S 42 R 308/09

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
42
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 42 R 308/09
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes
Bemerkung
Die regelmäßige Arbeitsunfähigkeit von einem Tag pro Woche in Folge einer Apheresebehandlung führt zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes.
I. Der Bescheid der Beklagten vom 04.08.2008 und der Widerspruchsbescheid vom 29.01.2009 werden aufgehoben, und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.06.2008 bis 30.05.2011 nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beklagte hat 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Weitergewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Der 1963 geborene Kläger bezieht seit 01.05.1999 von der Beklagten eine Berufsunfähigkeitsrente, aufgrund Bescheides vom 07.12.1999 auf Dauer. Mit Bescheid vom 03.08.1999 bewilligte die Beklagte dem Kläger ab 01.05.1999 eine Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit, die mit Bescheid vom 31.08.2000 bis 31.01.2000 weitergezahlt wurde. In dem nach erfolglosem Durchlaufen des Widerspruchsverfahrens angestrengten und auf unbefristete Rentengewährung gerichteten Klageverfahren vor dem Sozialgericht Dresden (S 12 RJ 158/01), verpflichtete sich die Beklagten im Wege eines gerichtlichen Vergleichs, dem Kläger beginnend ab 01.02.2004 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit bis 31.05.2005 zu bewilligen. Mit Bescheid vom 12.09.2005 gewährte die Beklagte dem Kläger die Rente wegen voller Erwerbsminderung bis 31.05.2008 weiter.

Am 03.03.2008 beantragte der Kläger die Weitergewährung der Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der Antrag wurde mit Bescheid der Beklagten vom 04.08.2008 abgelehnt. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei zwar aufgrund einer funktionellen Störung im Herz-Kreislaufsystem bei koronarer 2-Gefäßerkrankung nach Herzinfarkt sowie zweifach Bypass-Operation 7/1999 mit jetzt normaler Herzpumpfunktion und derzeit ohne Nachweis einer relevanten Herzmuskeldurchblutungsstörung, einer Fettstoffwechselstörung (familiäre Hyperlipidämie) sowie Wirbelsäulenbeschwerden bei degenerativen Veränderungen/Bandscheibenverschleiß, ohne neurologische Ausfälle eingeschränkt. Eine volle Erwerbsminderung liege jedoch nicht vor.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29.01.2009 unter Wiederholung und Präzisierung der Begründung zurück. Der Kläger könne im Ergebnis der medizinischen Sachaufklärung noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten. eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen bzw. eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liege nicht vor. Die Beklagte stützte sich dabei im Wesentlichen auf ein Gutachten von Dr. med. A. auf internistischem Fachgebiet vom 26.05.2008, auf ein Gutachten von Dr. med. S. auf psychiatrischem Fachgebiet vom 29.06.2008 und auf ein Gutachten von Dr. med. D. auf orthopädischem Fachgebiet vom 06.02.2009.

Hiergegen hat der Kläger am 11.02.2004 Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

Das Gericht hat im Rahmen der medizinischen Sachaufklärung Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte Frau Dipl. Med. K. (Allgemeinmedizin)vom 30.07.2009, Dr. med. R. (Orthopädie) vom 29.07.2009 und Prof. Dr. med. J. (innere Medizin) vom 31.07.2009 eingeholt. Mit Beweisanordnung vom 22.09.2009 wurde Dr. med. B. mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens auf orthopädischem Fachgebiet beauftragt, welches am 22.11.2009 erstellt wurde. Darin diagnostiziert der Gutachter beim Kläger - ein chronisches vertebragenes zervikobrachiales Schmerzsyndrom links nach Bandscheibenvorfall C6/7 (2003) und bei deutlicher Osteochondrose mit reaktiver Spondylosis deformans C6/7 - ein rezidivierendes vertebragenes lumbales lokales (zeitweilig auch links pseudoradikuläres) Schmerzsyndrom bei Fehlstatik in Form einer statisch bedingten linkskonvexen lumbalen Skoliose infolge Beinlängendifferenz links - l cm.

Als Nebenbefunde stellte er fest: - leichter Senk- Spreiz- Fuß beidseitig - Zustand nach arthroskopischer Behandlung einer Meniskusläsion links (1988) ohne persistierende Funktionsstörungen. - Zustand nach Verlagerung des Nervus ulnaris rechts 1987 wegen Nervus-ulnaris-Syndrom ohne persistierende Funktionsstörungen.

Als fachfremde Erkrankungen stellte er fest: - Koronare Herzkrankheit (Zustand nach Herzinfarkt, Zustand nach Bypass- Operation). - Familiäre Fettstoffwechselstörung - Neurotische Depression mit Somatisierungsstörung.

Der Kläger sei in der Lage unter den üblichen Bedingungen eines Arbeitsverhältnisses bzw. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch leichte Tätigkeiten auszuüben. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des gesamten Gutachtens (Blatt 66 ff. der Gerichtsakte) verwiesen.

Ebenfalls mit Beweisanordnung vom 22.09.2009 wurde Dr. med. C. mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens auf kardiologischem Fachgebiet beauftragt, welches am 20.05.2010 erstellt wurde. Darin diagnostiziert der Gutachter beim Kläger - eine koronare Zweigefäßerkrankung - einen Z. n. Hinterwandinfarkt 1998 mit PTCA sowie Stentimplantation in die RCA - einen Z. n. Vorderwandinfarkt 1999 sowie - einen Z. n. koronarer Zweifach-Bypassoperation 1999

Als Nebendiagnosen stellte er fest: - Familiäre Hyperlipidämie, wöchentliche Lipidapherese seit 2001 - Neurotische Depression mit Somatisierungsstörungen - Chronisches vertebragenes zerviko-brachiales Schmerzsyndrom links nach Bandscheibenvorfall C6/7 2003 bei deutlicher Osteochondrose und reaktiver Spondylosis deformans C6/7

In Zusammenschau aller Befunde seien leichte Arbeiten für den Kläger uneingeschränkt zu bewältigen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des gesamten Gutachtens (Blatt 104 ff. der Gerichtsakte) verwiesen.

Der Kläger trägt vor, der Umstand der nach der wöchentlichen Apherese hinzutretenden Schwäche sei mit leichter körperlicher Arbeit nicht vereinbar. Die Vermittelbarkeit eines auf Dauer an vier Tagen wöchentlich Arbeitsunfähigen auf eine Stelle des allgemeinen Arbeitsmarktes sei illusorisch.

Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 04.08.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2009 aufzuheben und ihm Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie trägt vor, auch die vom Kläger nach der Apherese (subjektiv) erlebte leichte Schwäche, sei mit einer leichten körperlichen Tätigkeit vereinbar.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der gerichtlichen Verfahrensakte mit den Schriftsätzen nebst Anlagen sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 26.11.2010 verwiesen. Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen und zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist teilweise begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 04.08.2008 und der Widerspruchsbescheid vom 29.01.2009 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger insoweit in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Der Kläger hat einen Anspruch auf Weitergewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.06.2008 bis 31.05.2011 nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI. Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Satz 1 Nr. 1) und die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen Satz 1 Nr. 2 und 3 erfüllen. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert diejenigen Versicherten, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Anspruch auf Gewährung einer vollen Erwerbsminderungsrente haben auch diejenigen Versicherten, die zwar noch mindestens 6 Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein könnten, für die jedoch der Arbeitsmarkt verschlossen ist. Dies kann unter anderem dann der Fall sein, wenn nur unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen gearbeitet werden kann. Insoweit müssen Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit üblichen Bedingungen entsprechen (Kasseler Komm., Stand April 2010, Anm. zu § 43 SGB VI, RdNr. 37 und 39).

Für den Kläger ist nach Überzeugung der Kammer der Arbeitsmarkt verschlossen. Zwar ist der Kläger trotz seiner Erkrankungen grundsätzlich in der Lage leichte körperliche Arbeiten überwiegend im Sitzen, zeitweise im Gehen und Stehen, in Tagschicht, ohne besonderen Zeit- und Leistungsdruck, ohne hohe nervliche Belastung, ohne hohe Anforderungen an die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit, ohne besondere Anforderungen an die sprachliche Kommunikation, ohne größere Temperaturschwankungen und Kälte- und Nässeexposition, ohne Zwangshaltungen, nicht auf Leitern und Gerüsten und ohne Absturzgefahr sowie ohne besondere Anforderungen an Kraft und Geschicklichkeit der linken Hand verrichten.

Die Kammer folgt insoweit den Sachverständigengutachten von Dr. med. B. und Dr. med. C ... Die Gutachten wurden in vollem Umfang, insbesondere hinsichtlich der Befunderhebung, der würdigenden Bewertung der Vorgeschichte und der erhobenen Befunde, sowie der vorgetragenen Beschwerden sorgfältig und sachkundig erstellt und somit für überzeugend befunden. Sie wurden standardgemäß und objektiv unter Auswertung der medizinischen Diagnosen erstellt und weisen keine Logik- oder Denkfehler auf.

Hinzutritt hier jedoch der Umstand, dass der Kläger aufgrund der familiären Hyperlipidämie sich wöchentlich einer Lipidapherese unterziehen muss. Nach den glaubhaften Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 26.11.2010 führt dies dazu, dass der Kläger zumindest am Tag nach der Apherese arbeitsunfähig ist. Der Kläger schilderte insoweit eine allgemeine Abgeschlagenheit mit fieberartigem Gefühl, die es unmöglich mache, einer auch nur leichten Tätigkeit nachzugehen. Diese Einschränkung verliere sich am zweiten Tag nach der Apherese. Dies lässt sich unter Heranziehung des von Prof. Dr. med. J. am 06.03.2003 im Rahmen des vor dem Sozialgericht Dresden geführten Klageverfahrens S 12 RJ 158/01 erstellten Gutachtens weiter objektivieren. Der Gutachter, der gleichzeitig der für die Durchführung der Apherese verantwortliche Arzt des Klägers ist, stellte dabei ebenfalls fest, dass der Kläger am Tag nach der Apherese nicht erwerbsfähig sei. Er stellt insoweit in keiner Weise die vom Kläger geschilderten Beschwerden in Abrede, wenngleich er eine wissenschaftliche Erklärung für sie nicht geben konnte. Hinzutritt, dass die vom Kläger geschilderten Beschwerden durchaus übliche Nebenwirkungen der Apherese sind. So klagten von den Patienten der Lipidambulanz im Interdisziplinären Stoffwechselzentrum des Campus Virchow-Klinikums der Medizinischen Fakultät Charité, Universitätsmedizin Berlin (zum Zeitpunkt der Befragung 36) ca. 20 % regelmäßig und ca. 15 % häufig nach der Behandlung unter Müdigkeit, Abgeschlagenheit und Erschöpfung (vgl. Dissertationsschrift von Dagmar Meike Banisch, Die Lebensqualität von Patienten mit Lipidapherese, 2010, S. 72 f., http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS thesis 000000015179).

Nach der Überzeugung der Kammer ist der Umstand, dass der Kläger in Folge der Apheresebehandlung auf Dauer wöchentlich mindestens einen Tag arbeitsunfähig ist, mit betriebsüblichen Arbeitsbedingungen nicht mehr vereinbar. Zwar ist ein Versicherter, der noch eine Erwerbstätigkeit ausüben kann, nicht schon deshalb erwerbsunfähig, weil er infolge eines wie auch immer verursachten Leidens häufig krankheitshalber nicht arbeitsfähig ist. Anderes kann allerdings dann gelten, wenn der Versicherte so regelmäßig arbeitsunfähig ist, dass die von ihm erbrachten Arbeitsleistungen nicht mehr die Mindestanforderungen erfüllen, welche ein vernünftig und billig denkender Arbeitgeber zu stellen berechtigt ist, so dass eine Einstellung oder Weiterbeschäftigung eines solchen Versicherten praktisch ausgeschlossen ist (vgl. BSG, Urteil v. 21.07.1992, Az.: 4 RA 13/91).

Es erscheint unter heutiger Beurteilung mehr als unwahrscheinlich, dass ein Arbeitgeber in Kenntnis der auf Dauer gegebenen wöchentlich einen Tag umfassenden Arbeitsunfähigkeit des Klägers, diesen unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes einstellen wird. Der Kläger erscheint auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht vermittelbar.

Hinzutritt, dass es in der Bundesrepublik Deutschland in der Regel üblich ist, die anfallende Wochenarbeitszeit auf eine 5-Tage-Woche zu verteilen. Eine leidensgerechte Verweisungstätigkeit, der üblicherweise im Rahmen einer 4-Tage-Woche nachgegangen werden kann, hat die Beklagte nicht benannt und ist für die Kammer auch nicht ersichtlich.

Nach § 102 Abs. 2 SGB VI ist die wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes zu leistende Rente erneut zwingend zu befristen - hier bis 31.05.2011. Für die vom Kläger begehrte unbefristete Rentenleistung fehlt eine gesetzliche Grundlage. Insoweit war die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache. Dem Verhältnis des Unterliegens zu Obsiegen entspricht es, der Beklagten 2/3 der außergerichtlichen Kosten des Klägers aufzuerlegen.
Rechtskraft
Aus
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