S 7 AS 2372/10

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Magdeburg (SAN)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 7 AS 2372/10
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Rücknahme- und Erstattungsbescheide vom 8. Dezember 2009 und vom 9. Dezember 2009 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 9. Juli 2010 werden aufgehoben. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger.

Tatbestand:

Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Rücknahme der bewilligten SGB II - Leistungen für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis zum 31. Dezember 2008 sowie die Erstattung gezahlter Leistungen in Höhe von insgesamt 16.360,21 EUR.

Die Kläger zu 2) und 3) sind miteinander verheiratet, die Klägerin zu 1) ist die Pflegetochter der Klägerin zu 3). Die Klägerin zu 1), die am ... geboren wurde und im streitigen Zeitraum noch minderjährig war, ist Vollwaise und erhielt ab dem 1. Januar 2005 eine Waisenrente, die an das Jugendamt des Landkreises B. weitergeleitet wurde. Für die Klägerin zu 1) wurde Pflegegeld an die Klägerin zu 3) gezahlt.

Am 21. September 2004 beantragte die Klägerin zu 3) für sich, für die Klägerin zu 1) sowie für den ebenfalls zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden ...-jährigen Sohn S. St. (geb ...) Leistungen nach dem SGB II. Nach den Aussagen der Klägerin zu 3) hat sie bei der Beantragung von SGB II – Leistungen gegenüber dem Mitarbeiter der Agentur für Arbeit, der den Antrag mit der Klägerin zusammen ausgefüllt hat, angegeben, dass es sich bei der Klägerin zu 1) um das Pflegekind der Klägerin zu 3) handelt und sie hierfür Pflegegeld erhält. Der Mitarbeiter der Agentur für Arbeit soll die Aussage getroffen haben, Pflegegeld würde nicht auf SGB II – Leistungen angerechnet. Dementsprechend wurden die Unterlagen zum Pflegegeld, die die Klägerin zu 3) bei der Antragstellung mitgeführt hatte, nicht zur Verwaltungsakte der Beklagten genommen. Was konkret in dem Termin zur Abgabe des Antrages mit dem Mitarbeiter der Agentur für Arbeit besprochen wurde, geht aus der Verwaltungsakte der Beklagten nicht hervor. Unter der Ziffer IX. 2. – sonstige Ansprüche – enthielt der Antragsvordruck folgenden Text:

"Haben sie oder die mit ihnen im Haushalt lebenden Personen andere Leistungen beantragt oder beabsichtigen sie einen entsprechenden Antrag zu stellen? Anzugeben sind insbesondere alle Rentenarten, Ausgleichzahlungen des ehemaligen Arbeitgebers, Kindergeld, Kinderzuschlag nach § 6a Bundeskindergeldgesetz, Wohngeld, Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII."

Für sich hat die Klägerin zu 3) Arbeitslosenhilfe, Kindergeld und Unterhaltsgeld, für den Sohn S. Unterhaltsgeld angegeben. Ansonsten ist das Kreuz bei "Nein" gesetzt.

Seit dem 12. März 2005 gehörte auch der Kläger zu 2), der zuvor in der Ukraine gelebt hat, zu der Bedarfsgemeinschaft. Für sämtliche Kläger hatte die Beklagte ab dem 1. Januar 2005 bzw. ab dem 12. März 2005 Leistungen nach dem SGB II bewilligt. Angerechnet wurde gezahlter Unterhalt (des früheren Ehemannes der Klägerin zu 3)) und das gezahlte Kindergeld.

Mit Schreiben vom 14. Juli 2006 teilte die Krankenkasse numIKK der Beklagten Folgendes mit: "Berechtigungs-, Stornierungs-, Änderungsmeldung für Bezieher von Arbeitslosengeld II, hier N., A., ... Folgender Grund ist für diese Meldung maßgeblich: Oben Genannte ist eigenständiges Mitglied unserer Krankenkasse als Rentenbezieherin. Es müsse eine Stornierungsmeldung für sie (= die Klägerin zu 1)) zum 25. Januar 2006 erfolgen". Erst auf die 1. Erinnerung vom 16. August 2006 reagierte die Beklagte und nahm die Klägerin zu 1) bei der Meldung zur gesetzlichen Krankenversicherung wegen Bezugs von Arbeitslosengeld II aus ihrem System heraus. Weiteres veranlasste sie nicht. Den Klägern wurden in den Folgezeiträumen auf die jeweiligen Weiterbewilligungsanträge weiterhin Leistungen nach dem SGB II von der Beklagten gezahlt.

In dem am 24. April 2008 übersandten Weiterbewilligungsantrag wird in der beigefügten Einkommenserklärung unter einer Vielzahl anderer Einkommensarten unter der Ziffer 1f unter anderem Folgendes abgefragt: "Beziehen sie bzw. bezieht oben genannte Person sonstige laufende Einnahmen, z. B. Elterngeld, Pflegegeld, Trinkgelder?" Diese Frage kreuzte die Klägerin zu 3) – bis auf die Fragen zur Erzielung von Einkommen aus einer Beschäftigung und den Bezug von Kindergeld mit "Nein" an. In den vorausgehenden Vordrucken waren bis dahin Fragen zum Pflegegeld nicht enthalten. Auch im folgenden Weiterbewilligungsantrag vom 30. Oktober 2008 kreuzte die Klägerin zu 3) dieses Feld mit "Nein" an.

Mit Schreiben vom 3. Juli 2009 teilte die Beklagte der Klägerin zu 1) mit, ihr sei durch einen Datenabgleich mit dem Rentenversicherungsträger der Bezug einer Rente bekannt geworden. Es sei der Rentenbescheid zu übersenden. Daraufhin reichten die Kläger die Rentenanpassungsmitteilungen zum 1. Juli 2009 ein, aus denen sich eine monatliche Rentenzahlung in Höhe von 145,20 EUR für den Bezug einer Waisenrente ergibt. Eine Nachfrage der Beklagten bei der Deutschen Rentenversicherung Bund ergab, dass die Klägerin zu 1) seit dem 1. Januar 2005 Rentenbezieherin ist.

Mit Schreiben vom 28. August 2009 hörte die Beklagte die Klägerin zu 3) zur Überzahlung von insgesamt 7.517,72 EUR an, die von den vier Personen der Bedarfsgemeinschaft zu Unrecht bezogen worden seien. Hierzu teilte die Klägerin zu 3) unter Vorlage einer Bescheinigung der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 9. September 2009 mit, die Rentenzahlung sei bis Ende Februar 2009 an das Jugendamt des Landkreises B. erfolgt. Die Beklagte fragte danach zunächst bei der Klägerin zu 3) zum Bezug von Pflegegeld an (Schreiben vom 18. September 2009). Sodann fragte sie beim Jugendamt des Landkreises B. an, welche Zahlungen seit dem 1. Januar 2005 erfolgt seien (Schreiben vom 9. November 2009). Das Jugendamt bestätigte der Beklagten den Bezug von Pflegegeld ab dem 1. Januar 2005 und fügte Änderungsbescheide ab dem 1. Januar 2006 als Anlage bei. Hiernach betrug das Pflegegeld monatlich 743,50 EUR unter Anrechnung des hälftigen Kindergeldes. Auf der Rückseite des Änderungsbescheides vom 19. Januar 2006 wird unter der Überschrift Hinweis folgender Text wiedergegeben: "1. Zahlungen von dritter Stelle für ihr Pflegegeld (z. B. von den Kindeseltern, von Rentendienstellen oder des Bafög – Amtes) dürfen sie nicht entgegen nehmen. Sollten trotzdem Zahlungen bei ihnen eingehen, sind diese unverzüglich an das Jugendamt weiterzuleiten."

Mit jeweils gesonderten Schreiben vom 10. November 2009 hörte die Beklagte jeden der drei Kläger zur Überzahlung an. Bei der Klägerin zu 3) wurde eine Überzahlung in Höhe von 2.850,34 EUR, beim Kläger zu 2) eine Überzahlung in Höhe von 2.551,71 EUR und bei der Klägerin zu 1) eine Überzahlung in Höhe von 9.336,79 EUR errechnet. Die Kläger zu 2) und 3) wurden nochmals angehört mit Schreiben vom 20. November 2009. Hiernach errechnete die Beklagte beim Kläger zu 2) eine Überzahlung von 3.387,76 EUR und bei der Klägerin zu 3) in Höhe von 3.773,04 EUR.

Gegenüber der Klägerin zu 1) erließ die Beklagte mit Datum 8. Dezember 2009 einen Rücknahme- und Erstattungsbescheid für den Zeitraum 1. Januar 2005 bis 31. Dezember 2008 mit einer Erstattungsforderung in Höhe von 9.199,51 EUR. Gegenüber den Klägern zu 2) und 3) erließ die Beklagte am 9. Dezember 2009 jeweils einen Rücknahme- und Erstattungsbescheid für den Zeitraum 1. Januar 2005 bis 31. Dezember 2008 sowie eines von dem Kläger zu 2) zu erstattenden Betrages in Höhe von 3.387,66 EUR und eines von der Klägerin zu 3) zu erstattenden Betrages in Höhe von 3.371,04 EUR.

Gegen diese drei Bescheide erhob für die Kläger deren Prozessbevollmächtigte Widerspruch (Schreiben vom 5. Januar 2010) und führte nach Einsicht in die Verwaltungsakten wie folgt aus:

"Den Antrag auf Bewilligung von Arbeitslosengeld II hat die Klägerin zu 3) am 21. September 2004 nicht allein ausgefüllt. Es hat ihr ein Berater des Arbeitsamtes zur Seite gestanden, der mit ihr den Antrag ausgefüllt hat. Dieses fand seinerzeit unter der Anschrift in der B. Str. in H. statt. Die Klägerin zu 3) hatte ausdrücklich nachgefragt, ob sie das Pflegegeld für das Kind A. N. mit angeben müsse. Dies ist von dem Berater des Arbeitsamtes verneint worden. Das Pflegegeld ist unter der Ziffer VI. im Antrag als solches auch nicht ausdrücklich benannt worden. Unterhaltszahlungen als solche sind ausdrücklich abgefragt worden. Die Unterhaltsleistungen für ihren Sohn S. St. hat sie auch nebst Urkunde offen gelegt. Hätte der Berater des Arbeitsamtes die Klägerin zu 3) richtig beraten, so hätte sie selbstverständlich das Pflegegeld mit im Antrag aufgeführt. Sofern die Beklagte in dem Bescheid weiter mitteilt, dass ihr erst durch einen automatisierten Datenabgleich mit dem Träger der Rentenversicherung bekannt geworden sei, dass A. N. seit Februar 2005 selbst eine Waisenrente erhalte, so ist dem entgegen zu halten, dass die Beklagte bereits mit Schreiben der numIKK vom 14. Juli 2006, eingegangen am 19. Juli 2006, davon in Kenntnis geworden ist, dass A. N. eigenständiges Mitglied der Krankenkasse als Rentenbezieherin ist. Ihren diesbezüglichen Mitwirkungspflichten ist die Beklagte gegenüber der numIKK erst nach Eingang der ersten Erinnerung vom 16. August 2006 nachgekommen. Bereits am 19. Juli 2006 hätte sie somit in Erfahrung bringen können und müssen, dass es sich bei A. N. um das Pflegegeld die Klägerin zu 3) handelt, genauso wie die Beklagte die Recherche beim automatisierten Datenabgleich geführt hatte. Wenn sie Kenntnis davon hatte, dass A. N. über Renteneinkünfte verfügt, wäre die nächste Frage gewesen, wer diese Rente bezieht. Die Antwort hierauf wäre, dass die Rente vom Jugendamt bezogen wird und die Klägerin zu 3) im Gegenzug vom Jugendamt das Pflegegeld für das Kind erhält. Stattdessen lässt die Beklagte diese Mitteilungen der numIKK zwei Jahre und sieben Monate völlig unberücksichtigt und wirft der Klägerin zu 3) vor, sie hätte grob fahrlässig falsche oder unvollständige Angaben gemacht, was zudem nicht der Fall ist, da der eigene Berater der Beklagten die Klägerin zu 3) so falsch beraten hat. Im Antrag der Klägerin zu 3) auf Fortzahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II, bei der Beklagten am 11. Oktober 2007 eingegangen, sind mit grünem Kugelschreiber Bearbeitungsvermerke des Amtes angebracht. Unter der Ziffer 6 ist angekreuzt, dass die Familienangehörigen über Einkommen verfügen. Mit grünem Kuli ist neben dem angekreuzten "Ja" – Kästchen vermerkt: "ist bekannt". Es wird unterstellt, dass hier der Rentenbezug von A. N. mit erfasst ist. Für eine gegenteilige Auffassung wäre das Amt beweispflichtig. Unter Beachtung vorstehender Darlegungen ist § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X somit nicht einschlägig. Die Klägerin zu 3) hat weder vorsätzlich noch grob fahrlässig falsche Angaben gemacht."

Wegen des weiteren Vorbringens wird auf den Inhalt der Schreiben vom 21. Januar 2010, Blatt 850 bis Blatt 858 der Verwaltungsakte, verwiesen.

Mit drei Widerspruchsbescheiden vom 9. Juli 2010 wies die Beklagte die Widersprüche zurück. Zur Begründung führte sie hierbei unter anderem aus:

"Im Erstantrag auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II vom 21. September 2004 hat die Pflegemutter das Pflegegeld nicht als Einkommen angegeben (weder unter Punkt IV: "Einkommensverhältnisse des Antragstellers/der Antragstellerin und der im Haushalt lebenden weiteren Personen" noch im Zusatzblatt 2 "Einkommenserklärung"). Dass hierbei das Pflegegeld nicht explizit in den Antragsformularen angegeben wurde, wie von der Prozessbevollmächtigten angeführt, kann nicht ausschlaggebend sein. Denn es ist nicht möglich, jede denkbare Einkommensart zu benennen, nur um sicher zu gehen, dass der Antragsteller auch jede benennt. Vielmehr geht aus den Antragsformularen hervor, dass grundsätzlich alle Einnahmen anzugeben sind, daher auch die beispielhaften Aufzählungen und der Verweis auf noch sonstige laufende oder einmalige Einnahmen. Vom Antragsteller sind daher erst einmal alle Einnahmen anzugeben. Welche hiervon später als Einkommen im Rahmen der Berechnung von Arbeitslosengeld II Berücksichtigung finden, wird vom Jobcenter entschieden. Der Vortrag, dass ein Mitarbeiter der Arbeitsagentur die Aussage getroffen hätte, dass das Pflegegeld nicht anzugeben wäre, kann von hier aus nicht beurteilt werden. Ein entsprechender Hinweis findet sich in der Akte jedoch nicht. Zudem wurde auch der Name des Mitarbeiters nicht benannt, so dass eine Überprüfung der Behauptung nicht vorgenommen werden konnte. Der mit dem Weiterbewilligungsantrag vom 24. April 2008 versandte Einkommensbogen (Anlage EK) enthielt erstmals auch die explizite Nachfrage nach dem Einkommen Pflegegeld unter Punkt 1f. Hier hat die Pflegemutter angekreuzt, über kein solches Einkommen zu verfügen. Dasselbe gilt auch für den Antrag vom 30. Oktober 2008. Auch wenn sie der Ansicht war, Pflegegeld sei nicht anzurechnen, hätte jedoch die Frage im Antragsformular erstens wahrheitsgemäß mit "Ja" beantwortet werden müssen und zweitens bei ihr das Bewusstsein dafür wecken müssen, dass dies doch von Belang sein muss, da ansonsten nicht explizit nachgefragt würde. Zudem muss sie sich auch vorwerfen lassen, dass sie unter Punkt III. des Erstantrages "persönliche Verhältnisse der mit dem Antragsteller/der Antragstellerin in einem Haushalt lebenden weiteren Personen" im Unterpunkt: "Verwandtschaftsverhältnis zum Antragsteller/Partner(in)" die Widerspruchsführerin als ihr "Kind" und nicht als "Pflegekind" bezeichnet hat. Wenn sie so aufmerksam war und nach der Anrechnung des Pflegegeldes nachgefragt hat, weil ihr bewusst war, dass hier eine andere Situation vorliegt als bei einem leiblichen Kind, dann hätte sie konsequenterweise auch sehr aufmerksam sein müssen, die Widerspruchsführerin eben als "Pflegekind" und nicht als "Kind" anzugeben."

Wegen des weiteren Vorbringens der Beklagten wird auf den Inhalt der drei Widerspruchsbescheide verwiesen.

Gegen die drei Widerspruchsbescheide haben die Kläger am 29. Juli 2010 jeweils Klage beim Sozialgericht Magdeburg erhoben. Diese sind mit Beschluss vom 15. Februar 2011 miteinander verbunden worden. Zur Begründung der Klagen führen die Kläger - ergänzend zum Vorbringen in den Widerspruchsverfahren - Folgendes aus:

"Der Einjahreszeitraum des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X beginnt mit "Kenntnis der Tatsachen, welche die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigten. In diesem Sinne sind zunächst Tatsachen zur Rechtfertigung der rückwirkenden Rücknahme jedenfalls alle tatsächlichen Umstände, die nach Maßgabe des § 45 SGB X zur tatbestandlichen Prüfung der Aufhebbarkeit des begünstigenden Verwaltungsaktes erforderlich sind. Der Beklagten ist vorliegend vorzuhalten, dass sie aufgrund der Mitteilungen der Krankenkasse numIKK überhaupt keine Ermittlungen angestellt hat. Sie kann sich somit nicht darauf berufen, dass ihr die erforderlichen Tatsachen für die Aufhebbarkeit des Verwaltungsaktes erst nach Abschluss der gebotenen Ermittlungen zur Einsichtsfähigkeit vorliegen können. Die Beklagte hätte den Hinweisen der numIKK nachgehen müssen. Aus Hinweisen Dritter auf Tatsachen, die die rückwirkende Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes rechtfertigen, folgt eine den Beginn der Jahresfrist für die Aufhebung bestimmende Kenntnis, wenn die Behörde von der Richtigkeit und Vollständigkeit der Information überzeugt ist und diese einen Sicherheitsgrad erreicht hat, der vernünftige, objektiv gerechtfertigte Zweifel schweigen lässt. Die maßgebliche Jahresfrist ist vorliegend von der Beklagten versäumt worden."

Wegen des weiteren Vorbringens wird auf den Inhalt der Klageschriften vom 20. Juli 2010 Bezug genommen.

Die Kläger beantragen,

die Rücknahme- und Erstattungsbescheide vom 8. Dezember 2009 und vom 9. Dezember 2009 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 9. Juli 2010 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klagen abzuweisen.

Sie trägt, ergänzend zu den Ausführungen in den Widerspruchsbescheiden, weiter vor:

"Von der Beklagtenseite wird nicht bestritten, dass auf einem Schreiben der numIKK vom 14. Juli 2006 vermerkt war, dass die Klägerin dort als Rentenbezieherin ein eigenständiges Mitglied ist. Aus diesem Schreiben ergibt sich jedoch weder die Art der Rente noch das die Klägerin ein Pflegekind war und für sie Pflegegeld gezahlt wurde. Da zu diesem Zeitpunkt somit keine "Kenntnis aller Tatsachen" vorliegt, kann auch die Jahresfrist noch nicht begonnen haben.

Im Juli bzw. August 2009 erlangte das Jobcenter erstmals Kenntnis über die Höhe der Waisenrente. Im Rahmen des Anhörungsverfahrens wegen der Anrechnung der Rente ergab sich, dass die Klägerin als Pflegekind in der Familie lebt. Daraufhin erfolgte eine nochmalige Anhörung der Kläger. Auf diese Anhörungen erfolgte keine Rückantwort. Da folglich nicht vor November 2009 von der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachen ausgegangen werden kann, liegt nach Ansicht der Beklagten keine Verletzung der Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X vor. Hinsichtlich des beanstandeten Ermessensnichtgebrauchs verweist die Beklagte erneut auf § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II i. V. m. § 330 Abs. 2 SGB III, wonach bei vorliegende Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X die Bewilligung auch für die Vergangenheit aufzuheben ist. Der Gesetzgeber hat der Beklagten gar keine Möglichkeit für ein Ermessen eingeräumt, welches sie ausüben könnte."

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der von ihnen eingereichten Schriftsätze Bezug genommen. Die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung der Kammer gewesen. Auch auf ihren Inhalt wird verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässigen Klagen sind begründet.

Die Kläger werden durch die Rücknahme- und Erstattungsbescheide vom 8. Dezember 2009 und vom 9. Dezember 2009 beschwert, da sich diese als rechtswidrig erweisen.

Die Beklagte kann die Rücknahme der Bewilligung nicht auf § 45 Abs. 1 und Abs. 2 SGB X i. V. m. § 330 Abs. 2 SGB III i. V. m. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II stützen. Denn die tatbestandlichen Voraussetzungen hierfür liegen nicht vor.

§ 45 Abs. 1 i. V. m. § 45 Abs. 2 SGB X lauten:

Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtwidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit

er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Bedrohung oder Bestechung erwirkt hat,

der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder

er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

Die Rücknahme scheitert nicht, wie die Klägerseite meint, an § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X. Hiernach muss die Behörde die Entscheidung mit Wirkung für die Vergangenheit innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen zurücknehmen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Relevant für die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidungen ist die unterbliebene Anrechnung von Pflegegeldern im Zeitraum 1. Januar 2005 bis zum 31. Dezember 2008. Vom Bezug des Pflegegeldes und der Höhe des bezogenen Pflegegeldes hat die Beklagte erst im Jahr 2009 erfahren. Zuvor hätte sie in Erfahrung bringen können, dass für die Klägerin zu 1) eine Waisenrente von der Deutschen Rechtenversicherung bewilligt worden ist. Da die Waisenrente jedoch vom Jugendamt einbehalten worden ist, führt diese Leistung nicht zur Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidungen. Aufgrund der erst im Jahr 2009 eingetretenen Kenntnis vom Bezug des Pflegegeldes ist die Jahresfrist für die Rücknahme- und Erstattungsbescheide vom 8. Dezember 2009 bzw. vom 9. Dezember 2009 gewahrt.

Die von der Beklagten begünstigenden Bewilligungsentscheidungen sind rechtwidrig gewesen, da die Pflegegelder nicht auf die bewilligten Leistungen nach dem SGB II angerechnet worden sind. Hierbei handelt es sich um anrechenbare Einkünfte im Sinne des § 11 SGB II. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.

Der von der Beklagten erhobene Vorwurf, bei der Beantragung von SGB II – Leistungen im September 2004 sei das gewährte Pflegegeld nicht angegeben worden und somit seien die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X erfüllt, kann ausschließlich gegenüber der Klägerin zu 3) Anwendung finden. Denn weder die Klägerin zu 1) noch der Kläger zu 2) haben die SGB II – Leistungen beantragt noch dürften sie Kenntnis davon gehabt haben, welche Sachverhalte bei der Antragsabgabe im September 2004 zwischen der Klägerin zu 3) und dem Mitarbeiter der Agentur für Arbeit besprochen worden sind. Ein Durchgriff einer grob fahrlässig erfolgten Falschangabe auf die Klägerin zu 1) ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 7. Juli 2011 – B 14 AS 144/10 R) ebenfalls nicht möglich. Hierfür fehlt es bereits an einem Zurechnungszusammenhang bzw. an einer wirksamen Vertretungsregelung (siehe hierzu auch: Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 25. Juli 2012 – L 5 AS 56/10).

Jedoch muss sich auch der Kläger zu 2) ein möglicherweise rechtswidriges Verhalten der Klägerin zu 3) nicht zurechnen lassen. Denn der Kläger zu 2) ist erst seit dem 12. März 2005 aus der Ukraine einreisend Mitglied der Bedarfsgemeinschaft der Kläger geworden. Die Kammer ist davon überzeugt, dass der Kläger zu 2) weder wissen konnte noch wissen musste, welche Rechtsgrundlagen für den Bezug von SGB II – Leistungen galten und ob Pflegegeld hierauf anzurechnen gewesen ist. Über welche Sprachkenntnisse der Kläger zu 2) bezüglich der deutschen Sprache zum Zeitpunkt seiner Einreise nach Deutschland verfügte, konnte aufgrund der Abwesenheit des Klägers zu 2.) in der mündlichen Verhandlung nicht weiter aufgeklärt werden.

Auch der Klägerin zu 3) ist nicht der Vorwurf zu machen, die Bewilligungsentscheidung beruhe auf Angaben, die sie vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Die in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin zu 3) getätigte Aussage, der von dem Mitarbeiter der Agentur für Arbeit entgegen genommene Erstantrag wäre so ausgefüllt worden, wie es seitens des Mitarbeiters der Behörde vorgegeben wurde, hält die Kammer für glaubhaft. Nach der zum 1. Januar 2005 geltenden Rechtslage des SGB II war das Pflegegeld nicht speziell im SGB II erwähnt. Zum Teil wurde es – später - auch in der Rechtsprechung als zweckbestimmte bzw. zu einem anderen Zweck bestimmte Zuwendung im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 der Arbeitslosengeld II – Verordnung angesehen (Leitfaden zum Arbeitslosengeld II, 3 Auflage, Seite 222 mit Rechtsprechungsnachweisen). Von daher ist es nachvollziehbar und glaubhaft, wenn ein Mitarbeiter der Agentur für Arbeit, dem das Rechtsgebiet des SGB II höchstwahrscheinlich noch recht fremd gewesen ist, hier eine unrichtige Aussage bezüglich der Anrechnung von Pflegegeld getätigt hat. Nach Angabe der Klägerin zu 3) hatte sie sämtliche Unterlagen zum Bezug des Pflegegeldes bei der Erstantragstellung mitgebracht und diese auch dem Mitarbeiter der Agentur für Arbeit vorgezeigt. Von daher durfte die Klägerin zu 3) darauf vertrauen, Pflegegeld ist tatsächlich nicht auf die SGB II – Leistungen anzurechnen.

Soweit die Beklagte anmerkt, der Mitarbeiter der Agentur für Arbeit in H. sei von der Klägerin zu 3) nicht benannt worden, so dass der Sachverhalt nicht weiter aufgeklärt werden konnte, so ist der Beklagten vorzuhalten, dass es ihr auf einfachem Wege möglich gewesen wäre, den Namen dieses Mitarbeiters herauszufinden. Denn die erste Antragsaufnahme dürfte nur von einer beschränkten Anzahl von Mitarbeitern erfolgt sein, so dass die Unterschrift unter den Anträgen, die von dem Mitarbeiter der Behörde stammt, leicht hätte zurück verfolgt werden können zu dem Mitarbeiter der Agentur für Arbeit. Es ist Aufgabe der Beklagten, den Sachverhalt umfassend zu ermitteln, auch hinsichtlich aller entlastenden Momente, die die Kläger betreffen. Die Beklagte ist nach Artikel 1 Abs. 3 und Artikel 20 Abs. 3 des Grundgesetzes an Recht und Gesetz gebunden. Hierzu gehört auch die im § 20 SGB X festgelegte Verpflichtung der Behörde, den Sachverhalt vollständig zu ermitteln.

Der Einwurf der Beklagten, die Klägerin zu 3) habe die Klägerin zu 1) als ihr Kind bezeichnet und nicht als Pflegekind, greift vorliegend nicht. Die Klägerin zu 3) wird die Klägerin zu 1) so aufgenommen haben wie ein eigenes Kind. Insofern ist die Bezeichnung der Klägerin zu 1) als Kind umgangssprachlich normal. Zudem hätte dem Mitarbeiter der Agentur für Arbeit auffallen müssen, dass der Sohn der Klägerin S. St. am ... geboren ist und das Pflegekind A. N. am ... Sowohl die unterschiedlichen Nachnamen als auch zwei Geburten, die nur drei Monate auseinander liegen, hätten bei der Beklagten zu der Erkenntnis führen müssen, dass hier ein Fehler bei der Bezeichnung "Kind" vorliegen muss. Alles, was die Beklagte der Klägerin zu 3) vorwirft, könnte sie eben so gut gegen sich selbst verwenden.

Auch die ab April 2008 verwandten neuen Vordrucke zu den Fortzahlungsanträgen, in denen das Pflegegeld unter "sonstige Einnahmen" benannt wurde, führt nicht dazu, dass die Klägerin zu 3) grob fahrlässig oder vorsätzlich hier falsche Angaben gemacht hat. Die Kammer hält es für glaubhaft, dass aufgrund der Vielzahl der halbjährlich zu stellenden Fortzahlungsanträge es der Klägerin zu 3) überhaupt nicht aufgefallen ist, dass nunmehr weitere Sozialleistungen in den Vordrucken abgefragt werden. Wenn eine Behörde neue Vordrucke entwickelt und verwendet, muss der SGB II – Bezieher deutlich auf die Änderungen hingewiesen werden, z. B. durch das persönliche Abfragen dieser Daten durch einen Mitarbeiter der Behörde, durch farblichen oder deutlichen Fettdruck mit Hervorheben dieser Änderungen und/oder durch Aushändigen von Hinweisblättern zusammen mit den geänderten Vordrucken, damit die Änderungen für jeden auf den ersten Blick erkennbar sind. Das schlichte fehlerhafte Ausfüllen/Ankreuzen von Fragen im Vordruck ist noch nicht als grob fahrlässig zu werten.

§ 45 SGB X ist von der Beklagten fehlerhaft angewandt worden. Auf die sonstigen, von der Prozessbevollmächtigten der Kläger hervorgehobenen Versäumnisse der Beklagten braucht hier nicht näher eingegangen werden.

Die Rücknahmeentscheidung war folglich rechtwidrig und damit aufzuheben. Ebenso fehlt es nach § 50 SGB X an einer rechtmäßigen Aufhebungsentscheidung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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