S 18 SO 1/12

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
18
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 18 SO 1/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 22.810,70 EUR nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit 30.12.2011 zu zahlen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 22.810,70 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten in der Hauptsache die Zahlung von 22.810,70 EUR.

Der 1951 geborene A. war bis zum 31.12.2006 bei der Beklagten aufgrund seines SGB II-Bezuges pflichtversichert. Die Pflichtversicherung endete aufgrund der Einstellung der SGB II-Leistungen zum 31.12.2006. Am 02.01.2007 beantragte A. zum einen die Zahlung von Leistungen nach dem SGB XII bei dem Kläger und zum anderen bei der Beklagten seine freiwillige Krankenversicherung. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13.03.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.05.2007 ab. Dagegen erhob A. vor dem Sozialgericht Gießen Klage (S 15 KR 140/07). Gleichzeitig gewährte der Kläger A. Krankenhilfe nach dem SGB XII während des Zeitraums vom 23.03.2007 bis zum 31.12.2008 in Höhe von insgesamt 22.810,70 EUR.

Mit Schreiben vom 17.11.2008 teilte die Beklagte im Rechtsstreit S 15 KR 140/07 folgendes mit: "Sehr geehrte Damen und Herren, unter Berücksichtigung der inzwischen veröffentlichten Urteile des BSG vom 24.06.2008 (Az.: B 12 KR 19/07 R, B 12 KR 29/07, B 12 KR 32/07 R, B 12 KR 1/08 R) wird die Beklagte die von der Klägerin beantragte freiwillige KV ab 01.01.2007 durchführen. Insoweit gibt die Beklagte ein Anerkenntnis ab."

Im Erörterungstermin vom 22.12.2008 des Verfahrens S 15 KR 140/07 erschien der Kläger trotz Anordnung des persönlichen Erscheinens nicht. Daraufhin teilte das Sozialgericht Gießen beiden im vorliegenden Verfahren Beteiligten mit, der Rechtsstreit A. gegen die AOK sei in der Hauptsache nach § 102 Abs. 2 SGG erledigt. Unter dem 09.06.2009 und dem 01.07.2009 forderte der Kläger die Beklagte zur Kostenerstattung für A. auf. Dies verweigerte die Beklagte endgültig mit Schriftsatz vom 17.08.2009.

Dagegen richtet sich die Klage vom 30.12.2011.

Der Kläger vertritt im Ergebnis die Auffassung, das Anerkenntnis der Beklagten vom 17.11.2008 vor dem Sozialgericht Gießen verschaffe ihm einen Kostenerstattungsanspruch für die geleistete Krankenhilfe für den Leistungsbezieher A. Bei dem Anerkenntnis handele es sich um eine materiell-rechtliche Zusicherung der Leistung mit Bindungswirkung. Ergänzend bezieht sich der Kläger im Wesentlichen auf seine Schriftsätze vom 08.05.2012 und 24.09.2012.

Der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, den Kläger 22.810,70 Euro nebst 5% Zinsen im Basiszinssatz seit 30.12.2011 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, die Mitteilung des Gerichts vom 08.04.2009 habe die Wirkung, dass der Bescheid vom 13.03.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.05.2007 bestandskräftig geworden sei.

Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beteiligten sowie die Gerichtsakte S 15 KR 140/07 beigezogen. Wegen des weiteren Sachvortrags der Beteiligten und des Sachverhalts im Einzelnen wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Rechtsweg zu den Sozialgerichten ist für den geltend gemachten Erstattungsanspruch eröffnet. Dieser richtet sich gemäß § 114 SGB X im Grundsatz nach der Rechtswegzuständigkeit des zugrunde liegenden Sozialleistungsanspruchs gegen den erstattungspflichtigen Leistungsträger.

Die Klage ist als echte Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG zulässig, denn es geht um einen Streit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt (vgl. nur BSG, Urteil vom 11.04.2002, B 3 KR 24/01 R).

Der Kläger hat Anspruch auf Ersatz seiner Aufwendungen für die dem Versicherten A. erbrachten Krankenhilfeleistungen (§ 48 SGB XII) nebst Zinsen.

Der Anspruch beruht auf § 104 Abs. 1 SGB X. Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers nicht selbst zur Leistung verpflichtet gewesen wäre, § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X.

Im vorliegenden Fall war die Beklagte vorrangig leistungspflichtig im Sinne des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X.

Die erforderliche Systemsubsidiarität (zum Begriff LPK-SGB X, § 104 Randnr. 10) zwischen Sozialhilfe und Krankenversicherung ist zu bejahen, denn Leistungen der Sozialhilfe sind dem Grundsatz nach gegenüber Leistungen der Krankenversicherung nachrangig (Kasseler Kommentar Sozialversicherung, § 104 SGB X Randnr. 73).

Im vorliegenden Fall hatte der Versicherte A. auch vorrangig einen Anspruch auf Krankenversicherungsschutz gegen die Beklagte. Die Voraussetzungen für die freiwillige Krankenversicherung nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V lagen vor, wie sich nicht zuletzt aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung (Urteile des BSG vom 24.06.2008, B 12 KR 19/07 R, B 12 KR 29/07 R, B 12 KR 32/07 R, B 12 KR 1/08 R) ergibt. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V in der während des hier streitigen Zeitraums vom 23.03.2007 bis zum 31.12.2008 geltenden Fassung konnten der freiwilligen Krankenversicherung Personen beitreten, die als Mitglieder aus der Versicherungspflicht ausgeschieden waren und unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen zumindest zwölf Monate versichert waren. Dabei waren Zeiten, in denen die Versicherung allein deshalb bestanden hat, weil Arbeitslosengeld II zu Unrecht bezogen wurde, nicht zu berücksichtigen (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 2. Halbsatz SGB V). Nach § 188 Abs. 2 SGB V begann die Mitgliedschaft der nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB V Versicherten mit dem Tag nach dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht. Der Beitritt war den Krankenkassen innerhalb von drei Monaten anzuzeigen. Der Versicherte A. hatte seinen Beitritt durch seinen Antrag vom 02.01.2007 schriftlich erklärt (§ 188 Abs. 3 SGB V). Unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht nach § 190 Abs. 12 SGB V war er zudem mindestens 12 Monate versichert. Die Versicherungspflicht folgte aus § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V, denn A. hatte vom 01.01.2005 bis zum 31.12.2006 Leistungen nach dem SGB II bezogen. Die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für diesen Zeitraum wurde auch nicht rückwirkend aufgehoben, sondern durch Bescheid der GIAG vom 27.11.2006 für die Zukunft, nämlich ab dem 01.01.2007. Nach § 190 Abs. 12 SGB V endete die Pflichtmitgliedschaft der Bezieher von Arbeitslosengeld II mit Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung bezogen wurde, hier dem 31.12.2006.

Zwischen A. und der Beklagten war allein streitig, ob die Vorversicherungszeit deshalb nicht erfüllt war, weil A. voll erwerbsgemindert war. Soweit die Beklagte die Auffassung vertrat, die Mitgliedschaft dürfe gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 2. Halbsatz in der seit 01.01.2006 geltenden Fassung, Artikel 2a des Fünften Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und andere Gesetze vom 22.12.2005, BGBl. I, 3676, nicht berücksichtigt werden, da feststehe, dass A. nicht erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II gewesen sei mit der Folge, dass er seither Arbeitslosengeld II zu Unrecht bezogen habe, war diese Auffassung nicht haltbar.

Der Leistungsbezug nach dem SGB II erfolgte nicht zu Unrecht. Rechtsgrund für den Leistungsbezug waren die bestandskräftigen Bewilligungsbescheide der GIAG, die nicht mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben wurden. Der Bezug des Arbeitslosengeldes II war damit zumindest formell rechtmäßig, so dass der Ausschluss der Vorversicherungszeit wegen unrechtmäßigen Leistungsbezugs nach dem SGB II durch die Regelung des § 9 Abs. 1 Nr. 1 2. Halbsatz SGB V auf den Fall der rückwirkenden Aufhebung der Leistungsbewilligung durch den Leistungsträger nach dem SGB II beschränkt ist. Die Beklagte war damit an die bestandskräftige Entscheidung der GIAG als Leistungsträger nach dem SGB II gebunden (BSG, a. a. O.).

Steht damit fest, dass der Bescheid der Beklagten vom 13.07.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.05.2007 rechtswidrig war (vgl. hierzu ausdrücklich BSG, Urteil vom 24.06.2008, B 12 KR 19/07 R), ändert hieran auch nichts die Mitteilung des Gerichts vom 08.04.2009, dass der Rechtsstreit gemäß § 102 Abs. 2 SGG in der Hauptsache erledigt sei.

Rechtlicher Ausgangspunkt ist in diesem Zusammenhang das Schreiben der Beklagten vom 17.11.2008, mit dem sie mitgeteilt hat, sie gebe ein Anerkenntnis ab. Dieses Schreiben ist als Anerkenntnis im Sinne von § 101 Abs. 2 SGG auszulegen. Soweit das Anerkenntnis von A. nicht ausdrücklich angenommen wurde, ist dies unschädlich, da das Anerkenntnis ebenso wie der Vergleich eine Doppelnatur hat. Da neben der prozessualen Natur des Anerkenntnisses somit auch ein isoliertes Anerkenntnis in materiell-rechtlicher Hinsicht abgegeben werden kann, ist bereits infolgedessen der Anspruch inhaltlich nicht mehr zu prüfen (Meyer-Ladewig, SGG, § 101 Randnr. 19). Danach ist ein Anerkenntnis das im Wege einseitiger Erklärung gegebene uneingeschränkte Zugeständnis, dass der mit der Klage geltend gemachte prozessuale Anspruch besteht; der Beklagte gibt danach "ohne Drehen und Wenden" zu, dass sich das Begehren des Klägers aus dem von ihm behaupteten Tatbestand ergibt (BSG, Urteil vom 06.10.2010, B 13 R 16/09 R).

Demgegenüber ist aus dem Nichterscheinen des A. im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 22.12.2008 im Verfahren S 15 KR 140/07 nicht der Schluss zu ziehen, das Anerkenntnis sei vom Kläger A. nicht angenommen worden mit der Folge der Bestandskraft der Bescheide vom 13.03. und 25.05.2007. Denn die Klagerücknahme im materiellen Sinne verstanden erfordert eine Erklärung gegenüber dem Gericht. Diese braucht zwar nicht ausdrücklich zu erfolgen, sondern kann auch stillschweigend durch schlüssiges Verhalten vorgenommen werden. Sie muss aber unmissverständlich (BGHZ 4, 339) bzw. völlig eindeutig und unzweifelhaft sein. An einer eindeutigen unzweifelhaften Klagerücknahme fehlt es - worüber die Beteiligten nicht streiten - im Verfahren S 15 KR 140/07. A. hat eine Rücknahme seiner Klage weder wörtlich noch schriftlich ausdrücklich erklärt. Diese Wirksamkeit einer in der mündlichen Verhandlung protokollierten oder schriftlich erklärten Klagerücknahme entfaltet die Klagerücknahmefiktion gemäß § 102 Abs. 3 SGG nicht. Nach § 102 Abs. 2 SGG ist neben den geschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen als ungeschriebene Voraussetzung das Vorliegen begründeter Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers zu beachten. Alle tatbestandlichen Voraussetzungen sind unter Berücksichtigung des Ausnahmecharakters von § 102 Abs. 2 SGG und damit eng auszulegen. Die dementsprechend gebotene Zurückhaltung bei der Anwendung des § 102 Abs. 2 SGG verdeutlicht den Unterschied zur materiellen Klagerücknahme als Erklärung des Klägers, er verfolge den geltend gemachten prozessualen Anspruch nicht mehr weiter. § 102 Abs. 2 SGG beschleunigt lediglich das Verfahren, weil Kläger und deren Bevollmächtigte angesichts der drohenden Klagerücknahmefiktion eher zu notwendigen Mitwirkungshandlungen angehalten werden können als durch wiederkehrende fruchtlose Erinnerungen. Eine erheblich weitergehende Rechtswirkung kommt demgegenüber der Klagerücknahme zu, die durch einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung erfolgt und eine Prozesshandlung darstellt. Sie ist bedingungsfeindlich, unwiderruflich und nicht anfechtbar. Demgegenüber wird das Verfahren fortgesetzt, wenn sich der Kläger dagegen wendet, dass das Verfahren durch Klagerücknahme beendet sei.

Lediglich ergänzend weist das Gericht zur Klarstellung noch auf Folgendes hin: Ungeachtet der Frage, ob die Bescheide vom 13.07. und 25.05.2007 - wie die Beklagte meint - bestandskräftig geworden sind, oder ob dies - wie das erkennende Gericht meint - nicht der Fall ist, bleibt es bei dem Ergebnis, dass die Klage begründet ist. Denn auch unter der Prämisse, dass die Bescheide bestandskräftig geworden und im Rahmen des Erstattungsstreitverfahrens zwischen Kläger und Beklagter von dem Kläger zu beachten wären, ist es dem in Anspruch genommenen Leistungsträger aufgrund der Pflicht zur engen Zusammenarbeit nach § 86 SGB X dann versagt auf der getroffenen Entscheidung zu beharren, wenn sich diese als offensichtlich fehlerhaft erweist und sich dies zum Nachteil des anderen Leistungsträgers auswirkt. Hierbei ist zu prüfen, ob die getroffene Entscheidung objektiv unter Berücksichtigung der verfügbaren Entscheidungsgrundlagen dem materiellen Recht deutlich widerspricht (BSG, SozR 3-1300 § 86 Nr. 3; BSG, SozR 1300 § 103 Nr. 2 und 3; BSG SozR 3-1300 § 103 Nr. 4). Liegen diese Voraussetzungen vor, so hat der erstattungspflichtige Leistungsträger die Fehlentscheidung im Erstattungsstreit zu korrigieren oder kann sie der Erstattungsforderung nicht entgegenhalten (BSG, SozR 3-1300, § 103 Nr. 4). Offensichtlich ist eine Fehlerhaftigkeit regelmäßig dann, wenn sie sozusagen "auf der Hand" liegt, die Rechtsanwendung des die Leistung bewilligenden oder versagenden Leistungsträgers aufgrund der gegebenen Sach- und Rechtslage mithin offenkundig nicht vertretbar ist. Regelmäßig ist daher - wie hier - bei Streitfragen, die eindeutig durch Rechtsprechung geklärt sind, von einer offensichtlichen Fehlerhaftigkeit auszugehen, wenn der auf Erstattung in Anspruch genommene Leistungsträger gegenüber dem Versicherten anders entscheidet.

Im vorliegenden Fall ist eine Fehlerhaftigkeit des Bescheides vom 13.07.2007 sowie des Widerspruchsbescheides vom 25.05.2007 bereits deshalb anzunehmen, weil die Rechtsanwendung des die Leistung versagenden Leistungsträgers - hier die Beklagte - aufgrund der gegebenen Sach- und Rechtslage offenkundig nicht vertretbar ist. So liegt der Fall im Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG vom 24.06.2008 (B 12 KR 19/07 R ff.) hier.

Schließlich ist auch die Höhe des von dem Kläger geltend gemachten Erstattungsanspruchs nicht zu beanstanden; dieser ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach § 52 Abs. 1 GKG.
Rechtskraft
Aus
Saved