L 11 R 1160/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 11 R 1932/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 1160/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 12.02.2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Der Klägerin werden Verschuldenskosten in Höhe von 225 EUR auferlegt.

Tatbestand:

Im vorliegenden Verfahren streiten die Beteiligten über die Frage, ob bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem ab 01.01.2001 geltenden Recht bei Rentenbezug vor Vollendung des 60. Lebensjahres der Zugangsfaktor im Rahmen der Rentenberechnung um einen Abschlag vermindert werden darf.

Die 1949 geborene Klägerin bezieht aufgrund des Bescheids der Beklagten vom 29.06.2004 seit dem 01.06.2002 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der Zugangsfaktor von 1,0 wurde im Bescheid vom 29.06.2004 für jeden Kalendermonat vor der Inanspruchnahme des 63. Lebensjahres um 0,003 gekürzt, wobei die Abschlagshöhe auf die bei einer Inanspruchnahme zum Zeitpunkt der Vollendung des 60. Lebensjahres begrenzt wurde. Daher wurde eine Kürzung des Zugangsfaktors um 0,054 auf 0,946 vorgenommen.

Am 17.01.2007 beantragte die Klägerin die Rücknahme des Bescheides und die Neufeststellung der Rente ohne einen geschmälerten Zugangsfaktor. Mit Bescheid vom 26.01.2007 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch vom 20.03. 2007 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18.04.2007 zurück. Dabei führte die Beklagte aus, dass § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI vorsehe, dass der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente gewesen seien, bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen werde, um 0,003 niedriger als 1,0 sei. § 77 Abs 2 Satz 2 und 3 SGB VI sehe vor, dass, wenn die Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginne, die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend sei. Die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres gelte nicht als Zeit der vorzeitigen Inanspruchnahme. Die Regelung sei dahingehend zu verstehen, dass die Höhe des Abschlags der Erwerbsminderungen, die vor der Vollendung des 60. Lebensjahrs geleistet würden, auf die Abschlagshöhe begrenzt sei, die für den Zeitpunkt der Vollendung des 60. Lebensjahres gelte. Für Erwerbsminderungsrenten, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres geleistet würden, sei danach der Zugangsfaktor um maximal 10,8 % zu mindern.

Die Klägerin hat am 27.04.2007, vertreten durch einen Rentenberater für Sozialversicherung, Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Sie ist der Auffassung, die von der Beklagten vorgenommene Kürzung des Zugangsfaktors sei rechtswidrig. Eine schriftliche Prozessvollmacht ist im Klageverfahren nicht vorgelegt worden.

Mit Beschluss vom 18.05.2007 hat das SG das Ruhen des Verfahrens angeordnet.

Am 11.04.2011 hat die Beklagte das Verfahren wieder angerufen und darauf hingewiesen, dass das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 11.01.2011 (1 BvR 3588/08 und 1 BvR 555/09) entschieden habe, dass die Minderung des Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI verfassungsgemäß sei, auch wenn die Rente bereits vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginne.

Die Klägerin hat sich hierzu nicht geäußert.

Mit Gerichtsbescheid vom 12.02.2013 hat das SG die Klage abgewiesen. Der angefochtene Bescheid entspreche hinsichtlich der Kürzung des Zugangsfaktors der gefestigten Rechtsprechung des BSG. Die Kürzung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrenten, deren Bezug vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginne, sei auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Gegen den ihrem Bevollmächtigten gegen EB am 14.02.2013 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 14.03.2013 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Die Berufung ist nicht begründet worden. Die vom Rentenberater vorgelegte schriftliche Prozessvollmacht lässt nicht erkennen, wann die Klägerin die Vollmacht unterschrieben hat.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Freiburg vom 12.02.2013 und des Bescheids vom 26.01.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.04.2007 zu verurteilen, den Bescheid vom 29.06.2007 dahingehend abzuändern, dass die Rente unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 gewährt wird.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogene Verwaltungsakte (2 Bände) sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Die form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 Abs 1 SGG) und statthafte (§ 143 SGG) Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Der Klägerin steht kein Anspruch auf höhere Rente wegen Erwerbsminderung unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors 1,0 zu.

Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich gemäß §§ 63 Abs 6, 64 Nr 1 bis 3 SGB VI, wenn die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte der Rentenfaktor und der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden.

Der Zugangsfaktor ist ein Berechnungselement der persönlichen Entgeltpunkte, dessen Höhe in § 77 SGB VI näher geregelt ist, hier in der ab dem 01.01.2001 geltenden und zum 01.01.2002 neu bekannt gemachten Fassung (BGBl I 2000, 1827, BGBl I 2200, 774). Danach richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter des Versicherten bei Rentenbeginn oder Tod und bestimmt, ob die vom Versicherten während des Erwerbslebens erzielten Entgeltpunkte in vollem Umfang oder nur zu einem Anteil bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind. Der Zugangsfaktor ist für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage für die persönlichen Entgeltpunkte einer Rente waren, gemäß § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0. So liegt der Fall bei der Klägerin. Sie bezieht eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres, denn zum Zeitpunkt des Beginns der Rente wegen voller Erwerbsminderung am 01.06.2002 hatte die im Mai 1949 geborene Klägerin erst das 53. Lebensjahr vollendet (zur Auslegung des Begriffs "Rentenbeginn" im Sinne des Rentenzahlbeginns BSG, SozR 4-2600 § 72 Nr 2).

Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, so bestimmt § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI, dass die Vollendung des 60. Lebensjahres für die "Bestimmung des Zugangsfaktors" maßgebend ist. Davon abweichend regelt § 264c SGB VI (in der ab dem 01.01.2001 geltenden und zum 01.01.2002 neu bekannt gemachten Fassung (BGBl I 2000 1827, BGBl I 2200 754; zur Neufassung ab 01.01.2008 Art 1 Nr 72 des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung = RV-Altersgrenzen-anpassungsgesetz vom 20.04.2007, BGBl I 554), dass bei der Ermittlung des Zugangsfaktors anstelle der Vollendung des 60. Lebensjahres die Vollendung des in Anlage 23 zum SGB VI (in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung; zur Aufhebung der Anlage 23 ab dem 01.01.2008 Art 1 Nr 83 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes) angegebenen Lebensalters maßgebend ist, wenn eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit - wie hier - vor dem 01.01.2004 beginnt.

§ 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI iVm § 264c SGB VI und der Anlage 23 zum SGB VI in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung ist als Berechnungsregel zur Umsetzung der allgemeinen Grundsätze oder zur Rentenhöhe im Sinn des § 63 Abs 5 iVm § 64 Nr 1 SGB VI zu verstehen. Im Ergebnis ist der Zugangsfaktor bei Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres um maximal 0,108 zu mindern und somit auf mindestens 0,892 festzulegen. Dafür sprechen Wortlaut und systematische Stellung des § 77 SGB VI wie auch Sinn und Zweck, systematischer Gesamtzusammenhang und Entstehungsgeschichte der Norm (BSG 28.09.2011, B 5 R 18/11 R; BSG 14.08.2008, B 5 R 72/07 R = BSGE 101, 193; BSG 26.06.2008, B 13 R 9/08 S und B 13 R 11/08 S).

Die Kürzung des Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung nach § 77 SGB VI ist dabei auch mit dem Grundgesetz vereinbar, auch wenn der Rentenbezug vor der Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt (BVerfG SozR 4-2600 § 77 Nr 9).

Die Beklagte hat den Zugangsfaktor im Fall der Klägerin zutreffend mit 0,946 berechnet. Gemäß § 264c SGB VI iVm der Anlage 23 zum SGB VI (in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung) tritt bei der Ermittlung des Zugangsfaktors anstelle der Vollendung des 60. Lebensjahres im Fall der Klägerin die Vollendung des 61. Lebensjahres zuzüglich von sechs Monaten. Dies bedeutet, dass sich für 18 Kalendermonate der Zugangsfaktor um 0,003 (insgesamt also um 0,054) verringert. Dies ergibt einen Zugangsfaktor von 0,946. Dies hat die Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid zutreffend berechnet.

Das SG hat daher die Klage zutreffend abgewiesen, weshalb die Berufung zurückzuweisen war. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

Der Senat hat im Rahmen seines Ermessens von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, gemäß § 192 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGG der Klägerin Verschuldenskosten aufzuerlegen. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht einem Beteiligten ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass er den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm vom Vorsitzenden die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung dargelegt worden und er auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreits hingewiesen worden ist. Eine entsprechende Belehrung ist durch den Berichterstatter, der hinsichtlich prozessleitender Verfügung im vorbereitenden Verfahren und somit auch hinsichtlich der Darlegung nach § 192 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGG die Aufgabe des Vorsitzenden wahrnimmt (so auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss 10.11.2011, L 13 R 2150/10) mit gerichtlicher Verfügung vom 29.07.2013 erfolgt. Durch den Vorsitzenden wurde im Übrigen mit Schreiben vom 04.09.2013 nochmals ausdrücklich erklärt, dass an der angekündigten Auferlegung von Missbrauchskosten festgehalten wird.

Die Rechtsverfolgung ist im vorliegenden Fall auch missbräuchlich. Ein Missbrauch im Sinne dieser Regelung ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Rechtsstreit trotz offensichtlicher Aussichtslosigkeit weitergeführt wird (BT-Drucks 14/6335 S 35; BVerfG NJW 1986, 2102). Dabei genügt nach der geltenden Fassung des § 192 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGG die objektive Aussichtslosigkeit (LSG Baden-Württemberg, Urteil 26.06.2003, L 12 AL 3537/02; Hessisches LSG 11.12.2012, L 6 AL 1000/01; aA Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 192 RdNr 9a) jedenfalls dann, wenn die weitere Rechtsverfolgung von jedem Einsichtigen auch als völlig aussichtslos angesehen werden muss. Diese Auslegung entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Missbrauchsgebühr in § 34 Abs 2 BVerfG (vgl BVerfG, Beschluss vom 06.11.1995, 2 BvR 1806/95, NJW 1996 S 1273, 1274). Die Rechtsprechung des BVerfG ist auch zur Auslegung des § 192 SGG heranzuziehen, denn Wortlaut und Zweck beider Vorschriften stimmen überein.

Die Fortführung der Berufung ist vorliegend missbräuchlich. Die Beklagte hat ausführlich in ihrem streitgegenständlichen Bescheid vom 29.06.2004 die Berechnung des Zugangsfaktors dargelegt. Diese entspricht der Regelung der §§ 77, 264c SGB VI. Die Recht- und Verfassungsmäßigkeit dieser Regelungen sind durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG 28.09.2011, B 5 R 18/11 R) sowie des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG 11.01.2011, 1 BvR 3588/08) geklärt. Auch hat die Klägerin durch ihren Klägervertreter auf den erfolgten Hinweis des Gerichts keine Gründe genannt, warum eine Abweichung der Rechtsprechung im Folgenden angebracht erscheint. Vielmehr wurde lediglich mitgeteilt, dass eine mangelnde Kontaktmöglichkeit zwischen Klägervertreter und Klägerin Grund für die Fortführung sei. Damit aber ist die aussichtslose Fortführung der Berufung missbräuchlich. Der Senat hält im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens deshalb die Auferlegung einer Verschuldensgebühr für geboten. Die Höhe der auferlegten Kosten entspricht der gesetzlichen Mindestgebühr (§ 192 Abs 1 Satz 3 SGG iVm § 184 Abs 2 SGG).

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved