L 6 P 826/09

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 6 P 1401/08
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 6 P 826/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 11. Mai 2009 wird als unzulässig verworfen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist im Berufungsverfahren noch ein Anspruch der Klägerin auf Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II in der Zeit vom 1. Februar bis 31. Oktober 2007.

Die 1924 geborene und am 23. Mai 2010 verstorbene Klägerin beantragte über ihren Sohn, den jetzigen Prozessbevollmächtigten, am 15. Februar 2007 bei der Beklagten die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung. Da seitens der Beklagten hierauf keine Reaktion erfolgte, stellte sie am 21. November 2007 einen erneuten Antrag.

Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung T. (MDK). Dieser stellte im Gutachten vom 18. Januar 2008 die Diagnosen Verdacht auf Demenz mit Selbstpflegedefizit, inkomplette Harninkontinenz und Diabetes mellitus. In der Grundpflege stellte er einen täglichen Hilfebedarf von 103 Minuten fest. Mit Bescheid vom 23. Januar 2008 bewilligte die Beklagte der Klägerin daraufhin Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I ab 1. Februar 2007.

Auf den Widerspruch der Klägerin veranlasste die Beklagte eine erneute Begutachtung durch den MDK. Dieser stellte im Gutachten vom 1. April 2008 bei der Klägerin eine mittelschwere Demenz, eine Harninkontinenz, eine Altersgebrechlichkeit mit Gelenkveränderungen sowie einen Diabetes mellitus und daraus resultierend einen Grundpflegebedarf von insgesamt 107 Minuten fest. Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28. April 2008 zurück.

Mit der am 26. Mai 2008 vor dem Sozialgericht Nordhausen (SG) eingegangenen Klage haben die Klägerin sowie ihr Sohn als Bevollmächtigter im Wesentlichen vorgetragen, dass die Feststellungen der Gutachter völlig verfehlt seien, da sich tatsächlich 4 Angehörige weit über vier Stunden täglich um die Klägerin kümmern würden, so dass die Pflegestufe III mehr als gerechtfertigt sei.

Im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens hat sich der Rentenberater P. unter Vorlage einer vom Sohn der Klägerin am 25. Mai 2008 ausgestellten Prozessvollmacht gemeldet und das Verfahren geführt. Mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2008 hat der Sohn der Klägerin dem SG mitgeteilt, dass er "den Prozess ab jetzt größtenteils selber führen" werde, und dass der Schriftverkehr künftig an ihn zu richten sei, da der Prozessbevollmächtigte nicht nach Nordhausen fahren könne. Dieser sei noch Berater und könne seinen Aufwand der Beklagten in Rechnung stellen. Mit weiterem Schriftsatz vom 15. Januar 2009, beim SG am 22. Januar 2009 eingegangen, hat er mitgeteilt, dass er sein Schreiben vom 9. Dezember 2008 klarstellen wolle: Der Prozessbevollmächtigte sei "weiter in der ersten Instanz mein Prozessvertreter", "Gegenargumente" dürfe "er jedoch nur mit meiner Zustimmung abgeben". Er berate ihn weiter und stelle diese Kosten "ebenfalls allein der A. in Rechnung. Ob er noch in den evtl. weiteren Instanzen mein Prozessvertreter" werde, werde später entschieden. Außerdem hat er ausgeführt, dass er dem Schriftsatz der Beklagten vom 12. Dezember 2008 widerspreche und "sollte das Gericht dem und den falschen Begründungen der Gutachterin im Nachtrag folgen, lege ich hiermit schon ohne Prozessvertreter Berufung ein, (‚damit ja keine Frist versäumt wird‘)". Mit E-Mail vom 29. Januar 2009 hat er dem SG mitgeteilt, "am Telefon sagte ich Ihnen heute bereits: Herr P. ist weiter mein Prozessbevollmächtigter".

Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt und ein Sachverständigengutachten bei Dr. M.-H.in Auftrag gegeben. Diese hat in ihrem Gutachten vom 1. August 2008 im Wesentlichen die bereits bekannten Diagnosen gestellt und eingeschätzt, dass die Klägerin einen täglichen Hilfebedarf in der Grundpflege von insgesamt 176 Minuten bereits seit der Erstbegutachtung im Januar 2008 habe. In ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 4. November 2008 hat die Sachverständige ausgeführt, dass bei der Klägerin eine schnellprogrediente Form der Demenz vorliege, so dass es im Februar 2007 noch gerechtfertigt gewesen sei, die Voraussetzungen der Pflegestufe I anzunehmen. Durch die schnelle Zunahme der Demenz lägen jedoch ab November 2007 die Voraussetzungen der Pflegestufe II vor. Daraufhin erklärte sich die Beklagte bereit, der Klägerin ab 1. November 2007 Pflegegeld nach der Pflegestufe II zu zahlen. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem SG vom 11. Mai 2009 hat sie ein entsprechendes Teilanerkenntnis abgegeben. Der Sohn der Klägerin hat das Teilanerkenntnis angenommen und die Klage bezüglich des streitgegenständlichen Zeitraumes aufrechterhalten.

Das SG hat sodann die Klage mit Urteil vom 11. Mai 2009 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass nach dem eingeholten Gutachten der Dr. M.-H. sowie deren ergänzender Stellungnahme davon auszugehen sei, dass bei der Klägerin erst ab November 2007 die Voraussetzungen der Pflegestufe II vorgelegen hätten.

Das Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin P. ausweislich der Postzustellungsurkunde am 28. Juli 2009 zugestellt worden. Mit Schriftsatz vom 12. September 2009, am 17. September 2009 beim LSG eingegangen, hat der Sohn der Klägerin mit ihrer Vollmacht als neuer Prozessbevollmächtigter Berufung eingelegt und "Zahlung des Pflegegeldes Stufe 2 ab dem Antragstag 15.2.07" begehrt. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, die Therapie-Medikamentenumstellung sei nicht wegen einer Verschlechterung erfolgt, sondern aus reinen Kostengründen. Im Übrigen hab die Sachverständige den Umfang des Hilfebedarfs falsch ermittelt. Nach Verkündung der erstinstanzlichen Entscheidung habe er sich zu Wort gemeldet und gesagt: "Hiermit lege ich Berufung ein". Der erstinstanzliche Prozessbevollmächtigte P. habe ihm das Urteil des SG mit Schreiben vom 9. September 2009 übersandt. Da dieser an der Verhandlung nicht teilgenommen habe, hätte das SG das Urteil nicht dem Prozessbevollmächtigten, sondern ihm zusenden müssen.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 11. Mai 2009 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 23. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. April 2008 sowie des Teilanerkenntnisses vom 11. Mai 2009 zu verurteilen, den Erben der Klägerin im Zeitraum vom 1. Februar 2007 bis zum 23. Mai 2010 Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe III zu gewähren.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat sich bislang im Laufe des Berufungsverfahrens noch nicht zum Verfahren geäußert.

Der Senat hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass die Berufung unzulässig sein dürfte, da sie am 17. September 2009 nicht innerhalb der Berufungsfrist und damit nicht fristgemäß eingelegt worden sei.

In ihrer dienstlichen Stellungnahme vom 5. November 2009 hat die Vorsitzende der 6. Kammer des SG Richterin am SG B. ausgeführt, der Sohn der Klägerin habe nach der Urteilsverkündung erklärt, dass er gegen das Urteil Berufung einlegen möchte. Sie habe ihm erklärt, dass es ausreichend sei, wenn er dies nach Erhalt der Ausfertigung des Urteils schriftlich mache. Sie habe deshalb von einer Protokollierung abgesehen.

Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 6. Juni 2013 mitgeteilt, dass die Klägerin am 23. Mai 2010 verstorben sei.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist bereits unzulässig und war deshalb wie geschehen zu verwerfen. Die Klägerin hat die Berufung nicht innerhalb der gesetzlichen Frist eingelegt und ihr ist auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Zulässigkeitsvoraussetzung einer Berufung ist u.a., dass sie, innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle entweder des Landessozialgerichts oder des Sozialgerichts eingelegt wird (vgl. § 151 Abs. 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)).

Das Urteil des SG vom 11. Mai 2009 ist dem erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten am 28. Juli 2009 mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden. Diese Zustellung ist auch wirksam erfolgt. Das SG musste das Urteil nach § 73 Abs. 6 Satz 6 SGG dem erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten zustellen, da der Sohn und Bevollmächtigte der Klägerin die von ihm am 25. Mai 2006 erteilte Prozessvollmacht vor der Urteilszustellung nicht wirksam widerrufen hat. Zwar hat der Sohn und Bevollmächtigte der Klägerin dem SG mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2008 zunächst mitgeteilt, dass er "den Prozess ab jetzt größtenteils selber führen" werde und der Prozessbevollmächtigte noch Berater sei. Dies hat er jedoch mit weiterem Schriftsatz vom 15. Januar 2009 sowie mit E-Mail vom 29. Januar 2009 klargestellt: Der Prozessbevollmächtigte sei weiter in der ersten Instanz sein "Prozessvertreter" und er habe dem SG bereits am Telefon gesagt: "Herr P. ist weiter mein Prozessbevollmächtigter". Der Prozessbevollmächtigte P. war also zum Zeitpunkt der Zustellung des angefochtenen Urteils am 28. Juli 2009 noch Prozessbevollmächtigter der Klägerin.

Die Prozessvollmacht war auch nicht nach § 73 Abs. 6 Satz 7 SGG i.V.m. § 83 der Zivilprozessordnung (ZPO) wirksam dergestalt beschränkt, dass keine Zustellungen mehr an ihn hätten vorgenommen werden dürfen. Eine Beschränkung der Prozessvollmacht nach § 83 Abs. 1 ZPO scheidet bereits deshalb aus, da diese Vorschrift nur für den Anwaltsprozess gilt (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, 10. Auflage 2012, Rdnr. 71 zu § 73 m.w.N.). Die Klägerin bzw. deren Sohn und Bevollmächtigter hat die Prozessvollmacht aber auch nicht nach § 83 Abs. 2 ZPO wirksam beschränkt. Nach dieser Vorschrift kann, soweit eine Vertretung durch Anwälte - wie hier im erstinstanzlichen Verfahren vor dem SG - nicht geboten ist, eine Vollmacht für einzelne Prozesshandlungen erteilt werden. Im vorliegenden Fall geht der Senat jedoch nicht davon aus, dass der Sohn und Bevollmächtigte der Klägerin die Prozessvollmacht dergestalt eingeschränkt hat, dass der Prozessbevollmächtigte keine Zustellungen mehr wirksam annehmen durfte. Zwar hat er im Schriftsatz vom 9. Dezember 2008 das SG gebeten, dass der Schriftverkehr künftig an ihn zu richten sei, da der Prozessbevollmächtigte nicht nach Nordhausen fahren könne. Damit war jedoch nach vernünftiger Betrachtung nicht die Zustellung von Entscheidungen gemeint, da zum einen in diesen Fällen gar keine Notwendigkeit zur Fahrt nach Nordhausen bestand und der Sohn und Bevollmächtigte der Klägerin zum anderen im nachfolgenden Schriftsatz vom 15. Januar 2009 wieder klargestellt hat, dass Rentenberater P. in der 1. Instanz weiter Prozessbevollmächtigter sei und lediglich Gegenargumente nur mit seiner Zustimmung abgeben dürfe. Ungeachtet dessen sind (u.a.) Zustellungen nach § 73 Abs. 6 Satz 6 SGG zwingend an den bestellten Prozessbevollmächtigten zu richten, so dass eine diesbezügliche Beschränkung der Prozessvollmacht rechtlich gar nicht möglich wäre.

Selbst wenn man im vorliegenden Fall von einer mehrfachen Prozessbevollmächtigung i.S.d. § 84 ZPO ausgeht und auch den Sohn der Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren als Prozessbevollmächtigten ansieht, folgt hieraus für die Wirksamkeit der Zustellung des angefochtenen Urteils an den Prozessbevollmächtigten P. nichts anderes. Bei mehreren Prozessbevollmächtigten ist nämlich die Zustellung an einen Bevollmächtigten ausreichend (vgl. Vollkommer in Zöller, Zivilprozessordnung, Kommentar, 23. Auflage 2002, Rdnr. 1 zu § 84 m.w.N.).

Die Berufung gegen das Urteil vom 11. Mai 2009 ist damit vom Sohn der Klägerin am 17. September 2009 nicht innerhalb der am 28. August 2009 abgelaufenen Monatsfrist des § 151 Abs. 1 und 2 SGG eingelegt worden. Die mit Schriftsatz vom 15. Januar 2009 erklärte vorsorgliche Berufungseinlegung ist unwirksam, da sie vor Erlass des Urteils erfolgte (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., Rdnr. 9 zu § 151). Schließlich hat der Sohn der Klägerin auch nach Verkündung des Urteils am 11. Mai 2009 nicht wirksam Berufung eingelegt. Eine entsprechende Protokollierung in der Sitzungsniederschrift ist nicht erfolgt und eine eventuelle mündliche Berufungseinlegung ist ebenfalls unwirksam.

Der Klägerin ist schließlich auch nicht nach § 67 Abs. 1 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da sie nicht ohne Verschulden verhindert war, die Frist zur Einlegung der Berufung einzuhalten. So folgt zum einen nicht aus der im Anschluss an die Urteilsverkündung unterbliebenen Protokollierung der vom Sohn der Klägerin geäußerten Absicht, Berufung einlegen zu wollen, ein genügender Entschuldigungsgrund. Ausweislich der dienstlichen Erklärung der Vorsitzenden der 6. Kammer des SG hat der Sohn der Klägerin nach dem Vorschlag, nach Erhalt der Ausfertigung des Urteils schriftlich Berufung einzulegen, weil dies die Möglichkeit biete, sich mit den schriftlichen Urteilsgründen in der Berufungsbegründung auseinander zu setzen, nicht darauf bestanden, dass er trotzdem auf einer Berufungseinlegung und entsprechenden Protokollierung besteht. Etwas anderes hat auch der Sohn der Klägerin nicht geltend gemacht. Er hat damit nicht unter Zwang, sondern freiwillig auf die sofortige frist- und formgerechte Einlegung der Berufung verzichtet. Zum anderen folgt ein genügender Entschuldigungsgrund auch nicht aus der verspäteten Übersendung des zugestellten Urteils durch den erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten. Selbst wenn dies einem Missverständnis zwischen dem Prozessbevollmächtigten und dem Sohn der Klägerin geschuldet gewesen sein sollte, wer von beiden denn Berufung einlegen soll, so führt dies nicht zu einem die Wiedereinsetzung rechtfertigenden Entschuldigungsgrund, sondern ist vielmehr ein interner Organisationsmangel im Verhältnis Klägerin zu ihren Bevollmächtigten. Das Versäumnis des Prozessbevollmächtigten, für eine rechtzeitige Weiterleitung des Urteils an den Sohn der Klägerin zu sorgen, wenn er sich selbst schon nicht für befugt erachtet haben sollte, Berufung einzulegen, ist der Klägerin nach § 85 Abs. 2 ZPO wie eigenes Verschulden zuzurechnen. Eine Widereinsetzung kommt jedenfalls nicht in Betracht.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved