L 9 R 299/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 6 R 2500/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 299/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 12. Januar 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1961 geborene Kläger ist gelernter Glaser und Fensterbauer. Zuletzt war er bis zur Kündigung im September 2004 als Möbelmonteur bei der Firma F. Büromöbel, Freiburg-Hochdorf, im Akkord beschäftigt. Nach einer Beschäftigung in einer Übergangsgesellschaft bezog er bis 30.09.2006 Arbeitslosengeld. Ab dem 01.10.2006 sind im Versicherungsverlauf der Beklagten vom 16.07.2012 Pflichtbeitragszeiten für den Bezug von Arbeitslosengeld II für die Zeit bis 31.12.2010 vermerkt. Arbeitslosengeld II wurde auch über den 01.11.2011 hinaus bezogen.

Der Kläger beantragte mit einem am 29.10.2009 bei der Beklagten eingegangenen Antrag die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Zuvor hatte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 21.06.2007 mit Bescheid vom 30.07.2007 und Widerspruchsbescheid vom 28.01.2008 abgelehnt. Diesen Entscheidungen lagen das Gutachten des Orthopäden Dr. R. vom 11.07.2007 (Diagnosen: wiederkehrendes Lendenwirbelsäulen-Syndrom bei bekanntem Bandscheibenvorfall L4/5 links, medikamentös eingestellter Bluthochdruck, insulinpflichtiger Diabetes mellitus, myokardszintigraphisch kein Nachweis einer belastungsinduzierten Ischämie bis zur 150 Watt-Stufe mit guter systolischer links- und rechtsventrikulärer Funktion, Aortenklappensklerose; Beurteilung: wenigstens sechsstündige Leistungsfähigkeit für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen) und der ärztliche Entlassungsbericht über eine medizinische Rehabilitation der REHA SÜD GmbH, Freiburg, zugrunde, wo sich der Kläger vom 23.04.2007 bis 27.04.2007 in stationärer Behandlung befand (Diagnosen: Kreuzschmerz, Schmerzen im Bereich der Brustwirbelsäule, sonstige näher bezeichnete Bandscheibenverlagerung, BSV L4/5, benigne essentielle Hypertonie, nicht primär insulinabhängiger Diabetes mellitus [Typ II-Diabetes]). Im anschließenden Klageverfahren (S 11 R 667/08) beauftragte das Sozialgericht Freiburg (SG) u.a. Prof. Dr. S., Waldkirch, mit der Erstellung eines fachorthopädischen Gutachtens. Dieser hielt (unter Berücksichtigung näher ausgeführter qualitativer Einschränkungen) eine leichte körperliche Tätigkeit für wenigstens sechs Stunden täglich für möglich und zumutbar. Wegen des bestehenden Ganzkörperschmerzes bei Verdacht auf Störung der zentralen Schmerzverarbeitung hielt er die zusätzliche Begutachtung auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet für erforderlich. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Dipl.-Psych. S., Freiburg, führte auf Veranlassung des SG in seinem Gutachten unter dem 24.02.2009 aus, dass eine chronische Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren sowie der Verdacht auf ein Fibromyalgiesyndrom vorliegen. Auch er vertrat die Auffassung, dass der Kläger in der Lage sei, mit gewissen Einschränkungen einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit wenigstens sechs Stunden am Tag nachzugehen. Der Rechtsstreit endete durch eine übereinstimmende Erledigungserklärung, nachdem die Beklagte dem Kläger ein stationäres Heilverfahren für die Dauer von drei Wochen angeboten hatte.

Auf seinen im Oktober 2009 gestellten Antrag zog die Beklagte den Bericht der Ziegelfeld-Klinik, S. B., vom 04.08.2009 bei, wo sich der Kläger vom 01.07.2009 bis 29.07.2009 in stationärer Behandlung befand. Die Ziegelfeld-Klinik berichtete über eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, einen Bandscheibenvorfall L4/5 links, eine Hypertonie, einen Diabetes mellitus Typ I und eine Adipositas. Als Fensterbauer/Glaser sei der Kläger nur noch unter drei Stunden einsetzbar. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten könne er unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen noch sechs Stunden und mehr verrichten.

Mit Bescheid vom 23.11.2009 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte unter Berücksichtigung einer sozialmedizinischen Stellungnahme der Ärztin für Nervenheilkunde Bechert vom 10.02.2010 mit Widerspruchsbescheid vom 12.04.2010 zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 12.05.2010 Klage zum SG erhoben.

Das SG hat Beweis erhoben durch das Einholen sachverständiger Zeugenaussagen beim behandelnden Orthopäden Dr. R. (Aussage vom 20.08.2010: wegen einer chronifizierten Schmerzerkrankung könne der Kläger auch leichte körperliche Tätigkeiten von sechs Stunden pro Tag nicht ausüben, gegebenenfalls wäre eine Belastung von drei bis vier Stunden bei nur leichten Tätigkeiten überwiegend im Sitzen als auch zeitweise im Gehen möglich), beim Facharzt für Innere Medizin Dr. S. (Aussage vom 23.08.2010: bezogen auf das Krankheitsbild Typ II-Diabetes sei eine regelmäßig leichte körperliche Erwerbstätigkeit von sechs Stunden pro Tag möglich) und beim Facharzt für Allgemeinmedizin B.-S. (Aussage vom 31.08.2010: seiner Auffassung nach sei nicht mehr sicher zu klären, ob berufliche Belastungen in irgend einer Form möglich seien). Die Beklagte hat eine sozialmedizinische Stellungnahme der Ärztin für Orthopädie Dr. H. vorgelegt, welche unter dem 13.10.2010 die Auffassung vertreten hat, dass aufgrund der vorliegenden Zeugenaussagen kein objektivierter Befund mitgeteilt worden sei, der medizinisch eine Minderung des quantitativen Leistungsvermögens auf unter sechs Stunden täglich begründen könnte.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 12.01.2011 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Kläger nach Überzeugung der Kammer in der Lage sei, mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid verwiesen.

Gegen den ihm am 18.01.2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 21.01.2011 Berufung eingelegt.

Er macht zur Begründung geltend, dass sich sein Allgemeinzustand erheblich verschlechtert habe. Die bestehenden chronischen Schmerzen vom Gesäß über die Lendenwirbelsäule und den ganzen Rücken bis zur Stirn, das Ziehen über die Schultern, die Ellenbogen bis in die Fingerspitzen mit Taubheitsgefühl sowie die bis zur Bewusstlosigkeit führenden Schmerzattacken hätten zu einer weiteren Erhöhung der Schmerzmitteldosis geführt. Er nehme nunmehr dreimal täglich 150 mg des für die Behandlung chronischer Schmerzen in die Stufe zwei gemäß dem WHO-Stufenschema eingeordneten Arzneimittels Tilidin. Bei - alle zwei bis drei Tage auftretenden - Schmerzattacken nehme er Tramabeta Lösung 30 Tropfen. Er sei müde und schlapp und leide an Konzentrationsschwierigkeiten und hoher Vergesslichkeit. Neu hinzu gekommen sei seit Sommer des Jahres 2010 ein chronischer Tinnitus mit Schwerhörigkeit.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 12. Januar 2011 sowie den Bescheid vom 23. November 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. April 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung bzw. Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch das Einholen einer sachverständigen Zeugenaussage beim HNO-Arzt Dr. S., B ... Dieser hat unter dem 17.06.2011 ausgeführt, dass eine Hörverschlechterung mit chronisch rezidivierenden Ohrgeräuschen bestehe. Im Vergleich zu den Voruntersuchungen im Januar 2010 bestehe keine Änderung der Befunde. Der chronisch rezidivierende Tinnitus führe zu Schlafstörungen mit Konzentrationsschwierigkeiten im Alltag.

Der Kläger hat darüber hinaus ein im parallel anhängigen Verfahren vor dem SG zur Feststellung des Grades der Behinderung nach dem Schwerbehindertenrecht erstelltes Gutachten des Orthopäden Dr. H. vorgelegt. Dieser hat ein chronisches Schmerzsyndrom, eine psychosomatische Erkrankung im Sinne einer somatisierten Depression, ein Zervikalsyndrom bei Spondyl-/Uncarthrose und Osteochondrose C3 bis C7, ein Thorakalsyndrom bei Osteochondrose und Spondylarthrose untere BWS, ein chronisches Lumbalsyndrom bei radiologischen Verschleißzeichen L4/5 und L5/S1 festgestellt. Darüber hinaus bestünden ein chronisches Schmerzsyndrom, eine psychosomatische Erkrankung im Sinne einer somatisierten Depression, ein Tinnitus, eine arterielle Hypertonie (medikamentös gut eingestellt) und ein Diabetes mellitus Typ II.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Facharzt für Orthopädie, Akkupunktur, Chirotherapie, Sportmedizin, spezielle Schmerztherapie Dr. F., Freiburg, unter dem 09.11.2011 ein Gutachten erstellt. Dr. F. hat ein chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren bei degenerativen Veränderungen der gesamten Wirbelsäule, einen Diabetes mellitus und Hypertonus beschrieben. Seines Erachtens sei der Kläger nicht mehr in der Lage, drei oder mehr Stunden leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt an fünf Tagen in der Woche auszuüben. Entscheidend sei bei der Beurteilung der psychosozialen Beeinträchtigungen die Störung in der Funktionsfähigkeit, vor allem die Beeinträchtigung der Aktivität und der Partizipation. Er verwies auf das Gutachten von Dr. S., der eine psychotherapeutische Behandlung des Schmerzsyndroms empfohlen habe. Er habe schon 2008 die Erwerbsfähigkeit als eingeschränkt oder deutlich gefährdet eingestuft. Retrospektiv müsse jetzt auch aufgrund der völlig unveränderten Situation die psychosomatische Rehabilitation in S. B. als gescheitert angesehen werden.

Hierauf hat für die Beklagte die Fachärztin für Chirurgie Dr. L. in ihrer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 18.01.2012 erwidert. Sie vertritt die Auffassung, dass die Leistungsbeurteilung in dem Gutachten fachfremd vorgenommen worden sei. Von orthopädischer Seite sei eine quantitative Leistungsminderung nicht zu begründen. Es bleibe aus sozialmedizinischer Sicht somit nur die Empfehlung, eine Begutachtung auf psychiatrisch-psychosomatischem Fachgebiet vorzunehmen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch das Einholen eines Gutachtens bei der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. E., H ... Diese hat in ihrem Gutachten unter dem 01.03.2013 ein chronisch rezidivierendes HWS-, BWS- und LWS-Syndrom bei NPP L4/5 linksbetont ohne neurologische Ausfälle, eine leichtgradige Polyneuropathie, am ehesten diabetogen, einen Tinnitus aurium, einen insulinpflichtigen Diabetes mellitus, eine medikamentös eingestellte Hypertonie und eine chronisch somatoforme Schmerzstörung festgestellt. Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht seien leichte, kurzzeitig mittelschwere körperliche Tätigkeiten mit Heben und Tragen von Lasten von 5 kg und in Spitzen bis 10 kg, im Wechsel zwischen Sitzen, Gehen und Stehen oder überwiegend sitzend, ohne Zwangshaltungen, insbesondere ohne häufiges Überkopfarbeiten oder häufiges Vorneigen, ohne häufiges Treppensteigen und ohne Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten, ohne Akkord-, Fließband- und Nachtarbeiten noch möglich. Zu vermeiden seien Tätigkeiten unter ungünstigen klimatischen Verhältnissen, insbesondere Kälte und Nässe; wegen des Tinnitus sollten keine Tätigkeiten ausgeführt werden, die besondere Anforderungen an das Hörvermögen stellten. Gleiches gelte für Tätigkeiten unter Lärmbelastung ohne Tragen eines entsprechenden Hörschutzes. Tätigkeiten, die besonders hohe Anforderungen an Konzentration, Merkfähigkeit, Anpassungs- und Umstellungsvermögen stellten oder die Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge oder die Übernahme besonders hoher Verantwortung erforderten, seien ebenfalls nicht mehr möglich. Unter Berücksichtigung dieser qualitativen Einschränkungen seien leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche zumutbar.

Der Kläger hat einen Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin und Anästhesiologie Dr. W. vom 04.04.2012 sowie ein ärztliches Attest des Orthopäden Dr. R., B. K., vom 03.04.2013 mit den Diagnosen chronisches Schmerzsyndrom, chronisch rezidivierendes Wirbelsäulensyndrom, chronisch rezidivierendes BWS-Syndrom, Costo-Vertebralsyndrom, chronisch rezidivierendes Lumbalsyndrom vorgelegt. Beim Kläger bestehe seit Jahren eine chronifizierte schwerwiegende Schmerzerkrankung, weshalb der Patient zusätzlich in regelmäßiger schmerztherapeutischer Behandlung sei. Aufgrund der Schmerzerkrankung sei die Belastbarkeit auf unter drei Stunden einzustufen. Ferner hat er das Attest der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. H. vom 02.04.2013 vorgelegt. Diese hat ausgeführt, dass sie den Kläger unter Berücksichtigung der dargelegten Diagnosen und Einschränkungen für keinen Zeitraum mehr für arbeitsfähig erachte, sodass volle "EU-Rente" angemessen sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten sowie auf die Akten des SG (S 11 R 667/08, S 6 R 2500/10) und die Senatsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entschieden hat, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.

Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Gerichtsbescheids zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die hier vom Kläger beanspruchte Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung - § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) - dargelegt und ebenso zutreffend ausgeführt, dass ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung auch wegen Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes nicht besteht, weil der Kläger noch wenigstens sechs Stunden täglich leistungsfähig ist. Der Senat schließt sich diesen Ausführungen, die sich ausführlich mit den entgegenstehenden Einschätzungen der behandelnden Ärzte in deren sachverständigen Zeugenaussagen auseinandergesetzt haben, nach eigener Prüfung und unter Berücksichtigung des Vorbringens im Berufungsverfahren uneingeschränkt an und sieht gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe weitgehend ab und weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils zurück.

Ergänzend und im Hinblick auf die Ermittlungen im Berufungsverfahren ist auszuführen, dass sich eine volle Erwerbsminderung des Klägers, d.h. ein Absinken seiner beruflichen und körperlichen Leistungsfähigkeit auf ein Leistungsvermögen von weniger als sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, zur Überzeugung des Senats auch und gerade unter Berücksichtigung dieser Ermittlungen nicht belegen lässt. Der Senat folgt insoweit den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen im Gutachten von Dr. E. Deren Einschätzung zum quantitativen Leistungsvermögen und der zu berücksichtigenden Einschränkungen steht in voller Übereinstimmung mit den Gutachten von Prof. Dr. S. und Dr. S ... Danach liegen bei dem Kläger rezidivierende HWS-, BWS- und LWS-Syndrome bei einem NPP L4/5 linksbetont, aber ohne neurologische Ausfälle, eine leichtgradige, am ehesten diabetogen verursachte Polyneuropathie, ein Tinnitus aurium, ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus und eine medikamentös eingestellte Hypertonie vor. Diese auf orthopädischem, neurologischem und internistischem Fachgebiet bestehenden Gesundheitsstörungen vermögen weder für sich genommen noch unter Berücksichtigung der von Dr. Elze auf psychiatrischem Fachgebiet festgestellten chronischen somatoformen Schmerzstörung eine zeitliche Leistungsminderung auf weniger als sechs Stunden am Tag zu begründen. So beschreibt Dr. Elze überzeugend, dass unter Berücksichtigung der genannten qualitativen Einschränkungen der Kläger in der Lage ist, ohne Gefährdung seiner Gesundheit leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wenigstens sechs Stunden am Tag an fünf Tagen in der Woche auszuführen. Der vorliegenden Schmerzerkrankung wird ausreichend dadurch Rechnung getragen, dass Heben und Tragen von Lasten auf 5 bis 10 kg beschränkt werden, ein Wechsel der Körperhaltungen ermöglicht wird, Zwangshaltungen, Akkord-, Fließband- und Nachtarbeit sowie Tätigkeiten unter ungünstigen klimatischen Bedingungen vermieden werden. Darüber hinaus können aufgrund der somatoformen Schmerzstörung Tätigkeiten mit besonders hohen Anforderungen an Konzentration, Merkfähigkeit, Anpassungs- und Umstellungsvermögen oder Tätigkeiten, die die Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge oder die Übernahme besonders hoher Verantwortung erfordern, nicht mehr abverlangt werden. Der Kläger ist aber nicht gehindert, einfache Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes, die diese Einschränkungen berücksichtigen, auszuüben, ohne dass sich für solche eine zeitliche Leistungseinschränkung begründen ließe. Zu diesem Ergebnis ist auch das orthopädische Gutachten von Prof. Dr. S. und das psychiatrische Gutachten von Dr. S. gelangt, der sich zudem ebenfalls ausführlich mit den Auswirkungen der Schmerzerkrankung auseinandergesetzt hat. Der Senat sieht daher keinen Grund, an der von Dr. E. vorgenommenen Leistungseinschätzung zu zweifeln. Solche Zweifel ergeben sich auch nicht aus dem nach § 109 SGG eingeholten Gutachten von Dr. F ... Wesentliche Abweichungen in Bezug auf die gestellten Diagnosen auf orthopädischem Fachgebiet vermag der Senat dem Gutachten dem Gutachten nicht zu entnehmen. Auch Dr. Feil bestätigt die Feststellung, dass die "chronifizierenden Veränderungen nicht somatisch durch apparative Untersuchungen feststellbar/nachweisbar" sind. Seine abweichende Leistungsbeurteilung beruht - wie er selbst ausgeführt hat (vgl. Antwort zu Frage 7) - im Wesentlichen auf der fachfremden Beurteilung der Schmerzerkrankung. Dies räumt er mit der Unterstellung, Dr. Streb würde die Einschränkung der Leistungsfähigkeit analog weitergedacht genauso beurteilen, auch selbst ein. Einen eigenständigen und nachvollziehbaren psychologischen Befund hat er jedoch nicht erhoben. Seine "Eigenbeobachtung" ersetzt einen qualifizierten psychiatrischen Befund aber nicht.

Den von den gutachterlichen Beurteilungen abweichenden Einschätzungen der behandelnden Ärzte des Klägers in den von ihm vorgelegten Befundberichten folgt der Senat nicht, zumal sich diese Befundberichte nicht umfassend unter gutachterlichen Gesichtspunkten mit dem Leistungsvermögen des Klägers auseinandersetzen. Der Senat sieht die Einschätzungen von Dr. W., Dr. R. und Dr. H. durch das Gutachten von Dr. E., die sich mit den dort genannten Diagnosen und Einschränkungen kritisch auseinandergesetzt hat, als widerlegt an.

Ob dem Kläger ein entsprechender Arbeitsplatz auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich vermittelt werden könnte, ist darüber hinaus rechtlich unerheblich, da bei vollschichtig einsatzfähigen Versicherten der Arbeitsmarkt als offen anzusehen ist und das Risiko der Arbeitsvermittlung von der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung und nicht von der gesetzlichen Rentenversicherung zu tragen ist; dementsprechend bestimmt § 43 Abs. 3 SGB VI, dass nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, und dass hierbei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.

Bei dem Kläger liegen auch keine schwere spezifische Leistungsbehinderung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, die trotz des Leistungsvermögens von mehr als sechs Stunden täglich zur Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarktes führen würden. Die Beklagte war daher nicht verpflichtet, eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen. Das Restleistungsvermögen des Klägers reicht vielmehr noch für zumindest leichte körperliche Verrichtungen im Wechsel der drei Körperhaltungen wie z.B. Zureichen, Abnehmen, leichte Reinigungsarbeiten ohne Zwangshaltungen, Kleben, Sortieren, Verpacken und Zusammensetzen von Teilen sowie Bürohilfsarbeiten aus (vgl. die Aufzählungen in dem Beschluss des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 - SozR 3-2600 § 44 Nr. 8 = BSGE 80, 24, 33 f.). Auch liegt im Fall des Klägers kein Seltenheits- oder Katalogfall vor, der zur Pflicht der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit führen würde (vgl. BSG, GS, a.a.O.,= S. 35). Der Arbeitsmarkt gilt unter anderem als verschlossen, wenn einem Versicherten die so genannte Wegefähigkeit fehlt. Zur Erwerbsfähigkeit gehört auch das Vermögen, einen Arbeitsplatz aufsuchen zu können. Dabei ist nach der Rechtsprechung des BSG ein abstrakter Maßstab anzuwenden. Ein Katalogfall liegt nicht vor, soweit ein Versicherter täglich viermal Wegstrecken von mehr als 500 m mit einem zumutbaren Zeitaufwand von bis zu 20 Minuten zu Fuß zurücklegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehender Mobilitätshilfen benutzen kann. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger die genannte Strecke nicht in der erforderlichen Zeit zurücklegen kann, sind nicht erkennbar und werden von den gehörten Sachverständigen auch nicht beschrieben.

Die Berufung war daher zurückzuweisen. Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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