Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 34 KR 858/06
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 60/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. April 2010 aufgehoben und die Klage abgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen. &8195;
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Versorgung und Kostenübernahme für das Medikament Vigil (Wirkstoff Modafinil) im Rahmen des Off-Label-Use zur Behandlung des so genannten fatigue-Syndroms bei dem an Multipler Sklerose (MS) erkrankten Kläger.
Der 1959 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert und leidet seit Jahren unter Multipler Sklerose (MS) verbunden mit dem fatigue-Syndrom, das zu einer ausgeprägtes Müdigkeit führt.
Der Kläger erhielt das nur für die Narkolepsie zugelassene Medikament Vigil mit dem Wirkstoff Modafinil im Rahmen der so genannten HAGIL-Studie am Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf (U.).
Mit Schreiben vom 31. März 2005 beantragte der Hausarzt des Klägers die Kostenübernahme für die Gabe des Medikaments an den Kläger im Rahmen des Off-Label-Use.
Mit Bescheid vom 1. August 2005 lehnte die Beklagte nach Beteiligung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) die Kostenübernahme ab.
Hiergegen legte der Kläger am 11. Oktober 2005 Widerspruch ein unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme der MS-Sprechstunde des U. vom 17. November 2005. In dieser Stellungnahme wurde ausgeführt, dass das fatique-Syndrom eine massive Beeinträchtigung bei MS-Erkrankten darstelle. Es lägen zwar gegenwärtig keine gesicherten Therapie-Konzepte vor, aber es fänden sich mittlerweile drei kontrollierte Studien zur Wirksamkeit von Modafinil. Das Problem der Studien sei die Heterogenität des fatique-Syndroms und die Sensitivität der Messinstrumente. Es könne aber jedenfalls bei einem Teil der Probanden von einer Wirksamkeit ausgegangen werden. Konkret bei dem Kläger sei eine Wirksamkeit eingetreten. Nach Absetzen des Medikaments habe sich sein Zustand verschlechtert. Er habe kaum noch am sozialen Leben teilnehmen können. Suizidphantasien würden den Kläger wöchentlich begleiten.
Die Beklagte holte daraufhin erneut eine Stellungnahme des MDK ein, nach der die Studienlage für einen Off-Label-Use für nicht ausreichend erachtet wurde. Der Kläger werde antidepressiv mit Cipramil behandelt. Es sollten krankengymnastische und ergotherapeutische Maßnahmen durchgeführt werden.
Daraufhin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 4. Oktober 2006 den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Sie führte aus, Modafinil bzw. Vigil habe nicht die Zulassung für das fatique-Syndrom bei MS. Eine Verordnung durch den behandelnden Arzt scheide somit aus. Der MDK habe darauf hingewiesen, dass es eine als Standardtherapie etablierte Methode zur Behandlung des fatique-Syndroms bei MS nicht gäbe. Eine Erweiterung der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung auf Behandlungsmethoden, die sich erst im Stadium der Forschung und der Proben befänden, sei ausgeschlossen. Hieran ändere auch der so genannte Nikolaus-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nichts, da die bei dem Kläger vorliegende Erkrankung nicht lebensbedrohlich sei bzw. regelmäßig tödlich verlaufe.
Der Kläger hat am 20. Oktober 2006 Klage erhoben und unter anderem vorgetragen, dass die Leitlinien der Gesellschaft für MS Erkrankungen Modafinil zur Behandlung des fatique-Syndroms bei an MS Erkrankten empfehle.
Auf Antrag des Klägers hatte das Sozialgericht (SG) die Beklagte zuvor durch Beschluss vom 5. Oktober 2006 (Az.: S 48 KR 725/06 ER) im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, bis zum 31. März 2007 die Kosten für die Behandlung des Klägers mit Vigil gemäß ärztlicher Verordnung zu übernehmen.
Im Laufe des Klagverfahrens hat das SG Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie ein Gutachten des Neurologen Dr. E. vom 30. Oktober 2008 samt ergänzender Stellungnahme vom 17. Dezember 2009 eingeholt. Mit Urteil vom 9. April 2010 gab es der Klage statt und verpflichtete die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide, die Kosten der medizinisch notwendigen Behandlung des Klägers mit Vigil zu tragen. Das SG geht in seinem Urteil davon aus, dass die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use vorliegen. Auch aufgrund der bestehenden Suizidgefahr bestehe eine lebensbedrohliche Erkrankung. Andere Therapiemöglichkeiten stünden dem Kläger nicht zur Verfügung. Aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen Dr. E. und den Ausführungen in einem neurologischen Standardlehrbuch sei davon auszugehen, dass ein Konsens in Fachkreisen hinsichtlich des Einsatzes von Modafinil zur Behandlung des fatique-Syndroms bei an MS Erkrankten bestehe.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 12. Juli 2010 zugestellte Urteil des SG am 2. August 2010 Berufung eingelegt. Zu deren Begründung trägt sie, gestützt auf ein Gutachten des MDK vom 29. Juli 2010, vor, die vom Bundessozialgericht (BSG) aufgestellten Voraussetzungen für einen Off-Lable-Use von Vigil seien nicht erfüllt. Es bestehe auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse keine hinreichend begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Es bestehe auch kein entsprechender Konsens in Fachkreisen. Zudem seien Berichte über massive Nebenwirkungen des Wirkstoffs Modafinil bekannt geworden. Auch die Voraussetzungen für eine grundrechtsorientierte Auslegung nach Maßgabe des Nikolausbeschlusses des BVerfG seien nicht gegeben. Zwar handele es sich bei der Erkrankung des Klägers sicherlich um eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung. Eine regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung im Sinne einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage könne bei der beim Kläger diagnostizierten primär progredienten Verlaufsform der MS nicht erkannt werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. April 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
Beweis zu erheben, dass fatigue im Sinne der Erkrankung nach § 27 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) eine eigenständige Erkrankung ist und damit die Beurteilung der Schwere der Erkrankung sich allein an diesem Krankheitsbild zu orientieren hat, hilfsweise
die Berufung zurückzuweisen und die Revision zuzulassen für den Fall der Zurückweisung.
Er hält die Entscheidung des SG für zutreffend. Die Beklagte habe in der mündlichen Verhandlung vor dem SG eingeräumt, dass hinsichtlich des Einsatzes von Modafinil zur Behandlung des fatique-Syndroms bei an MS Erkrankten in Fachkreisen Konsens bestehe. Damit seien die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use gegeben. Bei der Anwendung der Vorgaben des BVerfG aus dem Nikolausbeschluss sei an das fatique-Syndrom als eigenständige Erkrankung anzuknüpfen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 23. Januar 2014, die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten, den weiteren Inhalt der Prozessakte sowie der beigezogenen Prozessakten S 48 KR 725/06 ER und S 34 KR 387/08 und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist statthaft (§§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben.
Sie hat auch in der Sache Erfolg. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, die Kosten der Versorgung des Klägers mit Vigil zu tragen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Vigil bzw. auf Übernahme der Kosten für dieses Medikament.
Da Vigil unstreitig für den hier in Rede stehenden Anwendungsbereich keine arzneimittelrechtliche Zulassung hat, kann ein Anspruch des Klägers sich nur unter den Voraussetzungen des Off-Lable-Use oder nach den Grundsätzen der grundrechtsorientierten Auslegung ergeben, wie sie in der Entscheidung des BVerfG vom 6. Dezember 2005 (so genannter Nikolausbeschluss) statuiert worden sind. Für keinen dieser Ansätze sind die Voraussetzungen erfüllt.
Beide Ansätze unterscheiden sich dabei insoweit, als die Voraussetzungen des Off-Lable-Use bei der Schwere der vorliegenden Erkrankung weniger restriktiv sind, dafür aber höhere Anforderungen an den Nachweis der Wirksamkeit des Präparates stellen, während die grundrechtsorientierte Auslegung eine regelmäßig in naher Zukunft tödlich verlaufende bzw. diesem gleichwertige Krankheit zur Voraussetzung hat, dafür jedoch im Hinblick auf den Wirknachweis der in Rede stehenden Behandlungsmethode geringe Anforderungen stellt. Diese Unterscheidung ist im erstinstanzlichen Urteil nicht hinreichend getroffen. Es scheint, als stelle das SG im Falle des Klägers hinsichtlich der Schwere der Erkrankung auf die Grundsätze des Off-Lable-Uses ab, hinsichtlich der Erkenntnis der Wirksamkeit hingegen auf die der grundrechtsorientierten Auslegung. Dieses Vorgehen ist nicht zulässig. Vielmehr sind die Voraussetzungen beider Institute eigenständig zu prüfen. Dabei ergibt sich, dass weder die Voraussetzungen des Off-Lable-Uses (dazu unter 1.) noch die der grundrechtsorientierten Auslegung (dazu unter 2.) erfüllt sind.
1. Ein Off-Lable-Use, also der Einsatz eines Medikamentes außerhalb der zugelassenen Indikation, kommt nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG, Urteil vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R) in Betracht, wenn es sich um eine unverzichtbare und erwiesenermaßen wirksame Therapie handelt. Wegen des Vorrangs des Arzneimittelrechts muss dies aber auf Fälle beschränkt bleiben, in denen einerseits ein unabweisbarer und anders nicht zu befriedigender Bedarf an der Arzneitherapie besteht und andererseits die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung hinreichend belegt sind. Die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet kommt deshalb nur in Betracht, wenn es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, (2) keine andere Therapie verfügbar ist und (3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
Dabei kann dahinstehen, ob hier hinsichtlich der ersten Voraussetzung an das fatique-Syndrom oder an die MS Erkrankung als solche anzuknüpfen ist, da zumindest die dritte Voraussetzung nicht vorliegt.
Denn es bestand und erst recht besteht aktuell aufgrund der Datenlage keine hinreichend begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Hierfür genügt es nicht, dass die Behandlung des Klägers im Einzelfall erfolgreich ist. Damit ersteres angenommen werden kann, müssen vielmehr Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Das ist der Fall, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit bei vertretbaren Risiken belegen oder wenn außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG, Urteil vom 19.03.2002, a.a.O.; BSG, Urteil vom 26.09.2006 - B 1 KR 14/06 R). Dabei muss die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse während und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens regelmäßig gleich sein, da es für den Schutz der Patienten gleichgültig ist, ob die erforderlichen Erkenntnisse innerhalb oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnen worden sind (BSG, Urteil vom 26.09.2006, a.a.O.).
Für die Frage der Wirksamkeit des in Vigil wirkenden Modafinils gibt es eine Vielzahl von Studien. Diese Studien sind von unterschiedlicher Qualität und von unterschiedlicher Aussagekraft (vgl. die Aufstellung vom SG Aachen, Urteil vom 11.03.2010 - S 2 KR 7/09, Rn. 20 und die Ausführungen in dem die Berufung begründenden MDK-Gutachten vom 29.07.2010, Bl. 150ff GA und dem MDK-Gutachten vom 19.09.2006, Bl. 51ff VA). Zwar haben vor allem kleinere Studien auch einen positiven Effekt von Modafinil aufgezeigt und offensichtlich wirkt dieser Stoff auch bei dem Kläger positiv dem fatigue-Syndrom entgegen. Auch ergeben sich aus den Studien Anhaltspunkte dafür, dass der Nachweis der Wirkung ggf. möglich wäre, wenn man die Gruppen der Probanden entsprechend klein und spezifisch fasst. Allerdings ließ sich schon bisher aus dieser Studienlage keine Datenlage im oben genannten Sinne ableiten. Dies gilt nach Veröffentlichung der HAGIL-Studie des U. (vgl. Bl. 182ff GA) umso mehr. Auch diese Studie, an der der Kläger selbst teilgenommen hat, hat keinen durchgreifenden Nachweis für eine Wirksamkeit von Modafinil beim fatigue-Syndrom ergeben. Zwar gibt auch diese Studie zu erkennen, dass es Anhaltspunkte für eine Wirksamkeit in bestimmten Patientengruppen gab und dass diesbezüglich ggf. weitere Studien sinnvoll wären. Anhaltspunkte für eine Zulassungsfähigkeit von Vigil für das fatigue-Syndrom ergeben sich jedoch nicht.
Es liegt auch kein Konsens in Fachkreisen im Sinne der Rechtsprechung des BSG vor. Wie die oben stehende Definition deutlich macht, ist es erforderlich, dass dieser Konsens auf zuverlässigen, wissenschaftlich nachprüfbaren Aussagen beruht. Hinsichtlich der Qualität der zugrunde liegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse besteht daher kein wesentlicher Unterschied zwischen der Situation während und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens. Eben solche Erkenntnisse liegen und lagen nicht vor.
Der Prozessbevollmächtigte stützt sich dabei ganz maßgeblich auf eine "Empfehlung der internationalen Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG)". Danach wird die Behandlung mit Modafinil mit der Empfehlungsstärke "B" empfohlen. Dabei soll es sich um eine "Mittlere Empfehlungsstärke aufgrund mittlerer "Evidenz" oder bei schwacher "Evidenz" mit hoher Versorgungsrelevanz oder bei starker "Evidenz" und Einschränkungen der Versorgungsrelevanz" handeln. Bleibt schon diese Definition sehr unbestimmt und wird nicht deutlich, auf welche Erkenntnisgrundlage sich die Empfehlung stützt, so kommt hinzu, dass im Rahmen einer Internetrecherche andere Aussagen zu finden sind. Auf der Seite der "Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft" findet sich zum einen der Link zu einer "Aktuellen Therapieempfehlung (August 2004)" der MSTKG (http://www.dmsg.de/dokumentearchiv/mstkgpaper2004 april 04 endfassung aktuell 29052009.pdf). Dort wird ausgeführt, dass Modafinil "aufgrund erster positiver Berichte" gegen abnorme Tagesmüdigkeit angewandt werde. In der Tabelle 8 wird dann bzgl. Modafinil auf die Studie von Zifko et al. 2002 und von Rammohan et al. 2002 jeweils mit dem Vermerk "Evidenz IV" hingewiesen. Diese Evidenzstufe ist die niedrigste und wird definiert mit "Evidenz aus unkontrollierten Studien, Fallserien, Fallberichten oder Expertenmeinungen". Auf derselben Internetseite findet sich auch ein Bericht vom 25. Februar 2009, der sich ebenfalls mit der Empfehlung der MSTKG befasst (http://www.dmsg.de/multiple-sklerose-news/index.php?anr=835&kategorie=therapien). In diesem wird die Behandlung des fatigue-Syndroms mit Modafinil als "Expertenmeinung" bezeichnet und diese definiert als "Therapie, deren Nutzen durch evidenzbasierte Daten aufgrund fehlender Studien schlecht belegt werden kann, jedoch nach Erfahrungen der Verfasser eindeutig ist". In der "DGN/KKNMS Leitlinie zur Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose (Online-Version, Stand: 09.08.2012)" der "Deutschen Gesellschaft für Neurologie" (http://www.awmf.org/uploads/tx szleitlinien/030-050l S2e Multiple Sklerose Diagnostik Therapie 2012-08.pdf) findet sich schließlich die folgende Passage:
"Modafinil erschien in unkontrollierten Studien erfolgversprechend, wie auch in einer placebokontrollierten Crossover-Studie (Rammohan et al. 2002, Brown et al. 2010). Allerdings konnte in einer doppelblinden, placebokontrollierten, randomisierten Studie mit 115 MS-Patienten nach 5 Wochen zwar eine Verbesserung der Fatigue anhand der "Modified Fatigue Impact Scale" (MFIS) für beide Gruppen gefunden werden, zwischen Placebo und Modafinil ergaben sich aber keine signifikanten Unterschiede (Stankoff et al. 2005). Daher kann ein Therapieversuch im Einzelfall unternommen werden, vor allem, wenn sich eine Aufmerksamkeitsstörung als Ursache der Fatigue nachweisen lässt."
Berücksichtigt man weiter, dass in diesen Aussagen offensichtlich noch nicht das Ergebnis der HAGIL-Studie vom U. eingeflossen ist, liegt es fern, von einem auf zuverlässigen, wissenschaftlich nachprüfbaren Aussagen beruhenden Konsens in Fachkreisen auszugehen.
Bemerkenswert ist insoweit auch, dass Prof. Dr. H. vom U. in seiner Stellungnahme vom 17. November 2005 gegenüber der Beklagten selbst lediglich ausführt, dass "auf jeden Fall eine Wirksamkeit zumindest in einer Teilgruppe nicht ausgeschlossen" werden könne.
An diesem Befund vermag auch das gerichtliche Gutachten von Prof. Dr. E. vom 30. Oktober 2008 nichts zu ändern. Denn auch er bezieht sich im Wesentlichen auf die "Evidenzklasse B"-Empfehlung der MSTKG und den individuellen Erfolg im Fall der Anwendung von Vigil beim Kläger.
2. Ein Anspruch des Klägers auf Versorgung mit dem Modafinil enthaltenden Vigil ergibt sich auch nicht nach den Grundsätzen der grundrechtsorientierten Auslegung.
Erste Voraussetzung für den Anspruch auf Versorgung mit einem für die Indikation nicht zugelassenen Medikament im Rahmen der grundrechtsorientierten Auslegung ist, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt. Denn eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen ist nur gerechtfertigt, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den ggf. gleichzustellenden, akut drohenden und nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten (vgl. BSG, Urteil vom 07.11.2006 - B 1 KR 24/06 R; Urteil vom 27.03.2007 - B 1 KR 17/06 R, Rn. 19ff; Urteil vom 05.05.2009 - B 1 KR 15/08 R, Rn. 12ff mit einer Auszählung der Fälle, in denen das BSG das Vorliegen der Voraussetzungen abgelehnt hat).
Bei dieser Betrachtung hat eine – vom SG maßgeblich mit ins Feld geführte – Suizidalität des Klägers außer Betracht zu bleiben. Denn diese löst nach der Rechtsprechung des BSG – auch, wenn sie in einer hochgradig akuten Form besteht – lediglich eine spezifische Behandlung etwa mit Mitteln der Psychiatrie aus (vgl. BSG, Urteil vom 26.09.2006 - B 1 KR 14/06 R, Rn. 19).
Das BSG hat das Vorliegen der genannten Voraussetzung bei einer MS in sekundär progredienter Verlaufsform trotz der unbestreitbaren Schwere dieser Krankheit als nicht gegeben angesehen und dies damit begründet, dass statistisch gesehen eine MS-Erkrankung dieser Form nicht unmittelbar zum Tod führt (vgl. BSG, Urteil vom 27.03.2007 - B 1 KR 17/06 R, Rn. 23, das BVerfG hat die hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, vgl. Nichtannahmebeschluss vom 30.06.2008 – 1 BvR 1665/07; vgl. auch BSG, Urteil vom 28.02.2008 - B 1 KR 15/07 R, Rn. 29ff ebenfalls zur sekundär progredienten MS).
Der Kläger leidet an der primär progredienten Form der MS. Der Unterschied zur der sekundär progredienten Form liegt darin, dass bei letzterer zusätzlich zu der kontinuierlichen Verschlimmerung der Erkrankung Schübe auftreten. Dieser Umstand rechtfertigt keine anderweitige Beurteilung der Erkrankung, als sie vom BSG vorgenommen wurde. Wie sich aus den im Berufungsverfahren eingeholten Aussagen der behandelnden Ärzte ergibt (vgl. Bericht von Prof. Dr. H. vom 18. Oktober 2011, Befundbericht von Dr. S. vom 20. Januar 2014 und Befundbericht von Dr. S1 vom 22. Januar 2014), ist auch aktuell eine unmittelbare Todesgefahr für den Kläger nicht gegeben.
Es ergibt sich auch keine andere Beurteilung, wenn man hinsichtlich der zugrunde zulegenden Erkrankung nicht auf die MS Erkrankung, sondern auf das fatique-Syndrom abstellt. Aus diesem Grund musste das Gericht auch nicht dem Beweisantrag des Klägers nachgehen, bei dem es sich zudem tatsächlich allenfalls um eine Beweisanregung gehandelt hat, da noch nicht einmal das betreffende Beweismittel angegeben worden ist (vgl. dazu Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10.Aufl., § 160 Rn. 18a mwN).
Es steht außer Frage, dass die Auswirkungen des fatique-Syndroms das Leben des Klägers stark beeinträchtigen. Das fatique-Syndrom führt jedoch nicht zum Tod und kann einer solchen Situation im Sinne eines akut drohenden und nicht kompensierbaren Verlustes eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion auch nicht gleichgestellt werden. Wie sich aus den oben zitierten Entscheidungen des BSG ergibt, ist hier ein strenger Maßstab anzulegen. So hat das BSG beispielsweise bei einem Fall des Restless-Legs-Syndroms in einer schweren Form mit ausgeprägter Unruhe und massiven Ein- und Durchschlafstörungen das Vorliegen dieser Voraussetzung verneint (vgl. BSG, Urteil vom 26.09.2006 - B 1 KR 14/06 R, Rn. 18). Vor diesem Hintergrund kann auch der Umstand, dass der Kläger mit der starken Einschränkung leben muss, viele Stunden des Tages schlafen zu müssen, nicht zu der Annahme eines Falles der verfassungskonformen Auslegung führen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Versorgung und Kostenübernahme für das Medikament Vigil (Wirkstoff Modafinil) im Rahmen des Off-Label-Use zur Behandlung des so genannten fatigue-Syndroms bei dem an Multipler Sklerose (MS) erkrankten Kläger.
Der 1959 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert und leidet seit Jahren unter Multipler Sklerose (MS) verbunden mit dem fatigue-Syndrom, das zu einer ausgeprägtes Müdigkeit führt.
Der Kläger erhielt das nur für die Narkolepsie zugelassene Medikament Vigil mit dem Wirkstoff Modafinil im Rahmen der so genannten HAGIL-Studie am Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf (U.).
Mit Schreiben vom 31. März 2005 beantragte der Hausarzt des Klägers die Kostenübernahme für die Gabe des Medikaments an den Kläger im Rahmen des Off-Label-Use.
Mit Bescheid vom 1. August 2005 lehnte die Beklagte nach Beteiligung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) die Kostenübernahme ab.
Hiergegen legte der Kläger am 11. Oktober 2005 Widerspruch ein unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme der MS-Sprechstunde des U. vom 17. November 2005. In dieser Stellungnahme wurde ausgeführt, dass das fatique-Syndrom eine massive Beeinträchtigung bei MS-Erkrankten darstelle. Es lägen zwar gegenwärtig keine gesicherten Therapie-Konzepte vor, aber es fänden sich mittlerweile drei kontrollierte Studien zur Wirksamkeit von Modafinil. Das Problem der Studien sei die Heterogenität des fatique-Syndroms und die Sensitivität der Messinstrumente. Es könne aber jedenfalls bei einem Teil der Probanden von einer Wirksamkeit ausgegangen werden. Konkret bei dem Kläger sei eine Wirksamkeit eingetreten. Nach Absetzen des Medikaments habe sich sein Zustand verschlechtert. Er habe kaum noch am sozialen Leben teilnehmen können. Suizidphantasien würden den Kläger wöchentlich begleiten.
Die Beklagte holte daraufhin erneut eine Stellungnahme des MDK ein, nach der die Studienlage für einen Off-Label-Use für nicht ausreichend erachtet wurde. Der Kläger werde antidepressiv mit Cipramil behandelt. Es sollten krankengymnastische und ergotherapeutische Maßnahmen durchgeführt werden.
Daraufhin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 4. Oktober 2006 den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Sie führte aus, Modafinil bzw. Vigil habe nicht die Zulassung für das fatique-Syndrom bei MS. Eine Verordnung durch den behandelnden Arzt scheide somit aus. Der MDK habe darauf hingewiesen, dass es eine als Standardtherapie etablierte Methode zur Behandlung des fatique-Syndroms bei MS nicht gäbe. Eine Erweiterung der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung auf Behandlungsmethoden, die sich erst im Stadium der Forschung und der Proben befänden, sei ausgeschlossen. Hieran ändere auch der so genannte Nikolaus-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nichts, da die bei dem Kläger vorliegende Erkrankung nicht lebensbedrohlich sei bzw. regelmäßig tödlich verlaufe.
Der Kläger hat am 20. Oktober 2006 Klage erhoben und unter anderem vorgetragen, dass die Leitlinien der Gesellschaft für MS Erkrankungen Modafinil zur Behandlung des fatique-Syndroms bei an MS Erkrankten empfehle.
Auf Antrag des Klägers hatte das Sozialgericht (SG) die Beklagte zuvor durch Beschluss vom 5. Oktober 2006 (Az.: S 48 KR 725/06 ER) im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, bis zum 31. März 2007 die Kosten für die Behandlung des Klägers mit Vigil gemäß ärztlicher Verordnung zu übernehmen.
Im Laufe des Klagverfahrens hat das SG Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie ein Gutachten des Neurologen Dr. E. vom 30. Oktober 2008 samt ergänzender Stellungnahme vom 17. Dezember 2009 eingeholt. Mit Urteil vom 9. April 2010 gab es der Klage statt und verpflichtete die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide, die Kosten der medizinisch notwendigen Behandlung des Klägers mit Vigil zu tragen. Das SG geht in seinem Urteil davon aus, dass die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use vorliegen. Auch aufgrund der bestehenden Suizidgefahr bestehe eine lebensbedrohliche Erkrankung. Andere Therapiemöglichkeiten stünden dem Kläger nicht zur Verfügung. Aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen Dr. E. und den Ausführungen in einem neurologischen Standardlehrbuch sei davon auszugehen, dass ein Konsens in Fachkreisen hinsichtlich des Einsatzes von Modafinil zur Behandlung des fatique-Syndroms bei an MS Erkrankten bestehe.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 12. Juli 2010 zugestellte Urteil des SG am 2. August 2010 Berufung eingelegt. Zu deren Begründung trägt sie, gestützt auf ein Gutachten des MDK vom 29. Juli 2010, vor, die vom Bundessozialgericht (BSG) aufgestellten Voraussetzungen für einen Off-Lable-Use von Vigil seien nicht erfüllt. Es bestehe auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse keine hinreichend begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Es bestehe auch kein entsprechender Konsens in Fachkreisen. Zudem seien Berichte über massive Nebenwirkungen des Wirkstoffs Modafinil bekannt geworden. Auch die Voraussetzungen für eine grundrechtsorientierte Auslegung nach Maßgabe des Nikolausbeschlusses des BVerfG seien nicht gegeben. Zwar handele es sich bei der Erkrankung des Klägers sicherlich um eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung. Eine regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung im Sinne einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage könne bei der beim Kläger diagnostizierten primär progredienten Verlaufsform der MS nicht erkannt werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. April 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
Beweis zu erheben, dass fatigue im Sinne der Erkrankung nach § 27 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) eine eigenständige Erkrankung ist und damit die Beurteilung der Schwere der Erkrankung sich allein an diesem Krankheitsbild zu orientieren hat, hilfsweise
die Berufung zurückzuweisen und die Revision zuzulassen für den Fall der Zurückweisung.
Er hält die Entscheidung des SG für zutreffend. Die Beklagte habe in der mündlichen Verhandlung vor dem SG eingeräumt, dass hinsichtlich des Einsatzes von Modafinil zur Behandlung des fatique-Syndroms bei an MS Erkrankten in Fachkreisen Konsens bestehe. Damit seien die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use gegeben. Bei der Anwendung der Vorgaben des BVerfG aus dem Nikolausbeschluss sei an das fatique-Syndrom als eigenständige Erkrankung anzuknüpfen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 23. Januar 2014, die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten, den weiteren Inhalt der Prozessakte sowie der beigezogenen Prozessakten S 48 KR 725/06 ER und S 34 KR 387/08 und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist statthaft (§§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben.
Sie hat auch in der Sache Erfolg. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, die Kosten der Versorgung des Klägers mit Vigil zu tragen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Vigil bzw. auf Übernahme der Kosten für dieses Medikament.
Da Vigil unstreitig für den hier in Rede stehenden Anwendungsbereich keine arzneimittelrechtliche Zulassung hat, kann ein Anspruch des Klägers sich nur unter den Voraussetzungen des Off-Lable-Use oder nach den Grundsätzen der grundrechtsorientierten Auslegung ergeben, wie sie in der Entscheidung des BVerfG vom 6. Dezember 2005 (so genannter Nikolausbeschluss) statuiert worden sind. Für keinen dieser Ansätze sind die Voraussetzungen erfüllt.
Beide Ansätze unterscheiden sich dabei insoweit, als die Voraussetzungen des Off-Lable-Use bei der Schwere der vorliegenden Erkrankung weniger restriktiv sind, dafür aber höhere Anforderungen an den Nachweis der Wirksamkeit des Präparates stellen, während die grundrechtsorientierte Auslegung eine regelmäßig in naher Zukunft tödlich verlaufende bzw. diesem gleichwertige Krankheit zur Voraussetzung hat, dafür jedoch im Hinblick auf den Wirknachweis der in Rede stehenden Behandlungsmethode geringe Anforderungen stellt. Diese Unterscheidung ist im erstinstanzlichen Urteil nicht hinreichend getroffen. Es scheint, als stelle das SG im Falle des Klägers hinsichtlich der Schwere der Erkrankung auf die Grundsätze des Off-Lable-Uses ab, hinsichtlich der Erkenntnis der Wirksamkeit hingegen auf die der grundrechtsorientierten Auslegung. Dieses Vorgehen ist nicht zulässig. Vielmehr sind die Voraussetzungen beider Institute eigenständig zu prüfen. Dabei ergibt sich, dass weder die Voraussetzungen des Off-Lable-Uses (dazu unter 1.) noch die der grundrechtsorientierten Auslegung (dazu unter 2.) erfüllt sind.
1. Ein Off-Lable-Use, also der Einsatz eines Medikamentes außerhalb der zugelassenen Indikation, kommt nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG, Urteil vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R) in Betracht, wenn es sich um eine unverzichtbare und erwiesenermaßen wirksame Therapie handelt. Wegen des Vorrangs des Arzneimittelrechts muss dies aber auf Fälle beschränkt bleiben, in denen einerseits ein unabweisbarer und anders nicht zu befriedigender Bedarf an der Arzneitherapie besteht und andererseits die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung hinreichend belegt sind. Die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet kommt deshalb nur in Betracht, wenn es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, (2) keine andere Therapie verfügbar ist und (3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
Dabei kann dahinstehen, ob hier hinsichtlich der ersten Voraussetzung an das fatique-Syndrom oder an die MS Erkrankung als solche anzuknüpfen ist, da zumindest die dritte Voraussetzung nicht vorliegt.
Denn es bestand und erst recht besteht aktuell aufgrund der Datenlage keine hinreichend begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Hierfür genügt es nicht, dass die Behandlung des Klägers im Einzelfall erfolgreich ist. Damit ersteres angenommen werden kann, müssen vielmehr Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Das ist der Fall, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit bei vertretbaren Risiken belegen oder wenn außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG, Urteil vom 19.03.2002, a.a.O.; BSG, Urteil vom 26.09.2006 - B 1 KR 14/06 R). Dabei muss die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse während und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens regelmäßig gleich sein, da es für den Schutz der Patienten gleichgültig ist, ob die erforderlichen Erkenntnisse innerhalb oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnen worden sind (BSG, Urteil vom 26.09.2006, a.a.O.).
Für die Frage der Wirksamkeit des in Vigil wirkenden Modafinils gibt es eine Vielzahl von Studien. Diese Studien sind von unterschiedlicher Qualität und von unterschiedlicher Aussagekraft (vgl. die Aufstellung vom SG Aachen, Urteil vom 11.03.2010 - S 2 KR 7/09, Rn. 20 und die Ausführungen in dem die Berufung begründenden MDK-Gutachten vom 29.07.2010, Bl. 150ff GA und dem MDK-Gutachten vom 19.09.2006, Bl. 51ff VA). Zwar haben vor allem kleinere Studien auch einen positiven Effekt von Modafinil aufgezeigt und offensichtlich wirkt dieser Stoff auch bei dem Kläger positiv dem fatigue-Syndrom entgegen. Auch ergeben sich aus den Studien Anhaltspunkte dafür, dass der Nachweis der Wirkung ggf. möglich wäre, wenn man die Gruppen der Probanden entsprechend klein und spezifisch fasst. Allerdings ließ sich schon bisher aus dieser Studienlage keine Datenlage im oben genannten Sinne ableiten. Dies gilt nach Veröffentlichung der HAGIL-Studie des U. (vgl. Bl. 182ff GA) umso mehr. Auch diese Studie, an der der Kläger selbst teilgenommen hat, hat keinen durchgreifenden Nachweis für eine Wirksamkeit von Modafinil beim fatigue-Syndrom ergeben. Zwar gibt auch diese Studie zu erkennen, dass es Anhaltspunkte für eine Wirksamkeit in bestimmten Patientengruppen gab und dass diesbezüglich ggf. weitere Studien sinnvoll wären. Anhaltspunkte für eine Zulassungsfähigkeit von Vigil für das fatigue-Syndrom ergeben sich jedoch nicht.
Es liegt auch kein Konsens in Fachkreisen im Sinne der Rechtsprechung des BSG vor. Wie die oben stehende Definition deutlich macht, ist es erforderlich, dass dieser Konsens auf zuverlässigen, wissenschaftlich nachprüfbaren Aussagen beruht. Hinsichtlich der Qualität der zugrunde liegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse besteht daher kein wesentlicher Unterschied zwischen der Situation während und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens. Eben solche Erkenntnisse liegen und lagen nicht vor.
Der Prozessbevollmächtigte stützt sich dabei ganz maßgeblich auf eine "Empfehlung der internationalen Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG)". Danach wird die Behandlung mit Modafinil mit der Empfehlungsstärke "B" empfohlen. Dabei soll es sich um eine "Mittlere Empfehlungsstärke aufgrund mittlerer "Evidenz" oder bei schwacher "Evidenz" mit hoher Versorgungsrelevanz oder bei starker "Evidenz" und Einschränkungen der Versorgungsrelevanz" handeln. Bleibt schon diese Definition sehr unbestimmt und wird nicht deutlich, auf welche Erkenntnisgrundlage sich die Empfehlung stützt, so kommt hinzu, dass im Rahmen einer Internetrecherche andere Aussagen zu finden sind. Auf der Seite der "Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft" findet sich zum einen der Link zu einer "Aktuellen Therapieempfehlung (August 2004)" der MSTKG (http://www.dmsg.de/dokumentearchiv/mstkgpaper2004 april 04 endfassung aktuell 29052009.pdf). Dort wird ausgeführt, dass Modafinil "aufgrund erster positiver Berichte" gegen abnorme Tagesmüdigkeit angewandt werde. In der Tabelle 8 wird dann bzgl. Modafinil auf die Studie von Zifko et al. 2002 und von Rammohan et al. 2002 jeweils mit dem Vermerk "Evidenz IV" hingewiesen. Diese Evidenzstufe ist die niedrigste und wird definiert mit "Evidenz aus unkontrollierten Studien, Fallserien, Fallberichten oder Expertenmeinungen". Auf derselben Internetseite findet sich auch ein Bericht vom 25. Februar 2009, der sich ebenfalls mit der Empfehlung der MSTKG befasst (http://www.dmsg.de/multiple-sklerose-news/index.php?anr=835&kategorie=therapien). In diesem wird die Behandlung des fatigue-Syndroms mit Modafinil als "Expertenmeinung" bezeichnet und diese definiert als "Therapie, deren Nutzen durch evidenzbasierte Daten aufgrund fehlender Studien schlecht belegt werden kann, jedoch nach Erfahrungen der Verfasser eindeutig ist". In der "DGN/KKNMS Leitlinie zur Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose (Online-Version, Stand: 09.08.2012)" der "Deutschen Gesellschaft für Neurologie" (http://www.awmf.org/uploads/tx szleitlinien/030-050l S2e Multiple Sklerose Diagnostik Therapie 2012-08.pdf) findet sich schließlich die folgende Passage:
"Modafinil erschien in unkontrollierten Studien erfolgversprechend, wie auch in einer placebokontrollierten Crossover-Studie (Rammohan et al. 2002, Brown et al. 2010). Allerdings konnte in einer doppelblinden, placebokontrollierten, randomisierten Studie mit 115 MS-Patienten nach 5 Wochen zwar eine Verbesserung der Fatigue anhand der "Modified Fatigue Impact Scale" (MFIS) für beide Gruppen gefunden werden, zwischen Placebo und Modafinil ergaben sich aber keine signifikanten Unterschiede (Stankoff et al. 2005). Daher kann ein Therapieversuch im Einzelfall unternommen werden, vor allem, wenn sich eine Aufmerksamkeitsstörung als Ursache der Fatigue nachweisen lässt."
Berücksichtigt man weiter, dass in diesen Aussagen offensichtlich noch nicht das Ergebnis der HAGIL-Studie vom U. eingeflossen ist, liegt es fern, von einem auf zuverlässigen, wissenschaftlich nachprüfbaren Aussagen beruhenden Konsens in Fachkreisen auszugehen.
Bemerkenswert ist insoweit auch, dass Prof. Dr. H. vom U. in seiner Stellungnahme vom 17. November 2005 gegenüber der Beklagten selbst lediglich ausführt, dass "auf jeden Fall eine Wirksamkeit zumindest in einer Teilgruppe nicht ausgeschlossen" werden könne.
An diesem Befund vermag auch das gerichtliche Gutachten von Prof. Dr. E. vom 30. Oktober 2008 nichts zu ändern. Denn auch er bezieht sich im Wesentlichen auf die "Evidenzklasse B"-Empfehlung der MSTKG und den individuellen Erfolg im Fall der Anwendung von Vigil beim Kläger.
2. Ein Anspruch des Klägers auf Versorgung mit dem Modafinil enthaltenden Vigil ergibt sich auch nicht nach den Grundsätzen der grundrechtsorientierten Auslegung.
Erste Voraussetzung für den Anspruch auf Versorgung mit einem für die Indikation nicht zugelassenen Medikament im Rahmen der grundrechtsorientierten Auslegung ist, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt. Denn eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen ist nur gerechtfertigt, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den ggf. gleichzustellenden, akut drohenden und nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten (vgl. BSG, Urteil vom 07.11.2006 - B 1 KR 24/06 R; Urteil vom 27.03.2007 - B 1 KR 17/06 R, Rn. 19ff; Urteil vom 05.05.2009 - B 1 KR 15/08 R, Rn. 12ff mit einer Auszählung der Fälle, in denen das BSG das Vorliegen der Voraussetzungen abgelehnt hat).
Bei dieser Betrachtung hat eine – vom SG maßgeblich mit ins Feld geführte – Suizidalität des Klägers außer Betracht zu bleiben. Denn diese löst nach der Rechtsprechung des BSG – auch, wenn sie in einer hochgradig akuten Form besteht – lediglich eine spezifische Behandlung etwa mit Mitteln der Psychiatrie aus (vgl. BSG, Urteil vom 26.09.2006 - B 1 KR 14/06 R, Rn. 19).
Das BSG hat das Vorliegen der genannten Voraussetzung bei einer MS in sekundär progredienter Verlaufsform trotz der unbestreitbaren Schwere dieser Krankheit als nicht gegeben angesehen und dies damit begründet, dass statistisch gesehen eine MS-Erkrankung dieser Form nicht unmittelbar zum Tod führt (vgl. BSG, Urteil vom 27.03.2007 - B 1 KR 17/06 R, Rn. 23, das BVerfG hat die hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, vgl. Nichtannahmebeschluss vom 30.06.2008 – 1 BvR 1665/07; vgl. auch BSG, Urteil vom 28.02.2008 - B 1 KR 15/07 R, Rn. 29ff ebenfalls zur sekundär progredienten MS).
Der Kläger leidet an der primär progredienten Form der MS. Der Unterschied zur der sekundär progredienten Form liegt darin, dass bei letzterer zusätzlich zu der kontinuierlichen Verschlimmerung der Erkrankung Schübe auftreten. Dieser Umstand rechtfertigt keine anderweitige Beurteilung der Erkrankung, als sie vom BSG vorgenommen wurde. Wie sich aus den im Berufungsverfahren eingeholten Aussagen der behandelnden Ärzte ergibt (vgl. Bericht von Prof. Dr. H. vom 18. Oktober 2011, Befundbericht von Dr. S. vom 20. Januar 2014 und Befundbericht von Dr. S1 vom 22. Januar 2014), ist auch aktuell eine unmittelbare Todesgefahr für den Kläger nicht gegeben.
Es ergibt sich auch keine andere Beurteilung, wenn man hinsichtlich der zugrunde zulegenden Erkrankung nicht auf die MS Erkrankung, sondern auf das fatique-Syndrom abstellt. Aus diesem Grund musste das Gericht auch nicht dem Beweisantrag des Klägers nachgehen, bei dem es sich zudem tatsächlich allenfalls um eine Beweisanregung gehandelt hat, da noch nicht einmal das betreffende Beweismittel angegeben worden ist (vgl. dazu Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10.Aufl., § 160 Rn. 18a mwN).
Es steht außer Frage, dass die Auswirkungen des fatique-Syndroms das Leben des Klägers stark beeinträchtigen. Das fatique-Syndrom führt jedoch nicht zum Tod und kann einer solchen Situation im Sinne eines akut drohenden und nicht kompensierbaren Verlustes eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion auch nicht gleichgestellt werden. Wie sich aus den oben zitierten Entscheidungen des BSG ergibt, ist hier ein strenger Maßstab anzulegen. So hat das BSG beispielsweise bei einem Fall des Restless-Legs-Syndroms in einer schweren Form mit ausgeprägter Unruhe und massiven Ein- und Durchschlafstörungen das Vorliegen dieser Voraussetzung verneint (vgl. BSG, Urteil vom 26.09.2006 - B 1 KR 14/06 R, Rn. 18). Vor diesem Hintergrund kann auch der Umstand, dass der Kläger mit der starken Einschränkung leben muss, viele Stunden des Tages schlafen zu müssen, nicht zu der Annahme eines Falles der verfassungskonformen Auslegung führen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
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