L 9 R 5802/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 12 R 222/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 5802/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 23. November 2011 sowie der Bescheid der Beklagten vom 3. Juli 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 2008 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger über den 30. Juni 2008 hinaus bis 30. Juni 2011 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten die Weitergewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 30.06.2008 hinaus bis zum 30.06.2011.

Der 1969 geborene Kläger hat von August 1986 bis Dezember 1989 Landmaschinenmechaniker gelernt, diese Lehre jedoch nicht mit einer Prüfung erfolgreich abgeschlossen. Nach längerer Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit war der Kläger von November 1997 bis September 2000 als LKW-Fahrer und von Oktober 2000 bis Juli 2005 als Arbeiter in einer Buchbinderei beschäftigt. Seit 01.08.2005 war er arbeitslos und seit 31.07.2006 arbeitsunfähig, wobei er bis 22.01.2008 Krankengeld bezog. Vom 01.11.2008 bis 16.04.2009 übte er eine geringfügige versicherungsfreie Beschäftigung aus.

Vom 31.07.2006 bis 12.08.2006 befand sich der Kläger zum Drogenentzug im Zentrum für Psychiatrie Emmendingen, den er gegen ärztlichen Rat abbrach.

Am 07.11.2007 beantragte er die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Nach Auswertung der ärztlichen Unterlagen durch den Medizinaldirektor Dr. S. in der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 02.01.2008 gewährte die Beklagte dem Kläger vom 01.11.2007 bis 30.06.2008 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit, ausgehend von einem Leistungsfall vom 31.07.2006.

Am 04.04.2008 beantragte der Kläger die Weiterzahlung der Rente wegen Erwerbsminderung über den Wegfallmonat hinaus.

Die Beklagte ließ den Kläger gutachterlich untersuchen. Die Ärztin für Allgemeinmedizin, Anästhesiologie, Chirotherapie und Sozialmedizin Dr. Z. stellte beim Kläger im Gutachten vom 23.06.2008 folgende Diagnosen: 1. Heroinabusus, derzeit unter Substitution mit Subutex 2. Bekannte chronische aggressive Hepatitis C, Zustand nach erfolgloser antiviraler Therapie mit Alpha-Interferon und Ribavirin, Therapieende 27.03.2008, ohne wesentliche verbliebene Leistungseinschränkung 3. Zustand nach Operation eines Sulcus-ulnaris-Syndroms links, mit nicht objektivierbaren Restbeschwerden 4. Zustand nach Amputation des zweiten Fingers der rechten Hand. Sie gelangte zum Ergebnis, seine zuletzt verrichtete Tätigkeit als Arbeiter in einer Buchbinderei, wo er hauptsächlich mit leichten Putztätigkeiten und Gabelstapler fahren betraut gewesen sei, könne der Kläger täglich sechs Stunden und mehr verrichten. Leichte bis mittelschwere Männerarbeiten, ohne sehr hohe Anforderungen an die Feinmotorik der rechten Hand, könne er sechs Stunden und mehr täglich ausüben. Wegen des erneuten Drogenrückfalls werde eine Kontaktaufnahme mit der psychosozialen Beratungsstelle und nach Entgiftung eine Langzeitentwöhnungsbehandlung empfohlen.

Mit Bescheid vom 03.07.2008 lehnte die Beklagte die Weitergewährung der Rente wegen Erwerbsminderung ab, weil über den Wegfallzeitpunkt hinaus weder eine volle noch eine teilweise Erwerbsminderung vorliege.

Hiergegen legte der Kläger unter Vorlage eines Arztbriefes der St. J. O. vom 16.07.2008 Widerspruch ein und trug vor, an seinen gesundheitlichen Einschränkungen habe sich nichts geändert. In nächster Zeit werde eine Operation an beiden Ellenbogen erfolgen. Nach Beiziehung eines Befundberichts des Neurologen F. vom 03.09.2008 und Einholung einer beratungsärztlichen Stellungnahme bei Dr. Z. vom 08.09.2008 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.12.2008 den Widerspruch des Klägers zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 15.01.2009 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben, mit der er die Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung über den Wegfallzeitpunkt hinaus weiter verfolgt hat.

Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen gehört und anschließend Gutachten auf internistischem und neurologisch-psychiatrischem Gebiet eingeholt.

Oberarzt Dr. Link von der St. J. O. hat unter dem 22.04.2009 angegeben, der Kläger sei von ihm in der Zeit vom 12.02.2007 bis 25.09.2008 behandelt worden. Derzeit erfolge keine spezifische antivirale Therapie. Aufgrund der chronischen Hepatitis C-Erkrankung ergäben sich derzeit keine Leistungseinschränkungen. Der Neurologe F. hat unter dem 20.04.2009 über Vorstellungen des Klägers am 16.09.2005, 20.11.2006, 15.09.2008 und 17.02.2009 (zuletzt: Abnahme des Kurzzeitgedächtnisses und rasche psychophysische Erschöpfbarkeit) berichtet. Der kernspintomografische Befund habe kleine uncharakteristische periphere Marklagerherde beidseits gezeigt, welche sich eher durch vaskuläre Schäden erklären. Es hätten sich keine Hinweise für eine Gehirnatrophie gezeigt. Leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts könne der Kläger täglich sechs Stunden durchführen, sofern Pausen möglich seien. Einschränkungen bestünden seitens des Konzentrationsvermögens, sodass der Kläger nicht an Maschinen eingesetzt und keine Tätigkeiten mit Publikumsverkehr sowie mit vermehrten Konzentrationsanforderungen verrichten sollte. Zu vermeiden seien Schicht- und Nachtarbeiten sowie Tätigkeiten im Freien.

Der Arzt für Allgemeinmedizin Dr. T. hat unter dem 30.06.2009 mitgeteilt, der Kläger berichte über ein chronisches Müdigkeitssyndrom im Rahmen der chronisch-aggressiv verlaufenden Hepatitis C. Seit der Rentengewährung habe sich der Gesundheitszustand des Klägers nicht geändert; sein Allgemeinbefinden habe sich vielmehr verschlechtert, da es zu einem ausgeprägten Fatiguesyndrom gekommen sei. Er halte den Kläger seit dem 30.06.2008 durchgehend für arbeitsunfähig und erwerbsunfähig. Die beim Kläger vorliegenden Befunde schlössen Tätigkeiten von mindestens drei Stunden täglich aus.

Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG ein internistisches Gutachten und von Amts wegen ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt.

Der Arzt für Innere Medizin Dr. G. hat im Gutachten vom 04.05.2010 beim Kläger folgende Diagnosen gestellt: 1. Chronische Hepatitis C-Infektion, dadurch bedingt chronisch-aktive Hepatitis mit zunehmender Leberfibrose 2. Heroinabusus, Drogenersatztherapie mit Subutex 3. Depressives Syndrom 4. Zustand nach erfolgloser virusstatischer Therapie sowie aktuell offenbar erneuter Therapieversuch mit PegInterferon und Ribavirin ohne Aussicht auf Therapieerfolg. Aktuell bestünden typische Nebenwirkungen durch die Interferon-Therapie (chronisches Müdigkeitssyndrom, eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit, rasche muskuläre Erschöpfung). Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten seien drei bis weniger als sechs Stunden täglich zumutbar. Nach Beendigung der Therapie sollten leichte körperliche Tätigkeiten wieder sechs Stunden täglich möglich sein. Die Therapienebenwirkungen hätten zum einen von Mai 2007 bis März 2008 bzw. noch einige Wochen nach Beendigung der Therapie bestanden sowie erneut seit November 2009. Da empfohlen werde, die Therapie wegen Erfolglosigkeit auszusetzen, sei zu erwarten, dass die Therapienebenwirkungen in acht bis zwölf Wochen verschwunden sein würden. Allerdings seien die Auswirkungen aufgrund des Abhängigkeitssyndroms und der depressiven Entwicklung zu berücksichtigen. Eine psychiatrische Langzeittherapie, am günstigsten im stationären Rahmen, sei angezeigt.

Das SG hat von Amts wegen bei Prof. Dr. E. Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ein Gutachten eingeholt. In dem psychiatrischen Gutachten vom 25.05.2011 hat Prof. Dr. E. ausgeführt, der Kläger habe angegeben, bis Juli 2010 Subutex 8 mg (Opiat zur Substitution) eingenommen zu haben. Er sei unter Subutex verzweifelt und niedergeschlagen gewesen und habe alles abgebrochen. Er sei aggressiv gewesen, habe sich verfolgt und beobachtet gefühlt, wie früher während der Drogeneinnahme. Er nehme häufig zwei bis drei Tage hintereinander Heroin von früh bis spät. In seltenen Fällen nehme er drei Wochen lang nichts ein. Wenn er nichts nehme, leide er unter psychischen Problemen. Derzeit nehme er Seroquel. Außer Polamidon nehme er keine Drogen. Zwischen der Einnahme von Subutex und Polamidon habe er viel Alkohol (ein Liter Wodka täglich über vier bis fünf Monate) getrunken. Seit zwei Wochen trinke er nicht mehr. Im letzten Jahr habe er versucht, in der LKW-Reinigung zu arbeiten. Nach drei Wochen habe er aufgeben müssen, weil er es nicht geschafft habe. Der Sachverständige hat ausgeführt, beim Kläger bestehe eine Polytoxikomanie, das heißt eine Abhängigkeitserkrankung. Aus der Abhängigkeitserkrankung ließen sich viele psychische Symptome erklären wie Antriebsstörungen, Deprimiertheit, kognitive Beeinträchtigungen und vegetative Störungen, die zumindest als vorübergehende Entzugssymptome oder als Folge des Wechsels von Intoxikation und Entzug zu interpretieren seien. Außerdem bestehe ein durchgehendes depressives Syndrom mit Deprimiertheit, Antriebs-, Konzentrations- und Durchschlafstörungen. Die depressive Episode werde aktuell nicht behandelt. Da derzeit nicht feststellbar sei, ob es sich tatsächlich um eine depressive Episode oder um die Folge der Polamidongabe in Verbindung mit gelegentlichem Heroingebrauch handle, sollte am besten eine stationäre Behandlung mit Entzug oder deutlicher Reduktion von Substanzen und anschließend eine Überprüfung des psychopathologischen Befundes erfolgen. Unter Berücksichtigung der depressiven Symptome und des Gebrauchs von Opiaten seien nur sehr einfache körperliche Tätigkeiten ohne Anforderungen an die geistige Leistungsfähigkeit, das psychomotorische Tempo und die Übernahme von Verantwortung möglich. Hinzu komme die körperliche Beeinträchtigung, die im internistischen Gutachten genannt werde. Die Frage, ob Tätigkeiten sechs Stunden täglich möglich seien, sei schwer zu beantworten. Bei ausgeprägtem Opiatkonsum und den damit einhergehenden Veränderungen seien sechsstündige Tätigkeiten nicht mehr möglich. Andererseits könnte der Substanzkonsum zum Teil unterlassen und mittels des Ersatzmittels reduziert werden und es könnte eine Entwöhnungstherapie durchgeführt werden. Das depressive Syndrom allein würde sechsstündige Tätigkeiten nicht ausschließen. Bei Verzicht auf die Substanzen, nach einer Entwöhnungstherapie oder bei Modifikation des Substanzgebrauchs seien Tätigkeiten noch sechs Stunden täglich möglich. Eine sichere Leistungsbeurteilung wäre nur dann möglich, wenn eine Entwöhnungstherapie durchgeführt und anschließend der psychopathologische Befund erhoben würde.

In der mündlichen Verhandlung hat das SG den Kläger persönlich angehört. Auf die Niederschrift hierüber wird Bezug genommen.

Mit Urteil vom 23.11.2011 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Gewährung der Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung über den 30.06.2008 hinaus. Nach Beendigung der ersten Interferon-Therapie am 27.03.2008 seien die typischen Nebenwirkungen innerhalb der bis zum Ablauf der gewährten Zeitrente verbleibenden weiteren drei Monate insoweit abgeklungen, dass sie die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht mehr eingeschränkt hätten. Zum 01.07.2008 sei der Kläger trotz der bei ihm vorliegenden Gesundheitsstörungen wieder in der Lage gewesen, leichte Tätigkeiten sechs Stunden täglich zu verrichten. Das SG stütze seine Überzeugung auf die Zeugenauskünfte der Fachärzte Dr. L. und F ... Die insoweit abweichende Auskunft des behandelnden Hautarztes Dr. T. überzeuge nicht, weil der als neu mitgeteilte Befund eines Müdigkeitssyndroms eine der Nebenwirkungen der im Zeitpunkt der Auskunft längst abgeschlossene Interferontherapie gewesen sei und daher keinen neuen Befund darstelle und inzwischen entfallen sein müsste. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung während der Durchführung der zweiten Interferontherapie. Da nach den glaubhaften Angaben des Klägers diese Therapie erst im Februar 2010 begonnen und im Juni 2010 wieder abgebrochen worden sei, scheide eine über sechsmonatige Erwerbsminderung aufgrund von Nebenwirkungen dieser Therapie und eine darauf gestützte Zeitrente aus. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung aufgrund der von Prof. Dr. E. diagnostizierten Abhängigkeit von psychotropen Substanzen. Zwar halte das SG die Leistungsbeurteilung von Prof. Dr. E.(Leistungsvermögen des Klägers drei bis unter sechs Stunden) für überzeugend. Das SG sei aufgrund der Befragung des Klägers jedoch nicht davon überzeugt, dass spätestens im Juli 2010, dem letztmaligen Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, eine Erwerbsminderung eingetreten sei. So habe der Substanzgebrauch des Klägers stark geschwankt. Nach dem Ende der geringfügigen Beschäftigung des Klägers (16.04.2009) hätten ihn seine behandelnden Ärzte in ihren Auskünften vom 20.04.2009 bzw. 22.04.2009 nicht für erwerbsgemindert gehalten, wie oben dargelegt worden sei. Jedenfalls sei eine Erwerbsminderung nicht bis spätestens 31.07.2010, dem letztmaligen Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, eingetreten.

Gegen das am 01.12.2011 zugestellte Urteil hat der Kläger am 30.12.2011 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat. Traunecker auch leichte Tätigkeiten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt von drei Stunden täglich ausschließe. Es sei auch nicht nachvollziehbar, weshalb der Sachverständige Dr. G. angesichts der bei ihm gestellten Diagnosen von einem Leistungsvermögen von drei bis weniger als sechs Stunden täglich ausgehe. Hinzu kämen noch die von Prof. Dr. E. festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Auch insoweit sei nicht nachvollziehbar, dass er zu einem Leistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden komme. Sein Leistungsvermögen liege vielmehr unter drei Stunden täglich. Nicht nachvollziehbar sei auch, dass das SG aufgrund seiner Angaben in der mündlichen Verhandlung zum Ergebnis gelange, dass der Beikonsum von Heroin insgesamt deutlich rückläufig sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 23. November 2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. Juli 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm über den 30. Juni 2008 hinaus bis 30. Juni 2011 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erwidert, aus der Berufungsbegründung ergäben sich keine neuen Gesichtspunkte, die eine Änderung ihres bisherigen Standpunktes zuließen.

Der Senat hat zunächst Dr. Link von der St. J. O. schriftlich als sachverständigen Zeugen gehört und anschließend Arztbriefe und Entlassungsberichte beigezogen.

Dr. Link hat unter dem 02.07.2012 mitgeteilt, dass beim Kläger seit seiner Zeugenaussage vom 22.04.2009 eine wesentliche dauerhafte Änderung im Gesundheitszustand eingetreten sei. Aufgrund einer Lebergewebsentnahme am 26.10.2009 habe von einer signifikanten Zunahme der Leberfibrose ausgegangen werden müssen. Auch sei im Vergleich zur Voruntersuchung eine Leberzellverfettung von 60 % des Parenchymvolumens nachweisbar gewesen, so dass eine zusätzliche Noxe durch Alkoholkonsum angenommen werden müsse. Aufgrund der Zunahme der Leberfibrose hätten sie sich am 13.11.2009 zu einem nochmaligen antiviralen Behandlungsversuch entschlossen, worunter es therapiebedingt vorübergehend zum Auftreten typischer grippeähnlicher Beschwerden gekommen sei. Der Versuch der antiventralen Behandlung sei vom 13.11.2009 bis 15.02.2010 erfolgt. Wegen Kontaktverlust zum Kläger sei der Versuch am 15.02.2010 vorzeitig abgebrochen worden. Unter der erneuten antiviralen Behandlung habe der Kläger in der vierten Behandlungswoche über gastritisbedingte Oberbauchbeschwerden geklagt, die sich unter Einnahme von 40 mg Pantoprazol täglich nach dem 10.12.2009 gebessert hätten. In der achten Behandlungswoche habe der Kläger über Kopfschmerzen geklagt, die sich nach Einnahme von Novalgin-Tropfen Mitte Januar 2010 vollständig zurückgebildet hätten.

Vom 10.12.2012 bis 05.03.2013 hat sich der Kläger in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik M. Klinik an der L., befunden. Die dortigen Ärzte haben beim Kläger im Arztbrief vom 10.04.2013 eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome, Opioideabhängigkeit, Substitution mit Polamidon und Hepatitis C diagnostiziert. Kurz vor Entlassung hat der Kläger über Doppelbildersehen, Ohrenpfeifen und weiterhin Kopfschmerzen geklagt. Am 12.03.2013 hat sich der Kläger in der Notaufnahme der Neurologischen Klinik des O. Klinikums vorgestellt. Die dortigen Ärzte haben wegen des Tinnitus eine Vorstellung mit den MRT-Bildern beim HNO-Arzt sowie wegen der Doppelbilder eine stationäre Abklärung auf ihrer neurologischen Station vorgeschlagen. Vom 04.04.2013 bis 10.04.2013 ist der Kläger dann in der Neurologischen Klinik des O. Klinikums behandelt worden. Am 06.05.2013 erfolgte beim Kläger eine mikrovaskuläre Dekompression über eine suboccipitale Trepanation in der Neurochirurgischen Universitätsklinik Freiburg. Am 13.05.2013 ist der Kläger aus der dortigen stationären Behandlung entlassen worden.

Vom 29.05.2013 bis 26.06.2013 hat sich der Kläger zu einem Heilverfahren in der Rehaklinik K. in N. befunden. Die dortigen Ärzte haben beim Kläger im Entlassungsbericht vom 21.08.2013 folgende Diagnosen gestellt: 1. Tinnitus aurium rechts (Z.n. mikrovaskulärer Dekompression) 2. Rezidivierende depressive Störungen 3. Hepatitis C 4. Schwindel und Taumel 5. Opioidabhängigkeit, Substitution mit Polamidon. Sie entließen den Kläger als arbeitsunfähig und führten aus, aus neurologisch-psychiatrischer Sicht könnten dem Kläger derzeit keine regelmäßigen Tätigkeiten zugemutet werden. Eine Verlängerung der Zeitrente um ein weiteres Jahr (gerechnet ab heute) sei sinnvoll.

Die Beklagte hat dazu erklärt, Dr. S. gehe in seiner Stellungnahme vom 29.08.2013 davon aus, dass der Kläger in der Zeit vom 10.12.2012 (Aufnahme in der Klinik an der Lindenhöhe) bis zum 13.06.2014 voll erwerbsgemindert sei. Zum Zeitpunkt des Leistungsfalls am 10.12.2012 seien jedoch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt, da im maßgebenden Zeitraum vom 01.07.2007 bis 09.12.2012 lediglich sieben Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen belegt seien.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Die Berufung des Klägers ist auch begründet, da ihm über den 30.06.2008 hinaus Rente wegen voller Erwerbsminderung zusteht.

Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (s. hierzu § 43 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - SGB VI -). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI).

Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (s. hierzu § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).

Darüber hinaus ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI generell nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigten (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens drei bis unter sechs Stunden erwerbstätig sein kann, der Teilzeitarbeitsmarkt aber verschlossen ist (Gürtner in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Stand September 2013 § 43 SGB VI Rn. 58 und 30 ff.).

Eine Erwerbsminderung des Klägers, d.h. ein Absinken seiner beruflichen und körperlichen Leistungsfähigkeit auf ein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von weniger als sechs Stunden, lag auch über den 30.06.2008 hinaus bis zum 30.06.2011 vor. Dies ergibt sich im Wesentlichen aus der Gesamtwürdigung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen, insbesondere der Gutachten von Dr. G. vom 04.05.2010 und Prof. Dr. E. vom 25.05.2011 in Verbindung mit den sachverständigen Zeugenaussagen des Neurologen Farenkopf vom 20.04.2009, des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. T. vom 30.06.2009 sowie des Internisten Dr. L. vom 02.07.2012.

Beim Kläger lag in der streitigen Zeit eine Polytoxikomanie, das heißt eine Abhängigkeitserkrankung, vor. Aus der Abhängigkeitserkrankung lassen sich – wie Professor Dr. E. nachvollziehbar ausführt – viele psychischen Symptome erklären wie Antriebsstörungen, Deprimiertheit, kognitive Beeinträchtigungen und vegetative Störungen. Daneben bestand ein durchgehendes depressives Syndrom mit Deprimiertheit, Antriebs-, Konzentrations- und Durchschlafstörungen. Außerdem lag beim Kläger eine chronische Hepatitis C-Infektion mit Leberfibrose und Leberzellverfettung vor.

Die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen (Polytoxikomanie, depressives Syndrom, Hepatitis C und Nebenwirkungen der antiviralen Behandlung) haben über den 30.06.2008 hinaus bis 30.06.2011 dazu geführt, dass der Kläger nicht in der Lage war, mindestens sechs Stunden täglich zu arbeiten. Soweit das SG ein Herabsinken des Leistungsvermögens in der Zeit ab 01.07.2008 deswegen verneint, weil die typischen Nebenwirkungen der ersten Interferon-Behandlung, die am 27.03.2008 beendet gewesen sei, bis zum 30.06.2008 abgeklungen seien und das Müdigkeitssyndrom bis dahin entfallen sein müsste, berücksichtigt es nicht, dass auch der Neurologe F. in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 20.04.2009 über eine Vorstellung des Klägers vom 17.02.2009 – und damit nach dem 30.06.2008 – berichtet hat, anlässlich der der Kläger über eine Abnahme des Kurzzeitgedächtnisses und eine rasche psychophysische Erschöpfbarkeit geklagt hat. Angesichts dessen zweifelt der Senat nicht an der Feststellung von Dr. Traunecker, dass sich beim Kläger ein ausgeprägtes Fatigue-Syndrom eingestellt hat. Außerdem hat er nachvollziehbar dargelegt, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers nach dem 30.06.2008 nicht geändert, sich das Allgemeinbefinden vielmehr verschlechtert hat und es zu dem genannten ausgeprägten Fatigue-Syndrom gekommen sei. Darüber hinaus hat er über einen ausgedehnten Drogenrückfall Mitte 2008 berichtet, weswegen die Subutex-substitution am 09.06.2008 erneut aufgenommen worden sei. Ein chronisches Müdigkeitssyndrom hat Dr. Geiger aufgrund seiner Untersuchung am 08.04.2010 im Gutachten vom 06.05.2010 beim Kläger ebenfalls diagnostiziert. Dabei ist er davon ausgegangen, dass es sich dabei um Nebenwirkungen der seit November 2009 erneut durchgeführten antiviralen Behandlung handele und hat nicht berücksichtigt bzw. gewusst, dass diese Behandlung schon am 15.02.2010 abgebrochen wurde. Wegen des beim Kläger vorliegenden chronischen Müdigkeitssyndroms, der eingeschränkten Konzentrationsfähigkeit und der raschen muskulären Erschöpfung hat er die Leistungsfähigkeit des Klägers von seinem Fachgebiet zumindest ab November 2009 bis zur Untersuchung bzw. bis einige Wochen (8 – 12 Wochen) nach Ende der antiviralen Therapie auf drei bis unter sechs Stunden eingeschätzt und darüber hinaus darauf hingewiesen, dass bei der Leistungsbeurteilung auch die Auswirkungen des Abhängigkeitssyndroms und der depressiven Entwicklung zu berücksichtigen seien.

Selbst wenn aufgrund der Hepatitis C-Erkrankung und der antiviralen Behandlung nur für eine vorübergehende Zeit von November 2009 bis Mai/Juni 2010 ein unter sechsstündiges Leistungsvermögen anzunehmen wäre, gelangt der Senat aufgrund der Ausführungen von Prof. Dr. Ebert im Gutachten vom 25.05.2011 und den sachverständigen Zeugenaussagen des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. T. sowie des Internisten Dr. L. zu der Überzeugung, dass der Kläger wegen der daneben bestehenden Polytoxikomanie und des depressiven Syndroms nicht in der Lage war, ab 01.07.2008 Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten.

So führt Prof. Dr. E. aus, dass bei ausgeprägtem Opiatkonsum und den damit einhergehenden Veränderungen eine sechsstündige Tätigkeit nicht möglich sei. Der Umstand, dass er die Ansicht vertritt, bei Verzicht auf die Substanzen, nach einer Entwöhnungstherapie oder bei Modifikation des Substanzgebrauchs seien Tätigkeiten noch sechs Stunden täglich möglich, führt nicht dazu, dass man ein sechsstündiges Leistungsvermögen beim Kläger in der streitigen Zeit annehmen könnte, zumal ein Verzicht auf die Substanzen gerade nicht stattgefunden hat, sondern es vielmehr zu einem gravierenden Rückfall Mitte 2008 gekommen ist, wie der Senat der sachverständigen Zeugenaussage von Dr. T. vom 03.06.2009 entnimmt. Darüber hinaus hat sich der Allgemeinzustand des Klägers nach dem 30.06.2008 sogar noch verschlechtert, wie Dr. T. ebenfalls mitgeteilt hat. Eine Entwöhnungstherapie ist beim Kläger nicht erfolgt, und eine Modifikation des Substanzgebrauchs ist auch nicht feststellbar. Darüber hinaus führt Prof. Dr. E. aus, eine sichere Leistungsbeurteilung wäre erst nach einer Entwöhnungstherapie möglich, die jedoch bisher nicht durchgeführt worden ist. Die von Prof. Dr. E. aufgrund der Untersuchung vom 12.05.2011 abgegebene Leistungsbeurteilung besteht nach Überzeugung des Senats seit 01.07.2008, da eine wesentliche Änderung insbesondere eine Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers, seitdem nicht ersichtlich ist. Dies wird durch die oben genannte sachverständige Zeugenaussage von Dr. Traunecker sowie die Angaben des Klägers gegenüber Prof. Dr. E. bestätigt. Diesem gegenüber hat der Kläger angegeben, dass er unter der Einnahme von Subutex, die bis Juli 2010 erfolgt ist, verzweifelt, niedergeschlagen, aggressiv gewesen sei, sich verfolgt und bedroht gefühlt habe wie unter seiner Drogeneinnahme. Zwischen der Einnahme von Subutex und Polamidon hat der Kläger nach seinen Angaben viel getrunken (ein Liter Wodka täglich über vier bis fünf Monate), was durch die von Dr. L. erhobenen Befunde (Zunahme der Leberfibrose, Leberzellverfettung aufgrund Alkoholkonsum) bestätigt wird. Darüber hinaus hat der Kläger häufig zwei bis drei Tage hintereinander Heroin von früh bis spät eingenommen. Auch die Angaben des Diplom-Sozialpädagogen Rieger vom Fachverband für Prävention und Rehabilitation vom 28.08.2012 bestätigen, dass psychische Probleme seit langem mit Zuspitzung Ende 2009 mit Suizidgedanken bestanden.

Darüber hinaus ist es im weiteren Verlauf zu einer wesentlichen Verschlechterung gekommen, die am 10.12.2012 zu einem stationären Aufenthalt des Klägers in der Klinik an der L., M., wegen einer schweren depressiven Episode geführt hat, wobei im Entlassungsbericht der Klinik zwei Suizidversuche in den Jahren 2011 und 2012 erwähnt werden, während der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem SG zwei Suizidversuche im Jahr 2010 angegeben hat. Inzwischen geht auch die Beklagte ab dem 10.12.2012 von einem unter dreistündigen Leistungsvermögen aus.

Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der Senat – wie oben dargelegt – der Überzeugung, dass der Kläger über den 30.06.2008 hinaus bis 30.06.2011 insbesondere wegen der Polytoxikomanie und zusätzlich wegen des depressiven Syndroms nicht in der Lage war, Tätigkeiten mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten.

Die Rente war dem Kläger deswegen über den 30.06.2008 hinaus auf Zeit gemäß § 102 Abs. 2 S. 1 SGB VI bis zum 30.06.2011 weiter zu gewähren. Hierfür liegen die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vor, da die Rente unmittelbar im Anschluss an die bisher auf Zeit bis zum 30.06.2008 geleistete Rente zu gewähren ist.

Nach alledem war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger über den 30.06.2008 hinaus bis 30.06.2011 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Berufung des Klägers Erfolg hatte.

Gründe für eine Zulassung der Revision, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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