L 3 R 421/13

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 35 R 501/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 3 R 421/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 22. Februar 2013 sowie die Bescheide der Beklagten vom 01. Oktober 2008 und 04. März 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 04. Juni 2009 aufgehoben. Die Beklagte erstattet dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Teilaufhebung und Rückforderung von überzahlter Rente.

Der 1945 geborene Kläger ist Alleinerbe des 1915 geborenen K (Versicherter). Dieser bezog zunächst eine Altersrente, auf deren Zahlbetrag eine von ihm bezogene Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vom Hundert (v.H.) angerechnet wurde, vgl. Bescheid der Landesversicherungsanstalt Brandenburg vom 12. Dezember 1992. Mit Bescheid des Amtes für Soziales und Versorgung Cottbus (Versorgungsamt) vom 20. März 1998 wurde dem Versicherten ein Grad der Behinderung (GdB) von insgesamt 80 v.H. mit den Merkzeichen G (erheblich beeinträchtigt in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und RF (GdB allein durch Hörschädigung von wenigstens 50) bescheinigt. Als Behinderungen wurden festgestellt: Herzleistungsschwäche mit Bluthochdruck, Rhythmusstörungen, Herzschrittmacher; Schwerhörigkeit; Diabetes mellitus; Sehbehinderung.

Nach dem Tod seiner 1921 geborenen Ehefrau beantragte er im Juli 1998 bei der Beklagten die Gewährung einer Hinterbliebenenrente, welche ihm mit Bescheid vom 07. Oktober 1998 ab Juli 1998 als große Witwerrente ohne Anrechnung der weiterhin bezogenen Verletztenrente gewährt wurde. Im Bescheid vom 07. Oktober 1998 heißt es unter der fettgedruckten Überschrift "Mitteilungspflichten" u.a.:

Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen können Einfluß auf die Rentenhöhe haben. Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns den Bezug, das Hinzutreten oder die Veränderung Erwerbseinkommen, das sind - Arbeitsentgelt, - Einkommen aus selbständiger Tätigkeit, - Vergleichbares Einkommen, oder von Erwerbsersatzeinkommen unverzüglich mitzuteilen.

Erwerbsersatzeinkommen sind folgende Leistungen: - Rente an Versicherte der gesetzlichen Unfallversicherung

Nachdem bei der Beklagten der Verdacht aufgekommen war, dass der Versicherte weiterhin auch eine anzurechnende Verletztenrente bezog, befragte sie ihn mit einem Formblatt nach zu berücksichtigendem Einkommen. Die Beklagte erhielt das Formblatt unter dem 26. Februar 2008 ausgefüllt zurück, wobei die Frage nach Versichertenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung verneint wurde. Die Beklagte erhielt mit Schreiben vom 04. März 2008 von der Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltungen die Auskunft, dass der Versicherte seit Juli 1998 durchgehend Verletztenrente bezieht. Die Beklagte hörte den Kläger mit Schreiben vom 31. März 2008 zur beabsichtigten rückwirkenden Teilaufhebung und Rückforderung der Witwerrente an. Dem wurde seitens des Versicherten mit Schreiben vom 05. Mai 2008 mit der Begründung entgegen getreten, dass sein Vertrauen in den Bestand des Rentenbescheids schutzwürdig gewesen sei; weder habe er die Rechtswidrigkeit des Bescheids gekannt noch infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt. Er sei im Zeitpunkt der Bescheiderteilung bereits 83 Jahre alt gewesen.

Der Versicherte befand sich vom 19. Mai bis zum 10. Juni 2008 unter den Diagnosen Pneumonie rechts, Infektanämie (transfusionspflichtig), Antibiotika-assoziierte Diarrhoe, Immobilitätssyndrom, Harn- und Stuhlinkontinenz, arterielle Hypertonie, Zustand nach Schrittmacherimplantation, KHK, Akute Sinusitis, Zustand nach Apoplexia cerebri, fortgeschrittene Demenz und Delir bei Demenz in stationärer Behandlung im C Klinikum , vgl. Arztbrief vom 09. Juni 2008. Er verstarb am 10. Juni 2008.

Mit an den Kläger gerichtetem Bescheid vom 01. Oktober 2008 berechnete die Beklagte die bisherige große Witwerrente unter nunmehriger Anrechnung der Verletztenrente neu. Der Rentenbescheid vom 07. Oktober 1998 werde hinsichtlich der Rentenhöhe mit Wirkung ab dem 01. Juli 1998 teilweise zurückgenommen; die Überzahlung von 6.082,75 EUR sei vom Kläger zu erstatten. Die Rücknahme sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft sei zulässig, weil der Versicherte sich zum einen auf Vertrauen in den Bestand der Rentenbescheide nicht berufen könne und zum anderen die gesetzlichen Rücknahmefristen nicht abgelaufen seien. Er habe anhand des erstellten Bescheides erkennen können und müssen, dass es an der Anrechnung der Verletztenrente gefehlt habe. Gründe dafür, im Wege des Ermessens von einer Bescheidrücknahme abzusehen, ergäben sich auch aus dem Schreiben vom 05. Mai 2008 nicht.

Der Kläger erhob unter dem 02. November 2008 Widerspruch und rügte u.a. die ihm gegenüber unterbliebene Anhörung. Die Beklagte hörte ihn mit Schreiben vom 18. November 2008 zur weiterhin beabsichtigten Teilaufhebung und Rückforderung an. Der Kläger trat dem mit Schreiben vom 07. Dezember 2008 und u.a. mit dem Vorbringen entgegen, dass dem Versicherten weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen seien, wofür zudem auch auf seine bereits damals bescheinigte Schwerbehinderung zu verweisen sei, wie sich aus dem beigefügten Bescheid des Versorgungsamts vom 20. März 1998 ergebe.

Die Beklagte half dem Widerspruch mit Bescheid vom 04. März 2009 teilweise ab und reduzierte den Rückforderungsbetrag um 2/3 auf 2.027,58 EUR. Dies beruhe auf der Erwägung, dass im Hinblick auf das Lebensalter und der Schwerbehinderung des Rentenempfängers ein atypischer Fall anzunehmen sei. Dies sei bei der Ermessensbetätigung zu berücksichtigen.

Der Kläger hielt seinen Widerspruch mit Schreiben vom 31. März 2009 aufrecht. Das vom Gesetz geforderte Verschulden des Versicherten sei nicht bewiesen.

Die Beklagte stellte laut einem Aktenvermerk fest, dass die vollständigen Akten, insbesondere der Antrag auf Witwerrente nicht mehr vorlagen, und wies den Widerspruch, soweit ihm nicht schon mit Bescheid vom 04. März 2009 abgeholfen wurde, mit Widerspruchsbescheid vom 04. Juni 2009 als unbegründet zurück. Nach sorgfältiger Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Rückzahlung und den privaten, im Widerspruchsverfahren geschilderten Interessen müsse sie hier von ihrem Rückforderungsanspruch Gebrauch machen, soweit nicht mit der im Bescheid vom 04. März 2009 enthaltenen Reduzierung der Rückforderung die vom Kläger angeführten Gründe bei der Ermessensbetätigung bereits Berücksichtigung gefunden hätten.

Der Kläger hat sein Begehren mit der am 07. Juli 2009 zum Sozialgericht Cottbus (SG) erhobenen Klage weiterverfolgt und sein bisheriges Vorbringen vertieft. Das SG hat u.a. einen Befundbericht der den Versicherten behandelnden Fachärztin für Innere Medizin G nebst o.g. Arztbriefs des C Klinikums vom 09. Juni 2008 eingeholt.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 22. Februar 2013 abgewiesen. Es hat u.a. zur Begründung ausgeführt, die angefochtenen Bescheide der Beklagten seien rechtlich nicht zu beanstanden. Die Rücknahme der Rentenbescheide sei rechtmäßig erfolgt. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme für die Vergangenheit seien hinsichtlich des Bescheides vom 07. Oktober 1998 erfüllt. Der Kläger könne sich nicht auf ein schutzwürdiges Vertrauen des Versicherten berufen. Ausgehend von der gesetzlichen Definition des Begriffs der groben Fahrlässigkeit sei eine solche anzunehmen, wenn der Begünstigte im Rahmen seiner persönlichen Einsichts- und Kritikfähigkeit schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt und deshalb nicht beachtet habe, was im gegebenen Fall jedem einleuchten müsse. Der hier streitige Rentenbescheid enthalte den – auch für einen 83-jährigen - klaren und unmissverständlich formulierten Hinweis, dass die Verletztenrente anzurechnen sei. Es sei nicht ersichtlich, dass der Versicherte diesen Hinweis nicht intellektuell verstanden habe. Für eine psychische Erkrankung des Versicherten im Oktober 1998 liege nichts vor. Auch habe die Beklagte im Rahmen ihrer Ermessensbetätigung dem klägerischen Vorbringen im Laufe des Verfahrens Rechnung getragen und dies durch eine Reduzierung der Erstattungsforderung verdeutlicht.

Der Kläger hat gegen das ihm am 07. Mai 2013 zugestellte Urteil am 06. Juni 2013 Berufung eingelegt. Er hält im Wesentlichen an seinem bisherigen Vorbringen fest.

Der Kläger beantragt (sachdienlich gefasst),

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 22. Februar 2013 sowie die Bescheide der Beklagten vom 01. Oktober 2008 und 04. März 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. Juni 2009 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Zu unterstellen, ein Versicherter sei aufgrund seines fortgeschrittenen Alters bzw. aufgrund eines körperlichen Gebrechens nicht mehr hinreichend in der Lage, wesentliche Aussagen eines Bescheides zu verstehen, verbiete sich. Anders verhielte es sich nur, wenn der Witwer etwa an geistigen Erkrankungen gelitten oder gar ein Betreuungsverfahren im Raum gestanden hätte. Vielmehr spiegele die Stellungnahme des Versicherten im Rahmen des Anhörungsverfahrens wider, dass er sich auch in höherem Alter – und zwar hier im Jahr 2008 – uneingeschränkt, souverän und präzise am Rechtsverkehr beteiligt und seine Angelegenheiten trotz körperlicher Behinderungen autonom wahrgenommen habe. Damals habe der Versicherte zudem keineswegs vorgetragen, er habe die Pflicht, die Beklagte rechtzeitig über den Bezug einer Unfallrente zu informieren, nicht gekannt. Bzgl. des Ermessens sei einzuräumen, dass die Ermessenserwägungen knapp ausgefallen seien. Es werde aber zu bedenken gegeben, dass die Forderung zugunsten des Klägers bereits um 2/3 reduziert worden sei. Damit sei dem Umstand Rechnung getragen worden, dass der Witwer zwischenzeitlich verstorben sei. Daneben sei die Beklagte von den bekannten Schwerbehinderungen vordergründig von der eingeschränkten Sehfähigkeit des Witwers zur Reduzierung des Rückforderungsbetrags bewogen worden. Ein weiteres Nachlassen der Forderung komme nicht in Betracht.

Der Berichterstatter hat den Beteiligten mit Schreiben vom 02. September 2013 einen rechtlichen Hinweis erteilt.

Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 13. und 21. November 2013 einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter anstelle des Senats zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen und inhaltlich Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Berichterstatter kann, weil die vorliegende Streitsache weder besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist noch von grundsätzlicher Bedeutung ist, in Ausübung des insofern eröffneten richterlichen Ermessens anstelle des Senats im schriftlichen Verfahren ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben, vgl. §§ 155 Abs. 3 und 4, 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.

Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Bescheide der Beklagten vom 01. Oktober 2008 und 04. März 2009 sind in der Fassung, welche sich durch den Widerspruchsbescheid vom 04. Juni 2009 gefunden haben, rechtswidrig und beschweren den Kläger.

Zwar durfte die Beklagte die Teilaufhebung des Rentenbescheids vom 07. Oktober 1998 grundsätzlich auch gegenüber dem Kläger als Alleinerben des Versicherten aussprechen. Hierzu mag auf die insofern zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Urteil verwiesen werden. Jedoch liegen bereits die Voraussetzungen der für die Aufhebung der Rentenbewilligung einzig in Betracht zu ziehenden Ermächtigungsgrundlage nicht vor.

Die Aufhebungsentscheidung der Beklagten ist an § 45 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) zu messen. Nach dieser Vorschrift darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter Einschränkungen ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 1 SGB X). Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (§ 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X), wobei Schutzwürdigkeit in der Regel dann vorliegt, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder Vermögensdispositionen getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte allerdings dann nicht berufen, wenn er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 bis 3 SGB X). In diesen Fällen wird der Verwaltungsakt nach § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Rücknahme für die Vergangenheit ist nur innerhalb der in Abs. 3 der Vorschrift genannten Fristen möglich, d.h. gemäß Satz 1 kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt nach Abs. 2 grundsätzlich nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Abweichend hiervon kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung u.a. nach Abs. 2 bis zum Ablauf von 10 Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 gegeben sind. Nach Abs. 4 Satz 2 derselben Vorschrift muss die Behörde dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.

Zutreffend ging die Beklagte zwar von der Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 07. Oktober 1998 im Zeitpunkt seines Erlasses aus, wofür hier zur Vermeidung von Wiederholungen nochmals auf die auch insofern zutreffenden des SG im angefochtenen Urteil verwiesen werden soll. Der Kläger kann sich jedoch auf Vertrauensschutz berufen. Seinem insofern unwiderlegbaren Vorbringen zufolge hatte der Versicherte auf den Bestand des Rentenbescheids vom 07. Oktober 1998 vertraut. Dieses Vertrauen ist auch unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig, und zwar nicht nur, weil in Ermangelung gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen ist, dass der Versicherte die erbrachten Rentenleistungen verbraucht hatte, sondern weil auch kein Grund ersichtlich ist, warum er sich nicht auf sein Vertrauen sollte berufen können. Ein den Vertrauensschutz ausschließender Tatbestand nach § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X liegt nämlich nicht vor. Für Nr. 1 (arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung) liegt von vornherein nichts vor und wird auch von der Beklagten nichts angeführt. Für Nr. 2 (vorsätzlich oder grobfahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben) fehlt es ebenfalls von vornherein bereits an anknüpfungsfähigen Tatsachen, zumal der Witwerrentenantrag nicht mehr vorliegt. Insbesondere liegt auch der Tatbestand nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X nicht vor. Im Sinne der Vorschrift verhält sich grob fahrlässig, wer schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (vgl. Urteile des BSG vom 11. Juni 1987 - 7 RAr 105/85 –, in SozR 4100 § 71 Nr. 2 und vom 31. August 1976 - 7 RAr 112/74 -, in SozR 4100 § 152 Nr. 3). Dabei ist jedoch nicht ein objektiver Maßstab anzulegen, sondern auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten der Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Falles abzustellen (vgl. z.B. Urteil des BSG vom 27. Juli 2000 – B 7 AL 88/99 R -, in SozR 3-1300 § 45 Nr. 42). Bezugspunkt für das grobfahrlässige Nichtwissen ist schon nach dem Wortlaut des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R -, in SozR 3-1300 § 45 Nr. 45). Im Allgemeinen besteht für den Betroffenen kein Anlass, einen Verwaltungsakt auf Richtigkeit zu überprüfen, wenn im Verwaltungsverfahren zutreffende Angaben gemacht worden sind. Anderenfalls würde das Risiko der rechtmäßigen Umsetzung der korrekten Angaben des Begünstigten von der Behörde auf diesen übergewälzt (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2001 - B 11 AL 21/00 R -, a.a.O.). Allerdings sind die Beteiligten im Sozialrechtsverhältnis verpflichtet, sich gegenseitig vor vermeidbarem, das Versicherungsverhältnis betreffenden Schaden zu bewahren (vgl. Urteile des BSG vom 14. Dezember 1995 - 11 RAr 75/95 –, in SozR 3-4100 § 105 Nr. 2 und vom 23. März 1972 - 5 RJ 63/70 -, in SozR Nr. 25 zu § 29 RVO). Daher ist der Adressat eines Verwaltungsakts rechtlich gehalten, einen ihm günstigen Bewilligungsbescheid auch zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2001 - B 11 AL 21/00 R -, a.a.O.). Die Unkenntnis ist daher grob fahrlässig, wenn der Adressat, hätte er den Bewilligungsbescheid gelesen und zur Kenntnis genommen, auf Grund einfachster und nahe liegender Überlegungen sicher hätte erkennen können, dass der zuerkannte Anspruch nicht oder jedenfalls so nicht besteht (vgl. Urteil des BSG vom 26. August 1987 - 11a RA 30/86 -, in SozR 1300 § 48 Nr. 39). Davon ist bei Fehlern auszugehen, die sich erstens aus dem begünstigenden Verwaltungsakt selbst oder anderen Umständen ergeben und zweitens für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne Weiteres erkennbar sind (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2001 - B 11 AL 21/00 R -, a.a.O.).

Hiervon ausgehend ist der Senat nicht im nach § 123 Abs. 1 S. 1 SGG zu fordernden Maße eines Vollbeweises davon überzeugt, dass dem Versicherten der Vorwurf auch nur grober Fahrlässigkeit gemacht werden kann. Vielmehr bestehen hieran wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls vernünftige Zweifel. Es kann dahinstehen, ob dem Versicherten – etwa aus dem die Altersrente betreffenden Rentenverfahren - ursprünglich klar war, dass die Höhe der Rente auch durch den Bezug einer anzurechnenden Verletztenrente beeinflusst wird. Indizien hierfür oder hiergegen lassen sich dem Witwerrentenverfahren mangels noch vorhandenen Antrags nicht mehr ermitteln. Zwar sind die im Bescheid vom 07. Oktober 1998 enthaltenen "Mitteilungspflichten" für sich betrachtet klar und unmissverständlich formuliert; dies nimmt die Beklagte im Ansatz nachvollziehbar als Indiz für eine grobe Fahrlässigkeit des Versicherten. Jedoch spricht eine Vielzahl in die entgegen gesetzte Richtung weisender Indizien im vorliegenden Fall gegen eine grobe Fahrlässigkeit. Es musste sich dem Versicherten im Zeitpunkt des Erlass des Bescheids vom 07. Oktober 1998 wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls - auch bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt - nicht ohne Weiteres aufdrängen, dass der Bescheid mangels Anrechnung der Verletztenrente rechtswidrig war. Es spricht vielmehr angesichts der Vorlage des Bescheids des Versorgungsamts vom 20. März 1998, in welchem dem Versicherten bereits rund ein halbes Jahr vor Erlass des zurückgenommenen Bescheids neben Herzleistungsschwäche mit Bluthochdruck, Rhythmusstörungen und Herzschrittmacher, Schwerhörigkeit, Diabetes mellitus und Sehbehinderung bescheinigt wurde, neben dem fortgeschrittenen Alter des Versicherten von knapp 83 Jahren vieles dafür, dass er in seiner allgemeinen körperlichen Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit bereits erheblich herabgesetzt war. So kann im Nachhinein mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr festgestellt werden, dass er – zudem in einer durch den Tod seiner Ehefrau und den hierauf beruhenden Komplikationen geprägten Lebensphase - eingedenk der Vielzahl seiner Gebrechen vor allem im Zusammenspiel mit seiner eingeschränkten Sehfähigkeit alle Details der in kleinem Schriftgrad verfassten Bescheidbegründung ohne Weiteres erfassen und allen für die Rentengewährung maßgeblichen tatsächlichen Umstände gegenüberstellen bzw. diese überblicken konnte. Hinzukommt, dass der Versicherte damals bereits eine Altersrente unter Anrechnung der Verletztenrente bezog und so ggf. nachvollziehbar davon ausgehen konnte, dass die für die Witwerrente nötigen Fakten, einschließlich der Verletztenrente, bei der Beklagten ohnehin bekannt seien. Bei alldem ist nicht gewiss, dass sich auch einem sorgfältigen Bescheidempfänger in der Person des Versicherten aufdrängen musste, dass der Bescheid wegen fehlender Verletztenrentenanrechnung rechtswidrig war. Soweit die Beklagte im Berufungsverfahren darauf verweist, dass der Versicherte sogar noch im Schreiben vom 05. Mai 2008, in welchem sich eingehend mit der Anhörung zur beabsichtigten Teilaufhebung Rückforderung auseinandergesetzt wird, dokumentiert habe, sich selbst zu diesem Zeitpunkt noch uneingeschränkt, souverän und präzise am Rechtsverkehr beteiligen zu können, verfängt dies nicht. Vielmehr bestehen für den Senat durchgreifende Zweifel, dass dieses Schreibens vom Versicherten selbst verfasst wurde. Der Versicherte befand sich zu diesem Zeitpunkt ausweislich des Arztbriefs des C Klinikums vom 09. Juni 2008 neben einer Vielzahl weiterer ernsthafter Erkrankungen bereits in einem Stadium fortgeschrittener Demenz, so dass wahrscheinlicher ist, dass das Schreiben zwar wohl im Sinne oder vielleicht noch mit Zustimmung des Versicherten aufgesetzt wurde, jedoch letztlich vom Kläger selbst verfasst wurde, der im Übrigen seine weiteren an die Beklagte gerichteten Schreiben u.a. im gleichen Schriftgrad und -bild absetzte.

Aber selbst das Vorliegen der Rücknahmevoraussetzungen bzw. das Fehlen von Vertrauensschutz unterstellt, erweist sich der angefochtene Bescheid als rechtswidrig. Die nach § 54 Abs. 2 S. 2 SGG gebotene gerichtliche Überprüfung des nach § 45 Abs. 1 ("darf") SGB X eröffneten Ermessen ergibt, dass die Beklagte das Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechende Weise Gebrauch machte. Es hätten die den Gesundheitszustand des Versicherten kennzeichnenden einzelnen Umstände zum Gegenstand der im Rücknahmebescheid vorzunehmenden Ermessenserwägungen gemacht werden müssen. Auch der Umstand, dass der Versicherte bereits eine Altersrente unter Anrechnung der Verletztenrente bezog, und welche Schlüsse er eben hieraus für die Rechtmäßigkeit des Witwerrentenbescheids ziehen durfte, blieb ohne Berücksichtigung. Ohne die Würdigung, d.h. konkrete Bezugnahme all dieser Lebensumstände in der anzustellenden Abwägung leidet das Ermessen mangels vollständiger Sachverhaltserfassung an einem Fehlgebrauch, auch wenn die Beklagte im Berufungsverfahren ihre Ermessenserwägungen bzgl. der Sehbehinderung teilweise ergänzt hat. Damit fehlt es letztlich immer noch daran, die einzelnen, die Vorwerfbarkeit des Verhaltens des Versicherten bestimmenden persönlichen und gesundheitlichen Faktoren wertend einzubeziehen und zu gewichten.

Mithin kann dahinstehen, ob die Beklagte die Jahres-Frist für eine rückwirkende Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes einhielt, vgl. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X.

Nach alldem erweist sich auch die in den angefochtenen Bescheiden enthalte Rückforderung bzw. Erstattung als in den Kläger beschwerender Weise rechtswidrig. Die Voraussetzungen der hierfür einzig in Betracht zu ziehenden Ermächtigungsgrundlage aus § 50 Abs. 1 S. 1 SGB X liegen nicht vor, wonach, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben ist, bereits erbrachte Leistungen zu erstatten sind. Da die in den Bescheiden der Beklagten vom 01. Oktober 2008 und 04. März 2009 enthaltene Teilaufhebung des Verwaltungsakts von 07. Oktober 1998 mit dem vorliegenden Urteil aufgehoben worden ist, ist auch für eine eben hierauf beruhende Erstattung kein Raum.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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