbedingt vorliegen muss (vgl. zu allem Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010, Seite 350, 367 ff., Brusis, in: Klinik der menschlichen Sinne, 2008, Seite 257).

Nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen ist davon auszugehen, dass der Kläger bei dem Verkehrsunfall lediglich eine leichtgradige HWS-Distorsion erlitten hat. So bestanden nach den Feststellungen des DA Dr. S vom 25. Januar 2009 beim Kläger am Unfalltag lediglich ein Muskelhartspann im Bereich der HSW und Schmerzen beidseits der LWS. Grob neurologisch und motorisch waren keine Auffälligkeiten feststellbar, aktuell allenfalls geringe Kopfschmerzen. Zum Unfallhergang habe der Kläger angegeben, dass der Airbag sich bei dem Auffahrunfall nicht ausgelöst habe und er mit dem Kopf auch nirgendwo angeprallt sei. Bewusstlosigkeit habe nicht bestanden, unter Einnahme von Paracetamol 500 mg hätten sich die Beschwerden gebessert. Die nach dem Unfall durchgeführten medizinischen Untersuchungen ergaben, dass knöcherne Verletzungen der HWS sicher nicht vorlagen. So diagnostizierte der behandelnde Arzt Dr. B am 28. Januar 2009 ein HWS Distorsionstrauma I. Grades ohne neurologische Auffälligkeiten (H Arzt Bericht vom 28. Januar 2009). Röntgenaufnahmen der HWS vom 12. März 2009 ergaben keine Nachweise einer Fraktur oder knöchernen Destruktion, aber eine vorliegende Osteochondrose sowie eine Arthrose mit geringer dorsaler Kantenausziehung und Spondylosis deformans. Dr. B führte aus, dass die Röntgenaufnahme der HWS bis auf eine Streckhaltung keine traumatischen, aber beginnende degenerative Veränderungen aufweise. Nach allen vorliegenden Befunden ist somit davon auszugehen, dass das Ausmaß der unfallbedingten HWS-Distorsion im leichten Bereich gelegen hat (Schweregrad I nach Erdmann). Hier kann nach medizinischen Erkenntnissen ein traumatisch bedingter Tinnitus überhaupt nicht oder nur im Zusammenhang mit weiteren Schäden der Hör- und Gleichgewichtsorgane bzw. neurologischen Ausfällen auftreten.

Bei der Würdigung von Symptomen und Befunden im HNO-Bereich nach HWS-Distorsion stehen Schwindelbeschwerden an erster Stelle (Drehschwindel, Schwankschwindel, Unsicherheitsgefühl, Trunkenheitsgefühl, Stolpern), wobei die Schwindelbeschwerden durch klinisch durchgeführte Testung in Form einer Gleichgewichtsanalyse objektiviert werden können. Auch die Feststellung eines Nystagmus in Form unkontrollierbarer, rhythmischer Bewegungen der Augen (" ist als typisches Symptom des Schwindels zu verstehen. Derartige Schwindel-und Gleichgewichtsstörungen trägt der Kläger jedoch selbst nicht vor und sie sind auch nicht aktenkundig. Bereits bei seiner Vorstellung bei dem DA Dr. S am 25. Januar 2009 gab der Kläger an, dass nach dem Unfall keine Übelkeit, kein Erbrechen, kein Schwindel aufgetreten seien. Auch sei er mit dem Kopf nirgendwo angeprallt. Am 28. Januar 2009 suchte der Kläger Dr. B auf, der ein HWS Distorsionstrauma I. Grades ohne neurologische Auffälligkeiten diagnostizierte, aber keine Schwindelbeschwerden (H Arzt Bericht vom 28. Januar 2009). Vergleichbare Angaben machte der Kläger bei seinem HNO-Arzt Dr. G am 26. Februar 2009, der dementsprechend u. a. vermerkte, dass der Kläger keine Hörminderung und kein Schwindelgefühl bemerkt habe. Diese frühen, dem Unfall zeitlich am nächsten liegenden Angaben erscheinen zuverlässiger als die später vom Kläger im Widerspruchsverfahren gemachten entgegenstehenden Angaben, dass nämlich Schwindel bereits unmittelbar nach dem Aufprall vorhanden gewesen sei. Da diese Angabe zeitlich erst nach Ablehnung einer Anerkennung des Tinnitus als Folge des Arbeitsunfalls durch Bescheid der Beklagten vom 27. Juli 2009 gemacht wurde, besteht die Möglichkeit eines dem damaligen Stand des Streits angepassten Verhaltens. Jedenfalls aber lassen sich Schwindelerscheinungen nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen.

Neben den im Vordergrund unfallbedingter Schädigungen des Hörorgans stehenden Gleichgewichtsstörungen stellen sich typischerweise einseitige Schallempfindungsstörungen mit flachem Kurvenverlauf ein, also unter Beteiligung aller Frequenzen. Dementsprechend stellt sich das Ohrgeräusch nach HWS-Schädigungen als tief- bis allenfalls mittelfrequent dar, nicht aber als Hochtonschwerhörigkeit (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., Seite 467). Nach den Feststellungen der Gerichtssachverständigen, der HNO-Fachärztin Dr. H, in ihrem Gutachten vom 27. September 2012 ergaben die beim Kläger durchgeführten Untersuchungen jedoch ein hochfrequentes Ohrgeräusch rechts bei 8 kHz. Dieses wurden auch durch die Tonschwellenaudiogramme von Dr. G vom 02. März 2009 sowie von Dr. A, Tinnitus-Zentrum der C bestätigt, die jeweils eine geringgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit im Hochtonbereich, rechts mehr als links, ergaben. Dr. G hat des Weiteren ausgeführt, dass der Tinnitus rechts mit einem Sinuston von ca. 55 dB bei 6 KHz maskierbar gewesen sei, wogegen ein durch HWS-Distorsion verursachter Tinnitus eher mit tiefen bis mittleren Frequenzen, etwa 10 dB, verdeckbar ist (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., Seite 467).

Ebensowenig ist beim Kläger eine Schwerhörigkeit nachgewiesen. So hat Dr. Gin seinem HNO-Arztbericht vom 17. März 2009 darauf hingewiesen, dass keine Hörminderung bestanden habe. Auch der Facharzt für Chirurgie Dr. S führt eine Schwerhörigkeit in seinem Arztbericht vom 26. Juni 2009 an die Haftpflichtversicherung des Unfallschädigers nicht auf. Nach den Feststellungen der Gerichtssachverständigen Dr. H im Gutachten vom 27. September 2012 ergaben die beim Kläger durchgeführten Untersuchungen zwar auf dem rechten Ohr einen prozentualen Hörverlust von 10, jedoch wertete die Sachverständige diese Hörminderung noch als Normalhörigkeit mit einer Einzel-MdE von 0. Soweit die Sachverständige darauf hinweist, dass keine Hörtests aus der Zeit vor dem Unfall vorgelegt worden seien und sich das Hörvermögen vorher und nachher daher nicht eindeutig abgrenzen lasse, ist allerdings anzumerken, dass die fehlende Möglichkeit der Feststellung eines vor dem Unfall unbeeinträchtigten Hörvermögens nicht dazu berechtigt, diesen Mangel bei der Wahrscheinlichkeitsprüfung als positiv im Sinne des klägerischen Begehrens zu werten. Vielmehr verhält es sich so, dass sich nicht feststellen lässt, dass die leichte Hörminderung rechts vor dem Unfall noch nicht vorgelegen hat. Es besteht ebenso die Möglichkeit, dass diese, vom Kläger unbemerkt, bereits vorbestanden hat. Die bloße Möglichkeit der unfallbedingten Verursachung einer Gesundheitsstörung kann aber nicht mit der im Unfallversicherungsrecht erforderlichen Wahrscheinlichkeit gleichgestellt werden.

Gegen das Vorliegen eines unfallbedingten Tinnitus spricht schließlich der nicht sicher feststellbare enge zeitliche Zusammenhang zum Unfallgeschehen. Führen erlittene HWS-Distorsionen (Beschleunigungsverletzungen) zu Symptomen am Gehör, etwa in Form eines Tinnitus, treten diese entweder sofort nach dem Unfall oder mit einem Intervall von einigen Stunden auf. Für die häufigen leichten Distorsionen der HWS gilt: Je länger das beschwerdefreie Intervall nach dem Unfall und je protrahierter der Verlauf mit Ausweitung der Symptomatik später war, desto weniger wahrscheinlich ist, dass der Unfall die alleinige und wesentliche Ursache für das Beschwerdebild war (vgl. Feldmann, a. a. O., S. 259). So hat der Kläger bei seinem Besuch beim HNO-Arzt Dr. G angegeben, er habe den Tinnitus rechts erst nach einigen Tagen richtig bemerkt (HNO-Bericht vom 17. März 2009), wobei nähere Angaben zum genauen Datum fehlen und Dr. G in dem vom LSG eingeholten BB vom 26. November 2011 darauf hinweist, dass es sich um anamnestische Angaben des Klägers handele. Erstmals mehr als 4 Wochen nach dem Auffahrunfall gemachte Angaben sind naturgemäß weniger zuverlässig als wenn ein Ohrgeräusch unmittelbar nach seinem Auftreten diagnostiziert wird. Da der Kläger eine lediglich leichte HWS-Distorsion erlitten hat und sich nach eigenen Angaben auch die Schmerzen unter Schmerzmitteleinnahme schnell besserten, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass er den Tinnitus erst deshalb so spät bemerkt habe, weil er durch gravierendere Beeinträchtigungen abgelenkt gewesen sei.

Nach alledem ist nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststellbar, dass der beim Kläger aufgetretene Tinnitus seine maßgebliche Ursache in dem Unfallereignis vom 23. Januar 2009 hat. Die ursprünglich außerdem begehrte Gewährung einer Verletztenrente scheitert - von den obigen tragenden Gründen abgesehen - auch daran, dass entsprechend dem Gutachten von Dr. H sich selbst bei Annahme eines unfallbedingten Tinnitus lediglich eine MdE von 10 v. H. ergeben würde, so dass es an der gemäß § 56 Abs. 1 S. 1 SGB VII erforderlichen Intensität der Erwerbsminderung von wenigstens 20 v. H. fehlen würde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreites.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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