L 3 AS 898/14 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 15 AS 343/14 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 AS 898/14 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 17. Februar 2014 aufgehoben.
Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 01. Februar 2014 bis zur Bestandskraft des Bescheids vom 28. Januar 2014, längstens bis zum 31. Juli 2014, vorläufig Arbeitslosengeld II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

2. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Instanzen.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin (Ast.) begehrt im Eilverfahren Leistungen (Arbeitslosengeld II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Beteiligten sind uneins über die Anwendbarkeit von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.

1. Die Ast. ist am 17.04.1991 geboren und griechische Staatsangehörige. Sie ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. 2008 siedelte sie nach Griechenland über, um dort einen Schulabschluss zu erwerben. Danach kehrte sie - spätestens am 16.10.2012 - nach Deutschland zurück. Sie erhielt die Freizügigkeitsbescheinigung für EU-Bürger der Großen Kreisstadt Bruchsal vom 09.11.2012.

Der damals zuständige Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende lehnte einen Antrag der Ast. auf Leistungen nach dem SGB II mit Bescheid vom 05.04.2013 und Widerspruchsbescheid vom 29.04.2013 ab. Die Ast. sei nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungsansprüchen ausgeschlossen, da sie Ausländerin sei und ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland nur zum Zwecke der Arbeitsuche bestehe. Insoweit suchte die Ast. erstmals um Eilrechtsschutz nach. Mit Beschluss vom 13.05.2013 verpflichtete das Sozialgericht Karlsruhe (SG) den damaligen Träger, der Ast. vorläufig und längstens bis zum 31.08.2013, Leistungen nach dem SGB II zu gewähren (S 15 AS 1547/13 ER). Es könne offen bleiben, ob das Aufenthaltsrecht der Ast. allein zum Zwecke der Arbeitssuche bestehe. Jedenfalls sei diese Norm hier nicht anwendbar, da die Ast. in den Schutzbereich des Europäischen Fürsorgeübereinkommens (EFA) aus dem Jahre 1953 falle. Der damalige Antragsgegner führte diesen Beschluss aus. Gleichzeitig erhob er Beschwerde, die das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) mit Beschluss vom 05.06.2013 (L 2 AS 2259/13 ER-B) als unzulässig verwarf.

Zum 01.08.2013 zog die Ast. in den Zuständigkeitsbereich des jetzigen Antragsgegners (Ag.) um und beantragte Arbeitslosengeld II. Dieser hatte ihr zuvor nach § 22 Abs. 4 SGB II eine Zusicherung zur Übernahme der Kosten ihrer neuen Wohnung erteilt. Ferner schloss er mit ihr die Eingliederungsvereinbarung vom 01.08.2013, in der er sich u. a. zur Gewährung von Leistungen zur Eingliederung nach § 16 Abs. 1 SGB II verpflichtete. Passive Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts lehnte er jedoch mit Bescheid vom 08.08.2013 und Widerspruchsbescheid vom 16.08.2013 mit derselben Begründung wie der bisherige Träger ab. Auch insoweit hatte die Ast. im Eilverfahren Erfolg: Das SG verpflichtete den Ag. mit Beschluss vom 22.08.2013 (L 15 AS 2815/13 ER), der Ast. ab dem 01.09.2013, längstens bis zum 31.01.2014, vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von EUR 682,00 monatlich zu gewähren. Diesen Bescheid focht der Ag. nicht an und führte ihn mit Bescheid vom 28.08.2013 und Änderungsbescheid vom 23.11.2013 aus.

2. Am 22.01.2014 beantragte die Ast. erneut Leistungen nach dem SGB II. Diesen Antrag lehnte der Ag. mit Bescheid vom 28.01.2014, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 05.02.2014, ab. Die Ast. sei nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Sie halte sich allein zur Arbeitssuche in Deutschland auf. Sie habe nicht den Status einer Arbeitnehmerin erworben. Sie arbeite im Schnitt lediglich 38,8 Stunden im Monat für einen Stundenlohn von EUR 2,00, sodass sie in den Monaten Oktober bis Dezember 2013 durchschnittlich lediglich EUR 77,67 verdient habe. Sie könne sich auch nicht auf ein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige nach § 2 Abs. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) berufen. Zwar lebe ihr Vater in Deutschland. Zu diesem habe sie jedoch keinen Kontakt. Ein Verstoß der fraglichen Norm gegen Primär- oder Sekundärrecht der Europäischen Union sei nicht ersichtlich. Auch auf das EFA könne sich die Ast. nicht berufen. Zwar falle sie als Griechin in seinen Schutzbereich. Aber auf Grund des von der Bundesregierung am 19.12.2011 gegenüber dem Generalsekretär des Europarats erklärten Vorbehalts, der im Übrigen wirksam sei, seien auch Staatsangehörige von Signatarstaaten vom EFA ausgeschlossen.

Die Ast. suchte am 31.01.2014 erneut um Eilrechtsschutz bei dem SG nach (S 15 AS 343/13 ER). Sie berief sich u. a. auf die Ausführungen des SG in den beiden früheren Beschlüssen. Ferner trug sie unter umfangreicher Begründung vor, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei mit - bestimmt genannten - sekundärrechtlichen Regelungen der EU nicht vereinbar.

Mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 17.02.2014 hat das SG den Antrag der Ast. abgelehnt. Es fehle der nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nötige Anordnungsanspruch. Ein solcher habe nicht glaubhaft gemacht werden können, da er nicht vorliegen könne. Die Ast. halte sich nur zur Arbeitssuche in Deutschland auf. Ihre Tätigkeit bei der Caritas sei nur eine Arbeitsgelegenheit nach § 16d SGB II und begründe daher nicht den Status als Arbeitnehmerin im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Andere Aufenthaltszwecke lägen nicht vor. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, der demnach Ansprüchen der Ast. entgegenstehe, könne nicht europarechtskonform dahin ausgelegt werden, dass er auf EU-Bürger nicht anzuwenden sei. Dies ließen der Wortlaut und die ausdrücklich erklärten Beweggründe des Gesetzgebers schon methodisch nicht zu. Diese Auslegungsgrenzen müssten auch bei einer europarechtskonformen Auslegung beachtet werden. Die fragliche Regelung sei auch verfassungsgemäß. Sie verstoße nicht gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Es liege auch kein Verstoß gegen europäisches Recht vor. Weder seien das Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) nach das Diskriminierungsrecht aus Art. 18 AEUV verletzt. Art. 4 der Verordnung (VO) 883/2004 vom 29.04.2004 sei nicht verletzt, weil diese Norm durch die speziellere Regelung in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie (RL) 2004/38/EG v. 29.04.2004 verdrängt werde und diese einen Leistungsausschluss wie § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zulasse. Auch Art. 1 EFA sei nicht verletzt, da der von der Bundesregierung erklärte Vorbehalt wirksam sei.

Zugleich hat das SG den Antrag der Ast. auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das Eilverfahren abgelehnt.

Gegen diesen Beschluss hat die Ast. am 20.02.2014 Beschwerde zum LSG erhoben, beschränkt auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Sie macht u. a. geltend, die nunmehrigen Ausführungen des SG widersprächen der Rechtsansicht der selben Kammer in den vorherigen Verfahren.

Die Antragstellerin beantragt,

wie erkannt.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten des Ag. sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

II.

1. Die Beschwerde der Ast. ist statthaft (§ 172 Abs. 1 SGG) und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere macht die Ast. keine Ansprüche für die Zeit vor Erhebung des Eilantrags geltend, wofür in der Regel kein Rechtsschutzbedürfnis angenommen werden kann.

2. Die Beschwerde ist auch begründet. Der Ag. war durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, für den laufenden Bewilligungsabschnitt 01.02.2014 bis - längstens - 31.07.2014 vorläufig Arbeitslosengeld II in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Entgegen der Ansicht des SG liegen die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG für den Erlass einer derartigen Regelungsanordnung vor.

a) In einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes betreffend existenzsichernde Leistungen können die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch prüfen. Sie müssen, da sie sich schützend und fördernd vor die (möglichen) Grundrechte der Betroffenen stellen müssen, entweder abschließend prüfen oder aber an Hand einer Folgenabwägung entscheiden (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschl. v. 12.05.2005, 1 BvR 569/05, Juris). An diesem Kammerbeschluss des BVerfG hält der Senat fest. Eine abweichende Rechtslage, wonach generell und ausnahmslos in Eilsachen eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage ausreiche, ergibt sich auch nicht aus dem vom SG zitierten Senatsbeschluss des BVerfG vom 13.04.2010 (1 BvR 216/07, Juris Rn. 64). Dieses Verfahren vor dem BVerfG betraf der Umfang der Lehrverpflichtung eines Hochschullehrers (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) und nicht den bei Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG verankerten Anspruch des Einzelnen auf die Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz.

b) Anders als das SG konnte sich der Senat keine abschließende Meinung über die Sach- und Rechtslage bilden. Es sind zu viele Punkte offen, die nur in einem Hauptsacheverfahren geklärt werden können.

Nicht völlig geklärt ist schon, ob sich die Ast. auch auf andere Aufenthaltszwecke als den der Arbeitssuche stützen kann, auch wenn dem SG zuzugeben ist, dass die gegenwärtige Arbeitsgelegenheit ("1-EUR-Job") auch aus der Sicht des EuGH wahrscheinlich nicht den Status als Arbeitnehmerin begründen kann.

Offen ist aber vor allem, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit europäischem Recht, vor allem mit Art. 4 der Koordinierungs-VO (Verordnung [EG] Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit) vereinbar ist. Zwar hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 16.05.2012 in dem Verfahren L 3 AS 1477/11 selbst einen solchen Verstoß verneint. Jedoch hat das Bundessozialgericht (BSG) dieses Urteil aufgehoben und der dortigen Klägerin - aus Gründen des Einzelfalls - Leistungen nach dem SGB II zugesprochen (Urt. v. 30.01.2013, B 4 AS 54/12 R, Juris, http://www.sozialgerichtsbarkeit.de). Und vor allem hat das BSG jüngst (Beschl. v. 12.12.2013, B 4 AS 9/13 R, http://www.bundessozialge¬richt.de) die Frage nach der Vereinbarkeit der fraglichen Regelung mit der genannten Verordnung und der Unionsbürger-RL (Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten) dem EuGH vorgelegt. Dabei hat das BSG angedeutet, dass es Gleichbehandlungsgebot aus Art. 4 Koordinierungs-VO auf sämtliche beitragsunabhängigen besonderen Geldleistungen für uneingeschränkt anwendbar halte, mit Ausnahme der in Art. 70 Abs. 3 Koordinierungs-VO direkt genannten Leistungen. Damit dürfte das BSG - entgegen der Ansicht des SG in dem hier angegriffenen Beschluss - einen Vorrang von Art. 24 Abs. 2 Unionsbürger-RL eher verneint haben. Offen ist ferner, ob Art. 24 Abs. 2 Unionsbürger-RL einen ausnahmslosen Ausschluss von Sozialleistungen ermöglicht, wovon das SG auszugehen scheint, oder eine Einzelfallprüfung erforderlich ist, bei der - ähnlich wie in dem Lebenssachverhalt, der dem Vorlagebeschluss des BSG zu Grunde lag - der langjährige Aufenthalt - oder ggfs. frühere langjährige Aufenthalte des Unionsbürgers in Deutschland - zu berücksichtigen sein könnte. Angesichts der Divergenz, mit der diese Frage in der gesamten sozialgerichtlichen Rechtsprechung bislang beantwortet wird, kann von einer gefestigten Ansicht nicht ausgegangen werden.

Entgegen der Ansicht des SG ist der Senat auch nicht davon überzeugt, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei selbst bei einem Verstoß gegen die Koordinierungs-VO weiter anzuwenden, weil aus methodischen Gründen kein Raum für eine erweiternde europarechtskonforme Auslegung sei. Es mag richtig sein, dass der EuGH eine mitgliedstaatliche Umsetzungsnorm nicht für nichtig erklären kann. Aber möglicherweise stehen den betroffenen Unionsbürgern dann unmittelbar aus der Verordnung Ansprüche zu.

Als offen muss letztlich die Frage betrachtet werden, ob Art. 1 EFA dem Leistungsausschluss im SGB II entgegensteht und wie insbesondere in diesem Zusammenhang der Vorbehalt der Bundesregierung gegenüber dem Generalsekretär des Europarats vom Diese Frage musste der Senat in dem genannten Urteil vom 16.05.2012 nicht beantworten, nachdem die dortige Klägerin nicht Angehörige eines Signatarstaats war.

c) Aus diesen Erwägungen heraus kann der Senat nur an Hand einer Folgenabwägung entscheiden, die hier zu Gunsten der Ast. ausgeht. Es ist nicht ersichtlich, dass die Nachteile zumutbar wären, die ihr entständen, wenn ihr Eilantrag endgültig abgelehnt würde, ihr aber nach einem Hauptsacheverfahren doch Leistungen nach dem SGB II zuständen. Insbesondere ist nicht geklärt, ob ihr eine Rückkehr nach Griechenland zumutbar wäre. Dies erscheint eher fern liegend, nachdem zumindest ihr Vater in Deutschland lebt und auch die Ast. selbst hier aufgewachsen ist und daher von einer überwiegenden Integration im Inland auszugehen ist.

d) Der Senat sieht keinen Anlass für einen Abschlag von der zuzusprechenden Summe, auch nachdem die Unterkunftskosten der Ast. gering sind. Zeitlich war der zusprechende Tenor wiederum - längstens - auf den laufenden sechsmonatigen Bewilligungsabschnitt zu befristen (§ 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II). Gründe für eine längere Bewilligung (§ 41 Abs. 1 Satz 5 SGB II) sind nicht ersichtlich, nachdem der Ag. bereits Maßnahmen zur Eingliederung der Ast. in den Arbeitsmarkt erbringt und nicht erkennbar ist, dass diese aussichtslos wären.

3. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten der Ast. in beiden Instanzen beruht auf § 193 SGG.

4. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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