S 6 AS 10/14 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 6 AS 10/14 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 130/14 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des BSG vom 12.12.2013 (B 4 AS 9/13 R) sind in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, bei denen im Streit ist, ob der Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II für Unionsbürger beim Aufenthalt zur Arbeitssuche europarechtskonform ist, im Rahmen der Folgeabwägung Leistungen nach dem SGB II vorläufig zu gewähren.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ab dem 16.01.2014 Leistungen nach dem SGB II einschließlich der Kosten für Unterkunft und Heizung in gesetzlicher Höhe bis zum Ablauf des Bewilligungsabschnitts am 31.05.2014 oder bis zum bestandskräftigen Entzug ihrer Freizügigkeit zu gewähren.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin D. ab 16.01.2014 bewilligt.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes darüber, ob der Antragtellerin SGB II-Leistungen zu gewähren sind.

Die 1988 geborene Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige. Sie hält sich ausweislich eines Vermerks des Antragsgegners vom 12.12.2013 (Bl. 2 Verwaltungsakte) seit dem Jahr 2012 in Deutschland und seit Juli 2013 in A-Stadt auf und beantragte am 02.12.2013 erstmalig Leistungen nach dem SGB II beim Antragsgegner. Ihren Lebensunterhalt habe sie durch das Sammeln von Pfandflaschen, durch Blutspenden, Betteln, durch Unterstützungsleistungen aus dem bulgarischen Bekanntenkreis sowie durch den Verzehr von abgelaufenen Lebensmitteln bestritten. Die Antragstellerin ist Mutter von zwei Töchtern, die in Bulgarien bei Verwandten leben. In der Zeit vom 25.07.2013 bis 01.11.2013 habe sie in der B-Straße in A-Stadt gelebt. Inzwischen wohne sie in der C-Straße in A-Stadt. Ein Mietvertrag existiere laut eigenen Angaben nicht. Nachweise über die monatlichen Unterkunftskosten von 308,00 EUR habe sie nicht. Sie habe die Wohnung als Untermieterin von anderen Mietern angemietet (Bl. 2 Verwaltungsakte).

Bereits am 05.12.2013 stellte die Antragstellerin einen ersten einstweiligen Rechtsschutzantrag beim Sozialgericht Kassel unter dem Aktenzeichen S 4 AS 245/13 ER, wobei zwischen den Beteiligten streitig war, ob ein Mitarbeiter des Antragsgegners die Annahme des Leistungsantrags im Hinblick auf die Herkunft der Antragstellerin aus Bulgarien verweigert hatte (vgl. Bl. 20, 25 Gerichtsakte). Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II sei wegen fehlender Europarechtskonformität nicht anwendbar (Bl. 3 Gerichtsakte).

Mit Bescheid vom 13.12.2013 lehnte der Antragsgegner den Leistungsantrag ab. Die Antragstellerin halte sich allein zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland auf, ein Daueraufenthaltsrecht sei nicht erworben worden. Gem. § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II bestehe daher kein Leistungsanspruch nach dem SGB II (Bl. 29 Verwaltungsakte).

Mit Schriftsatz vom 23.12.2013 legte die Bevollmächtigte der Antragstellerin gegen den Bescheid Widerspruch ein (Bl. 45 Verwaltungsakte).

Mit Beschluss vom 23.12.2013 verpflichtete die 4. Kammer des Sozialgerichts Kassel den Antragsgegner für die Zeit vom 01.12.2013 bis zur Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 13.12.2013 vorläufig zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne die Gewährung von Kosten der Unterkunft. § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II greife nicht ein. Es sei nicht ersichtlich, dass sich die Antragstellerin arbeitssuchend gemeldet habe und eine Arbeitstätigkeit aktiv suche. Der Wortlaut der Vorschrift sei daher nicht einschlägig. Aber selbst wenn § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II einschlägig sein sollte, sei eine vorläufige Leistungsgewährung im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Bundessozialgerichts (BSG) an den EuGH vom 12.12.2013 geboten. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschluss der 4. Kammer des Sozialgerichts Kassel Bezug genommen (Bl. 54 ff. Gerichtsakte ).

Mit Bescheid vom 27.12.2013 bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin für die Zeit vom 01.12.2013 bis 31.05.2014 vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Höhe der Regelleistung. Dieser Bescheid ergehe nur vorläufig in Umsetzung des Beschlusses des Sozialgerichts Kassel vom 23.12.2013 bis zur Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 13.12.2013, längstens bis zum 31.05.2014 (Bl. 58 Verwaltungsakte).

Am 27.12.2013 schlossen die Antragstellerin und der Antragsgegner eine Eingliederungsvereinbarung mit dem Ziel der Verringerung der Hilfebedürftigkeit. Die Eingliederungsvereinbarung hat eine Gültigkeit bis 26.06.2014, soweit zwischenzeitlich nichts anderes vereinbart werde. Der Antragsgegner bemühe sich, die Antragstellerin bei der Arbeits- und der Ausbildungsaufnahme zu unterstützen. Die Antragstellerin musste sich dazu verpflichten, einen Aufenthalt außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs vorher mit dem persönlichen Ansprechpartner abzustimmen, alle Möglichkeiten zu nutzen, um den Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten und an allen Maßnahmen zur Eingliederung mitzuwirken. Hinweise darauf, dass diese Eingliederungsvereinbarung unter dem Vorbehalt des Ausgangs des anhängigen Widerspruchsverfahrens stehen könnte, sind der Eingliederungsvereinbarung nicht zu entnehmen (Bl. 88 Verwaltungsakte).

Mit Widerspruchsbescheid vom 30.12.2013 wies der Antragsgegner den Widerspruch als unbegründet zurück. Man halte an der Rechtsauffassung fest, dass die Antragstellerin vom SGB II-Bezug ausgeschlossen sei, da als Aufenthaltsgrund allein die Arbeitssuche in Betracht komme. Es sei nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin nicht erwerbsfähig sei oder aus anderen Gründen nicht in der Lage wäre, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Die Tatsache, dass die Antragstellerin laut eigenen Angaben Analphabetin sei und nur über geringe Deutschkenntnisse verfüge, begründe allein noch keine vollständige Aufhebung ihrer Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt. Sofern die Antragstellerin nicht zum Zwecke der Arbeitssuche eingereist wäre und sich nach wie vor nicht aus diesem Grund hier aufhalte, wäre sie erst recht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen (Bl. 93 f. Verwaltungsakte).

Mit Schriftsatz vom 07.01.2014 teilte der Antragsgegner der Bevollmächtigten der Antragstellerin mit, dass man im Hinblick auf den Tenor des sozialgerichtlichen Beschlusses nach Erlass des Widerspruchsbescheids Leistungen ab Februar 2014 nicht mehr erbringen werde (Bl. 101 Verwaltungsakte).

Am 14.01.2014 hat die Antragstellerin über ihre Bevollmächtigte einen Mietvertrag mit Mietbeginn zum 01.12.2013 für die Wohnung in der C-Straße in A-Stadt übersandt, auf den Bezug genommen wird (Bl. 125 Verwaltungsakte).

Mit Schriftsatz vom 14.01.2014 hörte die Ausländerbehörde der Stadt A-Stadt die Antragstellerin zu einer Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet an. Die Antragstellerin stehe weder in einem Arbeitsverhältnis noch sei sie selbständig tätig. Auch in der Vergangenheit sei sie keiner Beschäftigung nachgegangen. Nicht erwerbstätige Unionsbürger seien nur unter den Voraussetzungen freizügigkeitsberechtigt, wenn sie über ausreichende Existenzmittel und Krankenversicherungsschutz verfügten (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 in Verbindung mit § 4 FreizügG/EU). Diese Voraussetzungen seien nicht nachgewiesen. Der Antragstellerin werde eine Möglichkeit zur Rückäußerung bis 31.01.2014 gegeben (Bl. 129 f. Verwaltungsakte).

Am 15.01.2014 erhob die Antragstellerin gegen den Bescheid vom 13.12.2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 30.12.2013 Klage beim Sozialgericht Kassel unter dem Aktenzeichen S 6 AS 26/14. Sie hat sodann am 16.01.2014 einen neuen einstweiligen Rechtsschutzantrag beim Sozialgericht Kassel unter dem hiesigen Aktenzeichen anhängig gemacht. Die Klage hat die Antragstellerin dahingehend begründet, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 S.2 Nr.2 SGB II nicht eingreife. Auf Grund des langen Aufenthalts der Antragstellerin in Deutschland ohne Arbeit sei der Ausschlusstatbestand "allein zum Zwecke der Arbeitssuche" nicht mehr gegeben. Auch habe die Antragstellerin in Deutschland Bekannte und Verwandte aus Bulgarien und wolle in Deutschland leben, einen Alphabetisierungskurs machen und die deutsche Sprache erlernen. Sofern das Gericht die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II bejahe, so sei zu berücksichtigen, dass dieser Ausschluss mangels Europarechtskonformität nicht anwendbar sei.

Der Antragsgegner hat mit Schriftsatz vom 23.01.2014 die Auffassung vertreten, dass sich die Situation im Verhältnis zum vorhergehenden Eilverfahren geändert habe, da die Ausländerbehörde ein Verfahren zur Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit eingeleitet habe (Bl. 43 f. Gerichtsakte S 6 AS 10/14 ER).

Am 23.01.2014 hat der Ermittlungsaußendienst des Antragsgegners bei der Antragstellerin einen Hausbesuch durchgeführt. Die Antragstellerin konnte in ihrer Wohnung angetroffen werden. Hinweise darauf, dass die Wohnung nicht derzeitiger Lebensmittelpunkt der Antragstellerin ist, sind dem Bericht nicht zu entnehmen (vgl. Bl. 107 Gerichtsakte).

Mit Schriftsatz vom 27.01.2014 hat die Bevollmächtigte der Antragstellerin auf eine akute Erkrankung der Antragstellerin hingewiesen (Bl. 50 Gerichtsakte S 6 AS 10/14 ER), worauf das Gericht einen Befundbericht beim Facharzt für Mund-, Kiefer und Gesichtschirurgie Prof. Dr. Dr. A. vom 10.02.2014 eingeholt hat, aus dem hervorgeht, dass ein Abszess infolge kariös zerstörter Zähne am Unterkiefer in Vollnarkose geöffnet und behandelt werden musste. Unter der Behandlung sei es zu einem Abklingen der Beschwerden gekommen (Bl. 76 Gerichtsakte).

Mit Schriftsatz vom 19.02.2014 hat die Bevollmächtigte der Antragstellerin darauf hingewiesen, dass nach ihrer Auffassung aus der abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung eine Zusicherung im Sinne des § 34 SGB X und damit ein eigenständiger Leistungsanspruch resultiere (Bl. 83 Gerichtsakte S 6 AS 10/14 ER).

Bereits mit Schriftsatz vom 30.01.2014 hatte sich die Bevollmächtigte der Antragstellerin an die Ausländerbehörde gewandt. Die Antragstellerin habe eine Eingliederungsvereinbarung abgeschlossen und wolle auch arbeiten (Bl. 86 f. Gerichtsakte S 6 AS 10/14 ER).

Auf Nachfrage des Sozialgerichts hat die Ausländerbehörde mit Schriftsatz vom 20.02.2014 mitgeteilt, dass der angekündigte Verwaltungsakt noch nicht erlassen sei. Bisher sei auch noch keine Entscheidung getroffen (Bl. 93 Gerichtsakte).

Der Antragsgegner hat auf den gerichtlichen Hinweis, dass sich die Sachlage im Verhältnis zum vorhergehenden einstweiligen Rechtsschutzbeschluss nicht geändert habe, auf verschiedene sozialgerichtliche Entscheidungen (u.a. LSG Berlin-Brandenburg v. 14.10.2013 – L 29 AS 2128/13 B ER) hingewiesen, die im Hinblick auf eindeutige gesetzlichen Vorgaben eine Entscheidung zugunsten der Antragsteller im Wege einer Folgeabwägung ablehnten, da dies einen schwerwiegenden Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers darstelle und gegen die Gewaltenteilung verstoße. Auch liege in der Eingliederungsvereinbarung keine Zusicherung.

Diesem Schreiben war eine weitere Eingliederungsvereinbarung vom 21.01.2014 mit einer Gültigkeit bis 19.07.2014 und einer Unterstützung durch eine Maßnahme beim Kulturzentrum X. beigefügt, auf die Bezug genommen wird (Bl. 102 Gerichtsakte).

Die Antragstellerin beantragt,
den Antragsgegner über den 31.01.2014 hinaus zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe bis zum 31.05.2014 zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte des Antragsgegners und auf die Gerichtsakten, S 6 AS 26/14 und S 6 AS 10/14 ER Bezug genommen.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 2 S.1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 86b Abs. 2 S.2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, und einen Anordnungsgrund, also einen Sachverhalt, der eine Eilbedürftigkeit begründet, voraus.

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander. Vielmehr besteht zwischen beiden eine Wechselbeziehung derart, dass sich die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils verringern und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden damit auf Grund ihres funktionellen Zusammenhangs ein bewegliches System (Keller in: Meyer-Ladewig / Keller / Leitherer (Hrsg.), SGG, 10. A. 2012, § 86b Rn. 27). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache hingegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Im Fall einer solchen Orientierung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache muss das Gericht in den Fällen, in denen das einstweilige Rechtsschutzverfahren vollständig die Bedeutung der Hauptsache übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung droht, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (BVerfG, Kammerbeschluss v. 12.05.2005, 1 BvR 569/05). Bei einem offenen Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer umfassenden Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzubeziehen (Hessisches LSG, Beschluss v. 30.01.2006, L 7 AS 1/06 ER, L 7 AS 13/06 ER; Keller in: Meyer-Ladewig / Keller / Leitherer (Hrsg.), SGG, § 86b Rn. 29a).

Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 86b Abs. 2 S.4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung bezieht sich hierbei lediglich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (Hessisches LSG, Beschluss v. 30.01.2006, L 7 AS 1/06 ER, L 7 AS 13/06 ER; SG Kassel, Beschluss v. 05.02.2009, S 1 AS 740/08 ER). Sofern im Einzelfall das Existenzminium einer Person bedroht ist, genügt für die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs ein geringer Grad an Wahrscheinlichkeit, nämlich die nicht auszuschließende Möglichkeit seines Bestehens (Bayerisches LSG, Beschluss v. 22.12.2010, L 16 AS 767/10 B ER, juris, Rn. 31). Das Bundesverfassungsgericht hebt in seinem Kammerbeschluss vom 12.05.2005 (1 BvR 569/05) in diesem Zusammenhang hervor:

"Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 2003, S. 1236 (1237)). Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern."

Sind Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, ist die einstweilige Anordnung zu erlassen. Welche Anordnung zur Erreichung des begehrten Ziels zu treffen ist, hat das Gericht jedoch nach § 86b Abs. 2 S.4 SGG in Verbindung mit § 938 ZPO nach freiem Ermessen zu bestimmen (Keller in: Meyer-Ladewig u.a. (Hrsg.), a.a.O., § 86b Rn. 30). Grundsätzlich darf das Gericht hierbei die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen. Im Einzelfall kann es jedoch im Interesse der Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) ausnahmsweise erforderlich sein, der Entscheidung in der Hauptsache vorzugreifen, wenn sonst der Rechtsschutz nicht erreichbar und dies für die Antragsteller unzumutbar wäre (Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. A. 2008, Rn. 306 ff. m.w.N.).

Unter Zugrundelegung dieser Prämissen ist der Antrag zulässig und begründet.

1. Die Antragstellerin hat zunächst einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

a) Ein solcher Anordnungsanspruch ergibt sich zunächst aus den gesetzlichen Regelungen des SGB II.

aa) Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S.1 SGB II sind nach der im Eilverfahren vorzunehmenden summarischen Würdigung der Sach- und Rechtslage erfüllt.

Leistungen nach diesem Buch erhalten gem. § 7 Abs. 1 S.1 SGB II Personen, die

1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,

2. erwerbsfähig sind,

3. hilfebedürftig sind und

4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).

(1) Die Antragstellerin ist im Jahr 1988 geboren und gehört somit zum Kreis der Berechtigten im Sinne des § 7 Abs. 1 S.1 Nr. 1 SGB II.

(2) Die Antragstellerin ist erwerbsfähig im Sinne des § 7 Abs. 1 S.1 Nr. 2 SGB II in Verbindung mit § 8 SGB II. Die fehlenden Kenntnisse der deutschen Sprache und der Umstand, dass die Antragstellerin Analphabetin ist, führen zu keiner anderen Beurteilung, da § 8 SGB II bei der Frage, ob die betreffende Person unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein kann, allein darauf abstellt, ob dem Krankheit oder Behinderung entgegenstehen könnten. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

(3) Die Antragstellerin ist weiterhin hilfebedürftig im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II, da sie nicht oder zumindest nicht ausreichend in der Lage ist, ihren Lebensunterhalt aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen zu sichern, so dass die Voraussetzung von § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB II ebenfalls erfüllt ist. Die Antragstellerin hat einen Bedarf in Höhe der Regelleistung und für die Kosten für Unterkunft und Heizung glaubhaft gemacht.

(4) Der vom Antragsgegner durchgeführte Hausbesuch hat auch ergeben, dass die Antragstellerin ihren Lebensmittelpunkt in A-Stadt hat, so dass ebenfalls ein gewöhnlicher Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB II vorliegt.

(5) Auch hat die zuständige Ausländerbehörde noch keinen bestandskräftigen Bescheid über den Entzug der Freizügigkeit erlassen, so dass sich die Sachlage insoweit seit dem vorhergehenden Eilverfahren nicht geändert hat.

bb) Nach der summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage unter Abwägung der widerstreitenden Interessen der Beteiligten steht einem Anspruch der Antragstellerin auch nicht § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II entgegen.

Gem. § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen vom SGB II-Leistungsanspruch ausgeschlossen.

Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen haben gem. § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes. Unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind gem. § 2 Abs. 2 FreizügG/EU:

1. Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen,

2. Unionsbürger, wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind (niedergelassene selbständige Erwerbstätige),

3. Unionsbürger, die, ohne sich niederzulassen, als selbständige Erwerbstätige Dienstleistungen im Sinne des Artikels 57 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union erbringen wollen (Erbringer von Dienstleistungen), wenn sie zur Erbringung der Dienstleistung berechtigt sind,

4. Unionsbürger als Empfänger von Dienstleistungen,

5. nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4,

6. Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4,

7. Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die ein Daueraufenthaltsrecht erworben haben.

Zunächst teilt das Gericht die Einschätzung des Antragsgegners, dass die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ihrem Wortlaut nach einschlägig ist und dass die Voraussetzungen des Wortlautes der Vorschrift erfüllt sind.

(1) Die Antragstellerin ist ausschließlich nach § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 FreizügigG/EU freizügigkeitsberechtigt, da sie Unionsbürgerin ist und sich zur Arbeitssuche oder Berufsausbildungssuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Diese Absicht hat die Antragstellerin noch einmal durch den Abschluss der Eingliederungsvereinbarung mit dem Antragsgegner vom 21.01.2014 verbindlich erklärt. Die Antragstellerin leitet ihr Aufenthaltsrecht aus dem Zweck der Arbeitssuche oder Ausbildungsplatzsuche ab.

Die Kammer ist nicht davon überzeugt, dass weitere Gründe vorliegen, die dazu führen, dass die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB nicht mehr erfüllt sind. Bei den weiteren Gründen muss nämlich nach Auffassung der Kammer geprüft werden, ob es sich um rechtlich anerkennungswerte Gründe im Sinne des SGB II handelt, was unproblematisch im Falle des Vorliegens eines weiteren Tatbestands des § 2 FreizügG/EU der Fall wäre (vgl. Spellbrink & Becker in: Eicher (Hrsg.), SGB II, 2013, § 7 Rn. 43). Der Wunsch der Antragstellerin, neben der Arbeitssuche in Deutschland auch zusammen mit ihren Bekannten und offenbar entfernteren Verwandten zu leben, begründet keine über den § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG hinausgehende Freizügigkeitsberechtigung. Wenn Unionsbürger, die allein zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland kommen, nach der Vorstellung des Gesetzgebers keinen SGB II-Anspruch haben sollen, so spricht viel dafür, dass dies nach dem Willen des Gesetzgebers erst recht für diejenigen gelten soll, die aus anderen rechtlich nicht anerkannten Gründen einreisen (wie hier: Hessisches LSG, Beschluss v. 14.10.2009 – L 7 AS 166/09 B ER, juris, Rn. 21; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 30.01.2014, L 13 AS 266/13 B ER, juris, Rn.17; SG Leipzig, Vorlagebeschluss v. 03.06.2013 - S 17 AS 2198/12, Rn. 58; anderer Auffassung: Hessisches LSG, Urteil v. 27.11.2013 - L 6 AS 378/13; Landessozialgericht NRW v. 10.10.2013 – L 19 AS 129/13, Rn. 59)).

(2) Allerdings war von der Kammer zu berücksichtigen, dass gewichtige Gründe dagegen sprechen, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II mit europäischem Primär- und Sekundärrecht zu vereinbaren ist. Das Bundessozialgericht (BSG, Beschluss v. 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R) und das SG Leipzig (Beschluss v. 03.06.2013 – S 17 AS 2198/12) haben diese Frage dem EuGH vorgelegt und damit den bereits seit längerer Zeit bestehenden Bedenken in der Sozialgerichtsbarkeit und im wissenschaftlichen Schrifttum gegen die Weite des Leistungsausschlusses Rechnung getragen (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss v. 22.12.2010 – L 16 AS 767/10 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 02.12.2013 – L 2 AS 1726/13 B ER; aus der Literatur in jüngerer Zeit: Kingreen, SGb 2013, 132 ff.)

Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit gehen mit den europarechtlichen Bedenken, die nach der Vorlage des BSG an den EuGH, noch gewichtiger geworden sind, unterschiedlich um. Das LSG Niedersachsen-Bremen plädiert in seiner Entscheidung vom 30.01.2014 (L 13 AS 266/13 B ER) dafür, auch im Eilverfahren den Wortlaut des Gesetzes zu beachten und beim Vorliegen des Tatbestands von § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II keine SGB II-Leistungen zuzusprechen. Eine solche Praxis trägt jedoch nach Auffassung der Kammer dem Umstand zu wenig Rechnung, dass es sich bei den Leistungen nach dem SGB II um existenzsichernde Leistungen handelt und dass das Existenzminimum der betroffenen Personen im Falle einer Entscheidung zu ihren Lasten nicht gewahrt wäre. Ein Verstoß gegen die Menschenwürde lässt sich nicht rückgängig machen. Der zweite Senat des LSG Nordrhein-Westfalen (Beschluss v. 02.12.2013 L 2 AS 1726/13 B, juris, Rn. 33 f.) und vor ihm der sechste Senat des LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss v. 02.11.2007 – L 6 AS 664/07 ER) und der 16. Senat des Bayrischen Landessozialgerichts (Beschluss v. 22.12.2010 – L 16 AS 767/10 B ER) weisen daher im Zusammenhang mit dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II zu Recht auf die Notwendigkeit einer umfassenden Gesamtwürdigung der Folgen für die Beteiligten hin: Es ist zwar regelmäßig damit zu rechnen, dass die betreffende Person im Falle eines nicht bestehenden Leistungsanspruchs nach der Klärung der Rechtslage durch den EuGH nicht in der Lage sein wird, die SGB II-Leistungen zurückzuzahlen, im Verhältnis zu einer Gefährdung des Existenzminimums muss diese Erwägung jedoch – auch im Hinblick auf die zitierte Rechtsprechung des BVerfG – im Eilverfahren zurücktreten und die umfassende Klärung der Sach- und Rechtslage dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Der Antragstellerin sind daher vorläufig SGB II-Leistungen zu gewähren.

b) Ein Anordnungsanspruch ergibt sich weiterhin aus Eingliederungsvereinbarungen, welche die Antragstellerin mit dem Antragsgegner abgeschlossen hat. Die zwischen den Beteiligten zuletzt geschlossene Eingliederungsvereinbarung vom 21.01.2014 ist mit einer konkludenten Zusicherung im Sinne des § 34 SGB X verbunden.

Eine von einer zuständigen Behörde erteilte Zusage, einen bestimmten Verwaltungsakt später zu erlassen, bedarf gem. § 34 Abs. 1 S.1 SGB X zu ihrer Wirksamkeit der schriftlichen Form.

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (vom 11.12.2012 - L 34 AS 3550/12 B ER - juris) und ihm folgend die 6. Kammer des Sozialgerichts Kassel (vom 13.03.2013 S 6 AS 854/10 – juris = ASR 2013, 234-239 = info also 2014, 21-23) haben bereits darauf hingewiesen, dass Eingliederungsvereinbarungen im Einzelfall mit konkludenten Zusicherungen verbunden sein können. Sie sind aus der Sicht eines objektiven Adressanten in der Position der Antragstellerin auszulegen.

Legt man diese Grundsätze zu Grunde, dann ist das Vorgehen des Antragsgegners im Falle der Antragstellerin in sich widersprüchlich. Einerseits wurde die Gewährung von SGB II-Leistungen mit Widerspruchsbescheid vom 30.12.2013 abgelehnt, andererseits verpflichtete sich der Antragsgegner in der Eingliederungsvereinbarung vom 21.01.2014 dazu, die Antragstellerin durch eine Maßnahme im Kulturzentrum X. in A-Stadt zu fördern und legte in der Rechtsfolgenbelehrung zu der Eingliederungsvereinbarung fest, dass die Antragstellerin sich dem Regime der Erreichbarkeitsanordnung unterwerfen müsse, was im Falle einer nicht genehmigten Ortsabwesenheit dazu führe, dass der Anspruch auf Arbeitslosengeld II entfalle. Auch wurde die Antragstellerin in der Eingliederungsvereinbarung darüber belehrt, dass sie im Falle eines Verstoßes gegen die Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung mit einer Sanktion nach den §§ 31 ff. SGB II rechnen müsse, was mit einer Minderung des Leistungsanspruchs verbunden sei (Bl. 102 ff. Gerichtsakte S 6 AS 10/14 ER). An eine vom Leistungsbezug ausgeschlossene Person darf der Antragsgegner solche Anforderungen nicht stellen. Macht er dies dennoch, so muss die betreffende Person dies so verstehen, dass die Pflicht besteht, weil ihr – im Gegenzug – Arbeitslosengeld II gewährt wird. An diese aus der Eingliederungsvereinbarung vom 21.01.2014 resultierende konkludente Zusicherung, Arbeitslosengeld II zu gewähren, muss sich der Antragsgegner festhalten lassen.

2. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, da sie dargelegt hat, die notwendigen Bedarfe nicht aus eigener Kraft und auch nicht aus der Unterstützung durch Dritte sichern zu können.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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