Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SB 3906/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 3838/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. August 2013 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB). In Streit ist die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch.
Die Klägerin ist am 20.10.1956 geboren. Sie war bei Stellung des ersten Antrags Italienerin. Sie hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland.
Mit Bescheid vom 11.11.2009 stellte das Landratsamt A (LRA) als Versorgungsamt einen GdB von 30 ab dem 29.09.2008 fest. Es berücksichtigte ein chronisches Schmerzsyndrom (Teil-GdB 20), eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit operiertem Bandscheibenschaden und Spinalkanalstenose (20) sowie eine Funktionsbehinderung beider Schultergelenke (10).
Am 23.12.2011 beantragte die Klägerin beim LRA unter Vorlage zweier Befundberichte des Radiologie-Zentrums Stuttgart sowie eines Arztbriefes des HNO-Arztes Dr. B. Neufestsetzung. Seit einem Arbeitsunfall im Juni 2011 leide sie vermehrt unter Schwindel und Wirbelsäulenbeschwerden.
Nach Beiziehung von Ton-und Sprachaudiogrammen bei Dr. B. sowie Befundberichten des Facharztes für Chirurgie Dr. C. und Einholung der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. Fuhrmann vom 27.03.2012 lehnte das LRA den Antrag mit Bescheid vom 27.03.2012 ab. Trotz zusätzlicher Berücksichtigung einer Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen und Schwindel mit einem Teil-GdB von 10 habe sich der Gesundheitszustand nicht wesentlich verändert.
Im Widerspruchsverfahren holte das LRA einen weiteren Befundbericht bei Dr. C. ein. Gestützt auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. D. vom 06.05.2012 wies der Beklagten den Widerspruch sodann mit Widerspruchsbescheid vom 09.07.2012 zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 12.07.2012 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben, mit welcher sie ihr Begehren weiterverfolgt hat.
Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Diese haben jeweils die von ihnen erhobenen Befunde und Krankheitsäußerungen mitgeteilt. Dr. C. (Aussage vom 29.08.2012) und Dr. B. (Aussage vom 04.10.2012) haben sich den Ausführungen des versorgungsärztlichen Dienstes angeschlossen. Der Neurologe und Psychiater Dr. E. (Eingang 27.08.2012) hat von einer Anpassungsstörung sowie einer Angst- und depressiven Störung gemischt berichtet, welche sowohl die soziale als auch die familiäre Integration nicht unerheblich einschränke; wesentliche Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit lägen hingegen nicht vor. Zur Akte gelangte weiterhin der Untersuchungsbericht der BG-Klinik F., Prof. Dr. G., vom 13.01.2012, der auf Anforderung eines Unfallversicherungsträgers erstellt worden war (Anhaltender Schwindel, Übelkeit, Tinnitus rechts, Bewegungseinschränkung der HWS [Halswirbelsäule] bei Zustand nach [Z.n.] Anpralltrauma Schädel/HWS am 14.06.2011).
Mit Schreiben vom 20.12.2012 hat der Beklagte ein Anerkenntnis über einen GdB von 40 ab dem 23.12.2011 abgegeben. Für das chronische Schmerzsyndrom und die seelischen Störungen könne ein Teil-GdB von 30 festgesetzt werden, weitere Bewertungsänderungen ergäben sich durch die eingeholten Auskünfte der behandelnden Ärzte nicht. Die Kläger hat dieses Anerkenntnis nicht angenommen, da sie einen GdB von wenigstens 50 begehre.
Mit Gerichtsbescheid vom 26.08.2013 hat das SG den Beklagten zur Zuerkennung eines GdB von 40 seit dem 23.12.2011 verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Es hat sich bei seiner Beurteilung auf die Angaben der sachverständigen Zeugen und den Untersuchungsbericht der BG-Klinik F. gestützt. Auf die weiteren Ausführungen des SG wird verwiesen.
Diesen Gerichtsbescheid hat der Beklagte über das LRA mit Bescheid vom 06.09.2013 ausgeführt.
Am 02.09.2013 hat die Klägerin Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Bereits auf psychiatrischem Gebiet sei ein Einzel-GdB von 40 zu vergeben, auch seien die Einzel-GdB von je 20 für die orthopädischen Beschwerden und die Schwerhörigkeit auch angesichts weiterer Verschlechterungen deutlich zu gering bewertet.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. August 2013 abzuändern und den Beklagten unter zu verurteilen, ab dem 23. Dezember 2011 einen Grad der Behinderung von mindestens 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat unter dem 05.11.2013 Hinweise zur Sach- und Rechtslage gegeben. Darauf wird Bezug genommen.
Die Klägerin hat den Arztbrief des Zentrums für Psychiatrie W., Dr. H.-I., vom 31.10.2013 (Somatisierungsstörung; rezidivierende depressive Episoden, ggw. mittelgradig) zur Akte gereicht.
Auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin hat der Senat Dr. J. mit der Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens beauftragt. Diese Sachverständige hat bekundet, die Klägerin leide unter eine Somatisierungsstörung; einer rezidivierenden depressiven Episode, zurzeit leichtgra¬dig; einem Z.n. OP eines lumbalen Bandscheibenvorfalls; einem sensiblen LWS-Syndrom L5 links, einem sensiblen HWS-Syndrom C8 links, einem Z.n. Schädelprellung und Contusion des rechten Innenohrs und einem Z.n. OP der linken Schulter. Die psychische Erkrankung bedinge Schmerzen, Schlafstörungen und einen andauernden Schwindel und in Phasen auftretende depressive Stimmungen. Ferner führten die WS-Schäden zu anhaltenden Sensibilitätsstörungen. Der GdB betrage auf psychiatrischem Gebiet 40 und für die Lumboischialgie 20. Auf nervenärztlichem Gebiet insgesamt sei von einem GdB von 40 auszugehen. Wegen der weiteren Feststellungen und Vorschläge der Sachverständigen wird auf das schriftliche Gutachten vom 11.02.2014 Bezug genommen.
Die Klägerin hat unter dem 26.02.2014, der Beklagte mit Schriftsatz vom 27.02.2014 einer Entscheidung des Berichterstatters als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe:
1. Über die Berufung entscheidet im Einvernehmen mit beiden Beteiligten der Berichterstatter als Einzelrichter (§ 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und ohne mündliche Verhandlung (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG), weswegen auch die ehrenamtlichen Richter nicht zu beteiligen sind (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 155 Rn. 11).
2. Gegenstand des Verfahrens sind nur die angegriffenen Ausgangsbescheide. Der Bescheid vom 06.09.2013 ist nur in Ausführung der erstinstanzlichen Verurteilung ergangen und hat daher die Ausgangsbescheide nicht im Sinne von § 96 Abs. 1 SGG ersetzt.
3. In diesem Rahmen ist die Berufung statthaft (§ 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 SGG) und auch sonst zulässig, insbesondere fristgerecht nach § 151 Abs. 1 SGG eingelegt.
4. Sie ist jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das SG den Beklagten nur - seinem Teil-Anerkenntnis gemäß - zur Feststellung eines GdB von 40 verurteilt. Ein höherer GdB liegt nicht vor.
a) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Feststellung eines GdB und seiner Höhe nach § 69 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und die hierzu heranzuziehenden Vorgaben der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG), der Anlage zu der nach § 30 Abs. 16 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), und die weiteren Voraussetzungen für die Abänderung einer bereits vorliegenden bindenden (§ 77 SGG) Feststellung des GdB nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) hat das SG in dem angegriffenen Gerichtsbescheid zutreffend dargelegt. Der Senat nimmt darauf, um Wiederholungen zu vermeiden, Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).
b) Auch in der Sache hat das SG die psychischen Beeinträchtigungen, die Schäden an Wirbelsäule und Schultern und die Schwerhörigkeit umfassend gewürdigt.
aa) Insbesondere die Ausführungen des SG zu den Anforderungen der VMG an die Bewertung psychischer Erkrankungen waren umfassend. Hier hat das SG unter Heranziehung einzelner Beschlüsse des Beirats herausgearbeitet, welche Funktionsbeeinträchtigungen nach Teil B Nr. 3.7 VG einen GdB von 30 bis 40 und welche einen solchen ab 50 bedingen könnten. Diesen Ausführungen kann nur zugestimmt werden. Auf diesem Fachgebiet hatte Dr. E. in seiner Zeugenaussage selbst einen GdB von 30 vorgeschlagen, und genau diesen hat dann das SG angelegt. Dr. E. hatte als Diagnosen eine Anpassungsstörung (F43.2 nach der ICD-10) und eine Mischdiagnose (F41.2) genannt. Eine (eigenständige) depressive Erkrankung (F32, F33) lag nach diesen Ausführungen damals nicht vor. Beide Diagnosen sind Krankheiten mit eher geringfügigen Einschränkungen. So kann die Diagnose Angst und Depression gemischt (F41.2) nach der ICD-10 nur gestellt werden, wenn "keine der beiden Störungen [Angst und Depression] ( ) für sich genommen eine eigenständige Diagnose rechtfertigt". Die anderen Behandler und auch der Untersuchungsbericht der BG-Klinik F. vom 21.02.2012 nennen gar keine psychiatrischen Diagnosen. Die Bewertung mit einem GdB von 30 beruht vor allem auf der physischen Leidensdimension, also den empfundenen Schmerzen (Kopfschmerzen) und ggfs. dem Schwindel (insoweit evtl. Überlappung mit der Hörbehinderung), während auf psychischer Ebene die Angst im Vordergrund steht und die sozialen Bezüge der Klägerin (die ja berufstätig ist/war) weniger beeinträchtigt sind.
bb) Den weiteren Ausführungen des SG zu den Behinderungen auf anderen Fachgebieten folgt der Senat ebenfalls:
An der WS sind zwar zwei Abschnitte (HWS, LWS) geschädigt, aber nur an der HWS zeigen sich daraus folgende Funktionsbeeinträchtigungen. Diese können allenfalls als mittelgradig eingestuft werden: Die Beweglichkeit war in zwei Dimensionen eingeschränkt, aber bei der Neigung gerade noch normgerecht: Nach dem Untersuchungsbericht der BG-Klinik F. wurden (nach Neutral-Null) gemessen [in Klammern jeweils die Normwerte]: Vor-/Rückneigen 45/0/45° [45-70/0/35-45°], Rotation re/li 50/0/50° [60-80/0/60-80°], Seitneigung 20/0/20° [45/0/45°]. An der LWS wurden gar keine Funktionseinbußen beschrieben. Wenn demnach mittelgradige Auswirkungen in einem Abschnitt vorliegen, kommt nach Teil B Nr. 18.9 VG genau ein GdB von 20 in Betracht.
Die Hörbehinderung ist nach der Tabelle bei Teil B Nr. 5 (5.2.4) VG zu bewerten. Bei Hörverlusten von 8 % rechts und 49 % links ist nach dem dritten Tabellenfeld in der ersten Zeile ein GdB von - genau 10 anzunehmen. Dieser gilt auch etwaige (psychovegetative) Begleiterscheinungen (Tinnitus/Schwindel?) ab, da diese nicht "außergewöhnlich" nach Teil B Nr. 5 VG sind.
Die Schultergelenke sind jedenfalls nicht bewegungseingeschränkt, insbesondere die Seitwärts- (180°) und die Vorwärtshebung (170°) sind regelgerecht.
Vor diesem Hintergrund eines Einzel-GdB von 30, eines solchen von 20 und allenfalls weiterer von 10 ist nach Teil A Nr. 3 VG ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden.
c) Diese Einschätzungen hat auch die weitere Beweisaufnahme im Berufungsverfahren nicht verändert.
Auf psychiatrischem Gebiet sind bei der Klägerin zwar nunmehr rezidivierende depressive Episoden diagnostiziert worden. Diese sind allerdings bereits diagnostisch als schwankend einzustufen: In ihrem Arztbrief vom 31.10.2013 Dr. H.-I. auf Grund einer mehrwöchigen teilstationären Behandlung auf psychiatrischem Gebiet gegenwärtig eine mittelgradige Episode (F33.1) angenommen. Die Behandlung bei Dr. H.-I. war aber anscheinend zum Teil erfolgreich, denn bei der anschließenden Begutachtung bei Dr. J. konnte nur noch eine leichte Episode (F33.0) festgestellt werden. Sofern sich daher der Zustand der Klägerin auf diesem Fachgebiet dauerhaft, also für mehr als sechs Monate, verändert hat, liegt allenfalls eine geringe Verschlechterung vor. Außerdem sind behinderungsrechtlich nicht die Diagnosen, sondern die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen zu bewerten. Vor diesem Hintergrund sind entweder die psychiatrische Erkrankung weiterhin mit einem GdB von 30 und die Beeinträchtigungen an der LWS mit einem solchen von 20 zu bewerten oder es kann - dem Vorschlag Dr. J.s folgend - der GdB auf psychiatrischem Gebiet mit 40 angenommen werden, dieser würde sich dann aber wegen der Wirbelsäulenbeeinträchtigungen nicht mehr erhöhen (Teil A Nr. 3 lit. d Doppelbuchstabe ee VG). Denn bei der Bewertung der psychischen Erkrankung der Klägerin stehen somatische Einbußen im Vordergrund. Dr. J. hat insoweit eine Somatisie-rungs¬störung diagnostiziert. Sie hat darauf hingewiesen, dass die Klägerin insbesondere unter den Schmerzen, dem Schwindel und der Übelkeit leide. Damit ist die physische Leidensdimension ausgeprägt. Die psychische und auch die soziale Dimension sind weniger betroffen. Die Klägerin war bei der Begutachtung im Kontakt klagsam und erschien "mäßig depressiv". Weitere Depressivitätssymptome lagen nicht vor: der Antrieb war ausgeglichen, die Schwingungsfähigkeit erhalten, es gab keine Hinweise auf paranoide Vorstellungen, die mnestischen Fähigkeiten (z. B. Konzentrationsvermögen) waren intakt. Dr. J. hat auch auf einen sekundären Krankheitsgewinn hingewiesen. Die Teilhabe der Klägerin am allgemeinen Leben (soziale Dimension) ist zwar eingeschränkt, aber nur leicht: Der Tagesablauf ist intakt (Aufstehen morgens, ggfs. selbst frühstücken, Haushaltsführung intakt, Essen bei der Tochter, abends lesen und fernsehen, Schlafen ab 21.00 Uhr). Ferner sieht die Klägerin täglich ihre Tochter und die Enkel, bei denen sie zu Mittag ist und mit denen sie Spaziergänge unternimmt. Die anderen Söhne kommen regelmäßig zu Besuch. Auch Kontakt zu einem Bruder, der in Deutschland lebt, scheint zu bestehen. Ferner war die Klägerin noch im Jahr vor der Begutachtung bei ihrer restlichen Familie in Sizilien zum Urlaub. Nach diesem Eindruck besteht eine starke Überlappung der psychischen und somatischen Beschwerden. Deswegen dürfte auch Dr. J. in ihrer Gesamtbetrachtung, in der sie auch die Beeinträchtigungen an der Wirbelsäule einbezogen hat, von einem GdB von - nur - 40 ausgegangen sein, also von einer Erhöhung auf 50 wegen der zusätzlichen Beschwerden abgesehen haben.
Verschlechterungen auf anderen Fachgebieten hat die Klägerin zwar in ihrer Berufungsschrift behauptet, aber diesen Vortrag auch auf die ausdrückliche Anfrage des Senats vom 05.11.2013 nicht konkretisiert. Nachdem danach auch weder aus dem Arztbrief von Dr. H.-I. noch aus dem Gutachten von Dr. J. neue oder verschlimmerte Diagnosen auf anderen als psychiatrischen Fachgebieten hervorgegangen sind, wäre eine weitere Beweiserhebung "ins Blaue" gegangen, weswegen der Senat von ihr abgesehen hat.
4. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.
5. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht vorgetragen oder ersichtlich.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB). In Streit ist die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch.
Die Klägerin ist am 20.10.1956 geboren. Sie war bei Stellung des ersten Antrags Italienerin. Sie hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland.
Mit Bescheid vom 11.11.2009 stellte das Landratsamt A (LRA) als Versorgungsamt einen GdB von 30 ab dem 29.09.2008 fest. Es berücksichtigte ein chronisches Schmerzsyndrom (Teil-GdB 20), eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit operiertem Bandscheibenschaden und Spinalkanalstenose (20) sowie eine Funktionsbehinderung beider Schultergelenke (10).
Am 23.12.2011 beantragte die Klägerin beim LRA unter Vorlage zweier Befundberichte des Radiologie-Zentrums Stuttgart sowie eines Arztbriefes des HNO-Arztes Dr. B. Neufestsetzung. Seit einem Arbeitsunfall im Juni 2011 leide sie vermehrt unter Schwindel und Wirbelsäulenbeschwerden.
Nach Beiziehung von Ton-und Sprachaudiogrammen bei Dr. B. sowie Befundberichten des Facharztes für Chirurgie Dr. C. und Einholung der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. Fuhrmann vom 27.03.2012 lehnte das LRA den Antrag mit Bescheid vom 27.03.2012 ab. Trotz zusätzlicher Berücksichtigung einer Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen und Schwindel mit einem Teil-GdB von 10 habe sich der Gesundheitszustand nicht wesentlich verändert.
Im Widerspruchsverfahren holte das LRA einen weiteren Befundbericht bei Dr. C. ein. Gestützt auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. D. vom 06.05.2012 wies der Beklagten den Widerspruch sodann mit Widerspruchsbescheid vom 09.07.2012 zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 12.07.2012 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben, mit welcher sie ihr Begehren weiterverfolgt hat.
Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Diese haben jeweils die von ihnen erhobenen Befunde und Krankheitsäußerungen mitgeteilt. Dr. C. (Aussage vom 29.08.2012) und Dr. B. (Aussage vom 04.10.2012) haben sich den Ausführungen des versorgungsärztlichen Dienstes angeschlossen. Der Neurologe und Psychiater Dr. E. (Eingang 27.08.2012) hat von einer Anpassungsstörung sowie einer Angst- und depressiven Störung gemischt berichtet, welche sowohl die soziale als auch die familiäre Integration nicht unerheblich einschränke; wesentliche Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit lägen hingegen nicht vor. Zur Akte gelangte weiterhin der Untersuchungsbericht der BG-Klinik F., Prof. Dr. G., vom 13.01.2012, der auf Anforderung eines Unfallversicherungsträgers erstellt worden war (Anhaltender Schwindel, Übelkeit, Tinnitus rechts, Bewegungseinschränkung der HWS [Halswirbelsäule] bei Zustand nach [Z.n.] Anpralltrauma Schädel/HWS am 14.06.2011).
Mit Schreiben vom 20.12.2012 hat der Beklagte ein Anerkenntnis über einen GdB von 40 ab dem 23.12.2011 abgegeben. Für das chronische Schmerzsyndrom und die seelischen Störungen könne ein Teil-GdB von 30 festgesetzt werden, weitere Bewertungsänderungen ergäben sich durch die eingeholten Auskünfte der behandelnden Ärzte nicht. Die Kläger hat dieses Anerkenntnis nicht angenommen, da sie einen GdB von wenigstens 50 begehre.
Mit Gerichtsbescheid vom 26.08.2013 hat das SG den Beklagten zur Zuerkennung eines GdB von 40 seit dem 23.12.2011 verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Es hat sich bei seiner Beurteilung auf die Angaben der sachverständigen Zeugen und den Untersuchungsbericht der BG-Klinik F. gestützt. Auf die weiteren Ausführungen des SG wird verwiesen.
Diesen Gerichtsbescheid hat der Beklagte über das LRA mit Bescheid vom 06.09.2013 ausgeführt.
Am 02.09.2013 hat die Klägerin Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Bereits auf psychiatrischem Gebiet sei ein Einzel-GdB von 40 zu vergeben, auch seien die Einzel-GdB von je 20 für die orthopädischen Beschwerden und die Schwerhörigkeit auch angesichts weiterer Verschlechterungen deutlich zu gering bewertet.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. August 2013 abzuändern und den Beklagten unter zu verurteilen, ab dem 23. Dezember 2011 einen Grad der Behinderung von mindestens 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat unter dem 05.11.2013 Hinweise zur Sach- und Rechtslage gegeben. Darauf wird Bezug genommen.
Die Klägerin hat den Arztbrief des Zentrums für Psychiatrie W., Dr. H.-I., vom 31.10.2013 (Somatisierungsstörung; rezidivierende depressive Episoden, ggw. mittelgradig) zur Akte gereicht.
Auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin hat der Senat Dr. J. mit der Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens beauftragt. Diese Sachverständige hat bekundet, die Klägerin leide unter eine Somatisierungsstörung; einer rezidivierenden depressiven Episode, zurzeit leichtgra¬dig; einem Z.n. OP eines lumbalen Bandscheibenvorfalls; einem sensiblen LWS-Syndrom L5 links, einem sensiblen HWS-Syndrom C8 links, einem Z.n. Schädelprellung und Contusion des rechten Innenohrs und einem Z.n. OP der linken Schulter. Die psychische Erkrankung bedinge Schmerzen, Schlafstörungen und einen andauernden Schwindel und in Phasen auftretende depressive Stimmungen. Ferner führten die WS-Schäden zu anhaltenden Sensibilitätsstörungen. Der GdB betrage auf psychiatrischem Gebiet 40 und für die Lumboischialgie 20. Auf nervenärztlichem Gebiet insgesamt sei von einem GdB von 40 auszugehen. Wegen der weiteren Feststellungen und Vorschläge der Sachverständigen wird auf das schriftliche Gutachten vom 11.02.2014 Bezug genommen.
Die Klägerin hat unter dem 26.02.2014, der Beklagte mit Schriftsatz vom 27.02.2014 einer Entscheidung des Berichterstatters als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe:
1. Über die Berufung entscheidet im Einvernehmen mit beiden Beteiligten der Berichterstatter als Einzelrichter (§ 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und ohne mündliche Verhandlung (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG), weswegen auch die ehrenamtlichen Richter nicht zu beteiligen sind (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 155 Rn. 11).
2. Gegenstand des Verfahrens sind nur die angegriffenen Ausgangsbescheide. Der Bescheid vom 06.09.2013 ist nur in Ausführung der erstinstanzlichen Verurteilung ergangen und hat daher die Ausgangsbescheide nicht im Sinne von § 96 Abs. 1 SGG ersetzt.
3. In diesem Rahmen ist die Berufung statthaft (§ 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 SGG) und auch sonst zulässig, insbesondere fristgerecht nach § 151 Abs. 1 SGG eingelegt.
4. Sie ist jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das SG den Beklagten nur - seinem Teil-Anerkenntnis gemäß - zur Feststellung eines GdB von 40 verurteilt. Ein höherer GdB liegt nicht vor.
a) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Feststellung eines GdB und seiner Höhe nach § 69 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und die hierzu heranzuziehenden Vorgaben der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG), der Anlage zu der nach § 30 Abs. 16 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), und die weiteren Voraussetzungen für die Abänderung einer bereits vorliegenden bindenden (§ 77 SGG) Feststellung des GdB nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) hat das SG in dem angegriffenen Gerichtsbescheid zutreffend dargelegt. Der Senat nimmt darauf, um Wiederholungen zu vermeiden, Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).
b) Auch in der Sache hat das SG die psychischen Beeinträchtigungen, die Schäden an Wirbelsäule und Schultern und die Schwerhörigkeit umfassend gewürdigt.
aa) Insbesondere die Ausführungen des SG zu den Anforderungen der VMG an die Bewertung psychischer Erkrankungen waren umfassend. Hier hat das SG unter Heranziehung einzelner Beschlüsse des Beirats herausgearbeitet, welche Funktionsbeeinträchtigungen nach Teil B Nr. 3.7 VG einen GdB von 30 bis 40 und welche einen solchen ab 50 bedingen könnten. Diesen Ausführungen kann nur zugestimmt werden. Auf diesem Fachgebiet hatte Dr. E. in seiner Zeugenaussage selbst einen GdB von 30 vorgeschlagen, und genau diesen hat dann das SG angelegt. Dr. E. hatte als Diagnosen eine Anpassungsstörung (F43.2 nach der ICD-10) und eine Mischdiagnose (F41.2) genannt. Eine (eigenständige) depressive Erkrankung (F32, F33) lag nach diesen Ausführungen damals nicht vor. Beide Diagnosen sind Krankheiten mit eher geringfügigen Einschränkungen. So kann die Diagnose Angst und Depression gemischt (F41.2) nach der ICD-10 nur gestellt werden, wenn "keine der beiden Störungen [Angst und Depression] ( ) für sich genommen eine eigenständige Diagnose rechtfertigt". Die anderen Behandler und auch der Untersuchungsbericht der BG-Klinik F. vom 21.02.2012 nennen gar keine psychiatrischen Diagnosen. Die Bewertung mit einem GdB von 30 beruht vor allem auf der physischen Leidensdimension, also den empfundenen Schmerzen (Kopfschmerzen) und ggfs. dem Schwindel (insoweit evtl. Überlappung mit der Hörbehinderung), während auf psychischer Ebene die Angst im Vordergrund steht und die sozialen Bezüge der Klägerin (die ja berufstätig ist/war) weniger beeinträchtigt sind.
bb) Den weiteren Ausführungen des SG zu den Behinderungen auf anderen Fachgebieten folgt der Senat ebenfalls:
An der WS sind zwar zwei Abschnitte (HWS, LWS) geschädigt, aber nur an der HWS zeigen sich daraus folgende Funktionsbeeinträchtigungen. Diese können allenfalls als mittelgradig eingestuft werden: Die Beweglichkeit war in zwei Dimensionen eingeschränkt, aber bei der Neigung gerade noch normgerecht: Nach dem Untersuchungsbericht der BG-Klinik F. wurden (nach Neutral-Null) gemessen [in Klammern jeweils die Normwerte]: Vor-/Rückneigen 45/0/45° [45-70/0/35-45°], Rotation re/li 50/0/50° [60-80/0/60-80°], Seitneigung 20/0/20° [45/0/45°]. An der LWS wurden gar keine Funktionseinbußen beschrieben. Wenn demnach mittelgradige Auswirkungen in einem Abschnitt vorliegen, kommt nach Teil B Nr. 18.9 VG genau ein GdB von 20 in Betracht.
Die Hörbehinderung ist nach der Tabelle bei Teil B Nr. 5 (5.2.4) VG zu bewerten. Bei Hörverlusten von 8 % rechts und 49 % links ist nach dem dritten Tabellenfeld in der ersten Zeile ein GdB von - genau 10 anzunehmen. Dieser gilt auch etwaige (psychovegetative) Begleiterscheinungen (Tinnitus/Schwindel?) ab, da diese nicht "außergewöhnlich" nach Teil B Nr. 5 VG sind.
Die Schultergelenke sind jedenfalls nicht bewegungseingeschränkt, insbesondere die Seitwärts- (180°) und die Vorwärtshebung (170°) sind regelgerecht.
Vor diesem Hintergrund eines Einzel-GdB von 30, eines solchen von 20 und allenfalls weiterer von 10 ist nach Teil A Nr. 3 VG ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden.
c) Diese Einschätzungen hat auch die weitere Beweisaufnahme im Berufungsverfahren nicht verändert.
Auf psychiatrischem Gebiet sind bei der Klägerin zwar nunmehr rezidivierende depressive Episoden diagnostiziert worden. Diese sind allerdings bereits diagnostisch als schwankend einzustufen: In ihrem Arztbrief vom 31.10.2013 Dr. H.-I. auf Grund einer mehrwöchigen teilstationären Behandlung auf psychiatrischem Gebiet gegenwärtig eine mittelgradige Episode (F33.1) angenommen. Die Behandlung bei Dr. H.-I. war aber anscheinend zum Teil erfolgreich, denn bei der anschließenden Begutachtung bei Dr. J. konnte nur noch eine leichte Episode (F33.0) festgestellt werden. Sofern sich daher der Zustand der Klägerin auf diesem Fachgebiet dauerhaft, also für mehr als sechs Monate, verändert hat, liegt allenfalls eine geringe Verschlechterung vor. Außerdem sind behinderungsrechtlich nicht die Diagnosen, sondern die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen zu bewerten. Vor diesem Hintergrund sind entweder die psychiatrische Erkrankung weiterhin mit einem GdB von 30 und die Beeinträchtigungen an der LWS mit einem solchen von 20 zu bewerten oder es kann - dem Vorschlag Dr. J.s folgend - der GdB auf psychiatrischem Gebiet mit 40 angenommen werden, dieser würde sich dann aber wegen der Wirbelsäulenbeeinträchtigungen nicht mehr erhöhen (Teil A Nr. 3 lit. d Doppelbuchstabe ee VG). Denn bei der Bewertung der psychischen Erkrankung der Klägerin stehen somatische Einbußen im Vordergrund. Dr. J. hat insoweit eine Somatisie-rungs¬störung diagnostiziert. Sie hat darauf hingewiesen, dass die Klägerin insbesondere unter den Schmerzen, dem Schwindel und der Übelkeit leide. Damit ist die physische Leidensdimension ausgeprägt. Die psychische und auch die soziale Dimension sind weniger betroffen. Die Klägerin war bei der Begutachtung im Kontakt klagsam und erschien "mäßig depressiv". Weitere Depressivitätssymptome lagen nicht vor: der Antrieb war ausgeglichen, die Schwingungsfähigkeit erhalten, es gab keine Hinweise auf paranoide Vorstellungen, die mnestischen Fähigkeiten (z. B. Konzentrationsvermögen) waren intakt. Dr. J. hat auch auf einen sekundären Krankheitsgewinn hingewiesen. Die Teilhabe der Klägerin am allgemeinen Leben (soziale Dimension) ist zwar eingeschränkt, aber nur leicht: Der Tagesablauf ist intakt (Aufstehen morgens, ggfs. selbst frühstücken, Haushaltsführung intakt, Essen bei der Tochter, abends lesen und fernsehen, Schlafen ab 21.00 Uhr). Ferner sieht die Klägerin täglich ihre Tochter und die Enkel, bei denen sie zu Mittag ist und mit denen sie Spaziergänge unternimmt. Die anderen Söhne kommen regelmäßig zu Besuch. Auch Kontakt zu einem Bruder, der in Deutschland lebt, scheint zu bestehen. Ferner war die Klägerin noch im Jahr vor der Begutachtung bei ihrer restlichen Familie in Sizilien zum Urlaub. Nach diesem Eindruck besteht eine starke Überlappung der psychischen und somatischen Beschwerden. Deswegen dürfte auch Dr. J. in ihrer Gesamtbetrachtung, in der sie auch die Beeinträchtigungen an der Wirbelsäule einbezogen hat, von einem GdB von - nur - 40 ausgegangen sein, also von einer Erhöhung auf 50 wegen der zusätzlichen Beschwerden abgesehen haben.
Verschlechterungen auf anderen Fachgebieten hat die Klägerin zwar in ihrer Berufungsschrift behauptet, aber diesen Vortrag auch auf die ausdrückliche Anfrage des Senats vom 05.11.2013 nicht konkretisiert. Nachdem danach auch weder aus dem Arztbrief von Dr. H.-I. noch aus dem Gutachten von Dr. J. neue oder verschlimmerte Diagnosen auf anderen als psychiatrischen Fachgebieten hervorgegangen sind, wäre eine weitere Beweiserhebung "ins Blaue" gegangen, weswegen der Senat von ihr abgesehen hat.
4. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.
5. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht vorgetragen oder ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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