S 1 U 509/95

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 1 U 509/95
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 03.08.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.03.1995 verurteilt, bei dem Kläger die Berufskrankheiten Nr. 2108 (bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS) und Nr. 2109 (bandscheibenbedingte Erkrankung der HWS) nach der Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen und ihm eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. ab 01.10.1994 und 30 v.H. ab 01.02.1996 zu zahlen.

2. Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung der Berufskrankheit (BK) Nr. 2108 (bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (LWS)) und der BK Nr. 2109 (bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule (HWS)) nach der Anlage 1 der Berufskrankheitenverordnung (BKVO) beim Kläger sowie die Zahlung einer Verletztenrente aufgrund dieser BKen.

Der 1940 geborene Kläger hat folgenden beruflichen Werdegang ab dem 04.04.1955:
- 08.11.1958 als Lehrling, Hilfsarbeiter, Maurer bei der Firma FA1,
- 02.01.1960 als Maurer bei der Fa. FA2,
- 19.12.1964 als Soldat bei der Bundeswehr,
- 30.09.1994 als Einschaler und Betonbauer bei der Firma FA3. Anschließend war der Kläger arbeitslos, und seit dem 01.02.1996 bezieht er Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Aufgrund eines Anrufs des Klägers vom 14.09.1992 wegen der Anerkennung seiner Wirbelsäulenerkrankung als BK nahm die Beklagte als zuständiger Unfallversicherungsträger ihre Ermittlungen auf und zog bei:
• die Vorerkrankungsverzeichnisse von dessen Krankenkassen,
• ärztliche Unterlagen der behandelnden Ärzte (Arztbriefe Dr. C., C-Stadt, vom 09.09. und 12.02.1992; Befundbericht Dr. D., D-Stadt, vom 01.03.1993; Arztbrief Dr. E., D Stadt, vom 05.02.1993; die Musterungsunterlagen der Bundeswehr aus 1959; Befundberichte von Dr. F., C-Stadt, vom 04.03.1993; von Dr. G., G-Stadt, vom 24.03.1993 (mit weiteren ärztl. Unterlagen); von Dr. H., G-Stadt vom 25.03.1993; von Dr. J., C-Stadt, vom 28.07.1993; ärztl. Entlassungsbericht der Klinik am Park, Bad Schwalbach, über ein stationäres Heilverfahren vom 26.09. bis 31.10.1990 sowie der Klinik Sonnenblick, Marburg, über ein stationäres Heilverfahren vom 28.03. bis 25.04.1994; ärztliche Unterlagen über verschiedene Arbeitsunfälle des Klägers),
• eine Auskunft der letzten Arbeitgeberin, der Fa. FA3. Außerdem holte sie ein:
• eine Stellungnahme ihres Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) vom 14.09.1993, der pauschal die beruflichen Voraussetzungen bis zum 07.03.1991 bejahte, anschließend sei der Kläger als Aufsichtsführender ohne Gefährdung tätig gewesen,
• ein unfallchirurgisches Gutachten von Dr. K., K-Stadt, vom 17.05.1994, der die BK Nr. 2108 verneinte, weil nur L4 und L5 betroffen seien, und die BK Nr. 2109, weil keine ausreichende berufliche Belastung vorliege,
• eine Stellungnahme des Landesgewerbearztes vom 24.06.1994, der empfahl, die BKen Nr. 2108 und Nr. 2109 anzuerkennen, da eine ausreichende berufliche Exposition vorgelegen habe und wesentliche außerberufliche Schädigungsfaktoren nicht zu erkennen seien.

Mit Bescheid vom 03.08.1994 lehnte die Beklagte die Anerkennung der BK Nr. 2108 und der BK Nr. 2109 beim Kläger ab und bezog sich zur Begründung auf das Gutachten von Dr. K.

Der hiergegen am 18.08.1994 eingelegte Widerspruch wurde nach Beiziehung eines weiteren Arztbriefes von Dr. C. vom 28.05.1993 und Einholung einer Stellungnahme des Beratungsarztes Dr. L. vom 29.12.1994 mit Widerspruchsbescheid vom 02.03.1995 zurückgewiesen, weil bei der BK Nr. 2109 die beruflichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien und hinsichtlich der BK Nr. 2108 nur ein monosegmentaler Schaden vorläge.

In der am 30.03.1995 erhobenen Klage trägt der Kläger vor: Er habe pro Arbeitstag, der nicht nur 8, sondern 10 bis 12 Stunden täglich gedauert habe, im Durchschnitt 3 bis 4 Stunden täglich Gewichte von über 40 kg auf der Schulter getragen. Hierzu hat er nähere Angaben in einem Schreiben vom 04.11.1995 und in einem vom Gericht entwickelten Erhebungsbogen zur BK Nr. 2109 gemacht. Außerdem hat er ein Attest von Dr. D., D-Stadt, vom 11.05.1995 vorgelegt.

Das Gericht hat schriftliche Erklärungen der Fa. FA3 vom 10.01.1996 und des langjährigen Vorgesetzten des Klägers, Herrn M., vom 10.01.1996 beigezogen sowie ein orthopädisches Gutachten bei Dr. N., K-Stadt, vom 01.10.1996 eingeholt, das dieser in der mündlichen Verhandlung näher erläutert hat und der die Voraussetzungen für beide BKen bejaht hat.

Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03.08.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.03.1995 zu verurteilen, bei ihm die Berufskrankheiten Nr. 2108 und Nr. 2109 nach der Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen und ihm eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. ab 01.10.1994 und 30 v.H. ab 01.02.1996 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf eine Stellungnahme ihres TAD vom 02.05.1996 mit Belastungsdokumentationen der Arbeitsgemeinschaft der Bau-Berufsgenossenschaften und die schriftliche Stellungnahme ihres Beratungsarztes Dr. O. vom 04.12.1996 sowie dessen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung, der den Beurteilungen des Sachverständigen entgegengetreten ist.

Auf den Inhalt der genannten Unterlagen im übrigen wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht nach Durchführung des Vorverfahrens erhoben (vgl. §§ 87, 92, 78 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Sie ist auch begründet. Der Bescheid vom 03.08.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.03.1995 ist aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei dem Kläger die BK Nr. 2108 und die BK Nr. 2109 anzuerkennen und ihm aufgrund dieser eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. ab 01.10.1994 und von 30 v.H. ab 01.02.1996 zu zahlen.

1. Die Anerkennung der BKen BKen sind Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BK bezeichnet und die Versicherte infolge einer in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Tätigkeit erleiden (seit 01.01.1997: § 9 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - SGB - VII; vorher inhaltsgleich: § 551 Abs. 1 Satz 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -). In der Anlage 1 der BKVO sind als eine solche BK bezeichnet worden unter Nr. 2108 "bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können" sowie unter Nr. 2109 "bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anerkennung dieser BKen sind, abgesehen von unterschiedlichen Begrifflichkeiten im einzelnen:
1. eine bestimmte berufliche Tätigkeit/Belastung/Exposition,
2. eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lenden- oder Halswirbelsäule,
3. ein Kausalzusammenhang zwischen der Tätigkeit und dieser Erkrankung,
4. der sogenannte Unterlassungszwang.

Die nähere Definition dieser Voraussetzungen ist zur Zeit unklar und umstritten (vgl. z.B. zu den beruflichen Voraussetzungen: Becker, SozSich 1995, 100 ff.; Bonnermann u.a., BG 1994, 688 ff.; zum Kausalzusammenhang: Erlenkämper, BG 1996, 846 ff.).

Im vorliegenden Fall sind diese vier Tatbestandsmerkmale sowohl für die BK Nr. 2108 als auch für die BK Nr. 2109 erfüllt.

a) BK Nr. 2108 (1) Die berufliche Voraussetzung "langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten" während seiner versicherten Tätigkeit wird vom Kläger erfüllt. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten und steht zur Überzeugung des Gerichts aufgrund der ca. 30jährigen Tätigkeit des Klägers als Einschaler und Betonbauer sowie der Stellungnahme des TAD der Beklagten fest. Dies gilt auch für die Zeit von Sommer 1991 bis zum Ausscheiden am 30.09.1994, nachdem der Kläger zunächst als Aufsichtsführender tätig war, aber anschließend wieder normale Arbeiten wie vorher verrichten mußte, aufgrund der glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung.

(2) Der Kläger leidet auch an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS.

Der hier maßgebliche Begriff der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS ist in der Begründung der 2. Verordnung zur Änderung der BKVO, mit der die BK Nr. 2108 und die BK Nr. 2109 eingeführt wurden (BR-Drs 773/92 S. 8), wie folgt definiert worden: "Bandscheibendegeneration (Dyskose). Instabilität im Bewegungssegment, Bandscheibenvorfall (Prolaps). degenerative Veränderung der Wirbelkörperabschlußplatten (Osteochondrose), knöcherne Ausziehungen an den vorderen und seitlichen Randleisten der Wirbelkörper (Spondylose). degenerative Veränderungen der Wirbelgelenke (Spondylarthrose) ".

Diese Voraussetzung ist erfüllt, weil der Kläger an einem Bandscheibenvorfall L4/L5 und an einer Osteochondrose L5/S1 mit erheblichen Funktionsstörungen der unteren LWS leidet. Dies steht zur Überzeugung des Gerichts fest aufgrund des Gutachtens von Dr. N. Das Gericht folgt diesem Gutachten, da es aufgrund vorangegangener körperlicher Untersuchung des Klägers und unter Berücksichtigung der von ihm vorgetragenen Beschwerden sowie der vorliegenden Unterlagen der übrigen Ärzte erstattet wurde. Das Gutachten selbst ist hinreichend wissenschaftlich begründet und läßt Widersprüche zwischen Befunderhebung und Beurteilung nicht erkennen. Aus dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten von Dr. K. ergibt sich nichts anderes, zumal es keine klaren Diagnosen der vorliegenden Wirbelsäulenerkrankungen des Klägers enthält. Auch aus den weiteren ärztlichen Unterlagen ergibt sich nichts, was diese Diagnose erschüttern könnte, und von der Beklagten wurde diese Voraussetzung zumindest zuletzt nicht mehr bestritten.

(3) Diese bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS des Klägers ist auch durch dessen berufliche Tätigkeit nach der im Sozialrecht geltenden Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung verursacht worden.

Nach dieser wird nicht jedes Glied innerhalb einer Kausalkette, die zu einem bestimmten Erfolg geführt hat, als Ursache angesehen. Vielmehr ist entgegen einem abstrakt philosophischen Begriff der Ursache entsprechend der Auffassung des praktischen Lebens nur diejenige Bedingung Ursache im Sinne des Sozialrechts, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt "wesentlich" mitgewirkt hat (so schon RVA, AN 1912, 930 f.; übernommen vom BSG, BSGE 1, 72, 75; 1, 150, 156; vgl. im übrigen Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 5. A. 1993, 66 f. m.w.N.). Für die Feststellung dieses Kausalzusammenhangs genügt (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, ein Vollbeweis ist nicht erforderlich (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., 103 f. m.w.N.).

Die Anwendung dieser - von keiner Seite in Frage gestellten - Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung bei der Kausalitätsbeurteilung der Wirbelsäulen-Berufskrankheiten ist umstritten. Zumal nach der überwiegenden Auffassung in der medizinischen Wissenschaft (vgl. Bolm-Audorff, MedSach 90 (1994), 165, 167; Brandenburg, MedSach 90 (1994), 156; Ludolph/Schröter, BG 1993, 738, 740), wie auch der in der mündlichen Verhandlung gehörte Sachverständige Dr. N. bestätigte, eine durch berufliche Belastungen entstandene bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS vom röntgenologischen und klinischen Bild her nicht von einer durch andere Ursachen entstandenen unterschieden werden kann.

Ausgehend von der Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung und der Gesetzesbindung des Gerichts ist für die Entscheidungsfindung aus juristischer Sicht von folgenden Grundlagen auszugehen:
1. In jedem Einzelfall ist eine konkrete, individuelle Kausalitätsbeurteilung notwendig.
2. Diese Kausalitätsbeurteilung muß davon ausgehen, daß der Verordnungsgeber mit der Einführung der Wirbelsäulen-Berufskrankheiten grundsätzlich anerkannt hat, daß bestimmte berufliche Belastungen zu bandscheibenbedingten Erkrankungen der Wirbelsäule führen, die als BK anzuerkennen sind (zur näheren Begründung vgl. BR-Drs 773/92, S. 7 - 9). Medizinische Auffassungen, die dies in Abrede stellen, sind bis zu einer entsprechenden Änderung der BKVO rechtlich irrelevant (ebenso: Erlenkämper, BG 1996, 846, 849).
3. Dies bedeutet nicht, daß immer, wenn eine entsprechende berufliche Belastung und eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS zusammentreffen, der Kausalzusammenhang automatisch gegeben ist, weil auch mögliche andere Ursachen zu berück sichtigen sind. Diese konkurrierenden Ursachen müssen aber feststehen und dann ist eine Abwägung zwischen ihnen und der beruflichen Belastung nach der Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung erforderlich (vgl. Erlenkämper, a.a.O., 853 ff. m.w.N.).

Nach diesen rechtlichen Maßstäben sowie der jeweiligen internen Schlüssigkeit sind die zur Beurteilung des Kausalzusammenhangs seitens der (medizinischen) Wissenschaft vertretenen Positionen wie folgt zu bewerten:

Das von Hartung/Dupuis (BG 1994, 452 ff.) und Pangert/Hartmann (Zbl Arbeitsmed. 44 (1994), 124 ff.) vertretene Modell einer Gesamtbelastungsdosis ist zumindest derzeit als Entscheidungsgrundlage nicht verwertbar. Dieses Modell versucht, bei der BK Nr. 2108 ähnlich wie bei der BK Nr. 2110 eine Gesamtbelastungsdosis der LWS des jeweiligen Versicherten für sein ganzes Arbeitsleben zu berechnen. Liegt diese individuelle Gesamtbelastungsdosis über einem bestimmten Richt- oder Orientierungswert, so wird der Zusammenhang bejaht. Gegen diesen Ansatz sprechen seine innere Widersprüchlichkeit bzw. Unausgereiftheit und die mangelnde individuelle Beurteilung:
• Die in einem Arbeitsleben wie im vorliegenden Fall von ca. 30 Jahren mit jeweils ca. 220 Arbeitsschichten über 8 oder mehr Stunden hinweg gehobenen bzw. getragenen Gewichte sind nicht im entferntesten derart exakt schätz- oder gar berechenbar, wie es für ein derartiges Modell erforderlich wäre, weil kleine Unterschiede im Tätigkeitsablauf erhebliche Auswirkungen auf die Berechnung haben (vgl. Jäger/Luttmann, MedSach 90 (1994), 160 ff.).
• Den Berechnungen des Richtwertes liegt ein Idealmensch männlichen Geschlechts, einer Körpergröße von 175 cm, einem Gewicht von 75 kg, ohne Rücksicht auf das Alter usw. zugrunde (vgl. Jäger/Luttmann a.a.O.). Seine "Werte" sind nicht ohne weiteres auf den konkreten Versicherten übertragbar.
• Die der Berechnung des Richtwertes zugrunde liegende Ausgangsbelastung von 3400 N bei Männern ist ein präventiv-medizinischer Wert, der nicht als Grundlage für die Kausalitätsbeurteilung herangezogen werden kann, weil zwischen präventiv-medizinischen Belastungsgrenzen und Richtwerten für eine Kausalitätsbeurteilung zu unterscheiden ist (vgl. Mehrtens/Perlebach, Berufskrankheitenverordnung, M 2108, S. 16).
• Die von den Vertretern dieser Position "errechneten" Richtwerte reichen von 1,1 x 109 Ns (Pangert/Hartmann, a.a.O., 127) bis 4,5 x 1010 Ns (Hartung/Dupuis, a.a.O., 158), während Kritiker eine Grenze von 3 x 107 bis 6 x 108 Ns für angemessen halten (Jäger/Luttmann, in: Heben und Tragen von Lasten, hrsg. v. Thüringer Ministerium für Soziales und Gesundheit, 1995, 15, 29). Schon diese Spannweiten um mehrere Zehnerpotenzen zeigen, daß dies kein Ansatz ist, der einer wenn auch nur mit Wahrscheinlichkeit erforderlichen richterlichen Überzeugungsbildung zugrunde gelegt werden kann.

Hansis (BG 1995, 433) hat folgende "Hamburger Formel" vorgeschlagen, um eine Bewertungslinie für die einheitliche gutachterliehe Wertung zu erhalten:
• ein - oder mehrsegmentaler Schaden,
• Kongruenz zwischen Lokalisation von Schmerzen, Lasteinwirkung, Funktionseinschränkung und röntgenologisch feststellbarem Schaden,
• Ausschluß anderer Erkrankungen.
Ludolph/Schröter (BG 1993, 738 ff.) stellen ähnliche Voraussetzungen auf und fordern darüber hinaus, daß mehr als eine bzw. zwei Bewegungssegmente betroffen sind. Seehausen (MedSach 91 (1995), 203 ff.; dsl., BG 1996, 444 ff.) hat ausgehend von ähnlichen Kriterien wie in der Hamburger Formel einen BK-Score entwickelt, um die Vergleichbarkeit der individuellen Beurteilungen zu verbessern. Nach diesem werden für die einzelnen Kriterien (z.B. belastungsadäquate Lokalisation der Erkrankung) Punkte vergeben und ab einer bestimmten Punkthöhe je nach dem Ausmaß der beruflichen Belastung der Kausalzusammenhang bejaht. Bolm-Audorff (MedSach 90 (1994), 165 ff.) vertritt einen an epidemologischen Erkenntnissen ausgerichteten Ansatz, nach dem die Kausalität bejaht wird, wenn eine ausreichend hohe und lang andauernde Exposition vorgelegen hat, um das Risiko für eine bandscheibenbedingte Erkrankung um mehr als den Faktor 2 im Vergleich zur übrigen Bevölkerung zu erhöhen. Ein solcher Risikoberuf für die BK Nr. 2108 sei u.a. Betonbauer.

Die Hamburger Formel ist ein guter Ansatz für eine individuelle Beurteilung, weil sie die auch in den anderen Vorschlägen (vgl. zudem Brandenburg, MedSach 90 (1994), 156, 158) angewandten Kriterien im wesentlichen beinhaltet. Sie birgt aber die Gefahr in sich, daß vom Sachverständigen über die grundsätzliche Wertung des Verordnungsgebers hinaus (siehe oben die Nr. 2 der juristischen Grundlagen) weitere eigene Voraussetzungen für die Bejahung des Kausalzusammenhanges eingeführt werden. Eindrücklich wird dies an der einengenden Voraussetzung "mehr als ein bzw. zwei Bewegungssegmente betroffen" von Ludolph/Schröter deutlich, für die es keine juristische oder medizinische Grundlage gibt (vgl. hierzu im übrigen das überzeugende Urteil des LSG NRW vom 26.09.1995 - L 15 U 89/95 sowie den Beschluss des BSG vom 31.05.1996 - 2 BU 237/95). Gegen ein solches Vorverständnis des medizinischen Sachverständigen hilft auch der BK-Score von Seehausen nicht. Zumal in die Punktbewertung konkurrierende Ursachen (wie z.B. prädiskotische Erkrankungen) neben anderen Kriterien wie Lokalisation und zeitliche Erstmanifestation miteinfließen, was bei der Kausalitätsbeurteilung eine klare Trennung zwischen beruflicher Belastung und konkurrierenden Ursachen verhindert. Bolm-Audorffs Ansatz trägt am ehesten der Wertentscheidung des Verordnungsgebers Rechnung, die Wirbelsäulen-Berufskrankheiten einzuführen. Er muß jedoch dahingehend modifiziert werden, daß in jedem Einzelfall eine individuelle Kausalitätsbeurteilung unter Berücksichtigung möglicher anderer Ursachen notwendig ist.

Zusammenfassend sind der erforderlichen individuellen Kausalitätsbeurteilung folgende Kriterien zugrunde zu legen:
1. die berufliche Wirbelsäulenbelastung nach Art und Ausmaß sowie Eignung zur Verursachung der konkreten Erkrankung hinsichtlich Art und Ausprägung, Lokalisation und Erkrankungsverlauf,
2. die Berücksichtigung bzw. der Ausschluß anderer Ursachen wie
• Schadensanlagen (statische, entzündliche, unfallbedingte),
• außerberufliche Wirbelsäulenbelastungen.
Liegen keine anderen Ursachen außer einer entsprechenden beruflichen Belastung vor, so ist die vorliegende bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS als BK Nr. 2108 anzuerkennen. Liegt eine andere Ursache vor, so hat eine Abwägung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu erfolgen.

Nach diesen Voraussetzungen ist die bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS des Klägers durch dessen berufliche Tätigkeit nach der im Sozialrecht geltenden Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung verursacht worden. Dies steht zur Überzeugung des Gerichts ebenfalls aufgrund des schon genannten Gutachtens von Dr. N. und seinen Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung fest.

Der Sachverständige hat ausgeführt: Die LWS-Erkrankung des Klägers sei ein belastungs-adäquates Krankheitsbild und ihre Lokalisation entspreche der beruflichen Belastung; auch der Erkrankungsverlauf sei typisch (Gutachten S. 37 = BI. 126 Gerichtsakte). Eine allgemeine Neigung zu degenerativen Erkrankungen des Skelettsystems, insbesondere der Wirbelsäule sei bei dem Kläger nicht gegeben (a.a.O.). Andere Ursachen, die als wesentliche Teilursachen zu berücksichtigen wären, lägen beim Kläger nicht vor: Die Adipositas und die Skoliose seien nicht so schwerwiegend; die von Dr. K. angeführte Stoffwechselstörung sei nicht in der Lage entsprechende Veränderungen herbeizuführen (Gutachten S. 38 = BI. 127 Gerichtsakte). Der Beratungsarzt der Beklagten Dr. O. hat weder in seiner Stellungnahme vom 04.12.1996 noch in der mündlichen Verhandlung diese konkreten medizinischen Feststellungen in Abrede gestellt, insbesondere keine prädikativen Erkrankungen des Klägers behauptet. Aufgrund dieser tatsächlichen, medizinischen Feststellungen und der obigen juristischen Ausführungen kann die Bejahung des Kausalzusammenhanges zwischen der beruflichen Belastung und der LWS-Erkrankung bei dem Kläger durch den Sachverständigen nur als logisch und nachvollziehbar angesehen werden, weil keine konkurrierenden Ursachen zur beruflichen Belastung vorliegen und auch das obige erste Kriterium für die Kausalitätsbeurteilung nach den Ausführungen von Dr. N. erfüllt ist. Die Abweichungen zum Gutachten von Dr. K. aus dem Verwaltungsverfahren, der sich nicht derart intensiv mit der Kausalitätsbeurteilung auseinandersetzte wie Dr. N. und die Kausalität aufgrund der oben schon als nicht überzeugend angesehenen Position zum monosegmentalen Schaden verneinte, ist aus diesen Gründen nachvollziehbar. Aus den übrigen ärztlichen Unterlagen ergibt sich nichts, was das Gutachten von Dr. N. erschüttern könnte, insbesondere die Stellungnahme des Beratungsarztes Dr. L. aus dem Vorverfahren stützte sich im wesentlichen auf das Gutachten von Dr. K. und kann von daher nicht überzeugen, der Landesgewerbearzt hatte in seiner Stellungnahme empfohlen, die BK Nr. 2108 beim Kläger anzuerkennen.

Die von der Beklagten geltend gemachten allgemeinen Bedenken gegen die Kausalitätsbeurteilung von Dr. N. vermögen diese ebenfalls nicht zu erschüttern:
• Der allgemeine Alterungsprozeß, dem der Kläger ebenso wie jeder andere unterworfen war, ist nicht als eigenständige Teilursache anzuerkennen. Denn nach den glaubhaften Ausführungen des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung gibt es keinen Automatismus zwischen Alter und degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule. Es gibt kein wissenschaftlich gesichertes Maß an Bandscheibenverschleiß aufgrund eines bestimmten Alters. Fest stände nur, daß es einen Zusammenhang zwischen hohen Belastungen und starken Veränderungen der Wirbelsäule gebe.
• Ein monosegmentaler Schaden liegt beim Kläger nicht vor, weil nach den obigen Feststellungen die Bandscheibe L4/5 und L5/S1 betroffen sind.
• Warum gerade diese und nicht andere Bandscheiben betroffen sind, vermochte der Sachverständige in Übereinstimmung mit der von ihm zitierten medizinischen Literatur (Ludolph, ASU 1996, 333 ff.) nicht zu erklären, weil insofern noch medizinischer Forschungsbedarf bestände. Auf die Antwort auf diese Frage kommt es zur Beurteilung des Kausalzusammenhangs auch nicht an: Denn eine Konsequenz aus der Antwort auf die Frage, warum die eine Bandscheibe geschädigt ist und die andere nicht, für die Kausalitätsbeurteilung bei der einen Bandscheibe ist nicht zu erkennen. Ein Umkehrschluß oder ähnliches von der anderen Bandscheibe auf die eine ist nicht möglich, weil sowohl hinsichtlich der mitversicherten genetischen Disposition (vgl. Erlenkämper, BG 1996, 846 f., 849) als auch hinsichtlich der Lasteinwirkung gerade beim Heben von Gewichten Unterschiede zwischen den einzelnen Bandscheiben einer Wirbelsäule bestehen können. Denn Heben wirkt bekanntlich nicht gleichmäßig auf alle LWS-Segmente ein, sondern auf die beiden unteren am stärksten. Entscheidend ist die Beurteilung des Kausalzusammenhangs bei der jeweiligen Bandscheibe nach den oben genannten 2 Kriterien, insbesondere berufliche Belastung usw. sowie anderen konkurrierenden Ursachen. Und nach diesen Kriterien sind vorliegend die Voraussetzungen für den Kausalzusammenhang erfüllt.
• Daraus, daß der Kläger erst mit ca. 52 Jahren einen Bandscheibenvorfall hatte und nicht schon früher, folgt rein logisch nichts gegen den Kausalzusammenhang, im Gegenteil: Dies spricht vielmehr dafür, wie gut die Wirbelsäule des Klägers war und wie lange sie trotz der unbestrittenen - erheblichen Belastungen durchgehalten hat, so daß mangels feststehender anderer Ursachen der Grund für die heutige Wirbelsäulenerkrankung des Klägers nur die berufliche Belastung sein kann.

(4) Der Kläger war durch diese bandscheibenbedingte LWS-Erkrankung gezwungen, seine vorherige berufliche Tätigkeit als Einschaler ab 01.10.1994 zu unterlassen, und hat dies auch getan, sogenannter Unterlassenszwang.

Für die Erfüllung dieses Tatbestandsmerkmals genügt es, daß die Tätigkeitsaufgabe objektiv aus medizinischen Gründen notwendig war und daß sie tatsächlich erfolgte. Welche subjektiven Vorstellungen der Versicherte hatte oder ob andere Gründe (z.B. die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber) zur Tätigkeitsaufgabe geführt haben, ist unerheblich (vgl. Benz, SGb 1996, 528). Da diese Voraussetzung erfüllt ist, ist ein näheres Eingehen auf die gegen sie erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. Keller, SozVers 1995, 265 f.; Riecke, in: Kasseler Kommentar, RVO § 551 Rn 26) entbehrlich.

Die Tätigkeitsaufgabe ergibt sich aus dem Ausscheiden des Klägers aus dem Erwerbsleben zum 01.10.1994. Die medizinische Notwendigkeit zur Aufgabe der Arbeit als Einschaler zu diesem Zeitpunkt steht zur Überzeugung des Gerichts aufgrund des Gutachtens von Dr. N. und seinen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung fest. Dr. N. hat ausgehend von seiner Untersuchung des Klägers am 25.09.1996 auf die Problematik einer derartigen rückwirkenden Feststellung hingewiesen und aufgrund der glaubhaften Angaben des Klägers über seine ärztlichen Behandlungen, Krankengymnastik usw. den medizinischen Unterlassanszwang zumindest ab dem Tag der Arbeitsaufgabe bejaht. Für die Zeit vorher hat Dr. N. in der mündlichen Verhandlung ein Arbeiten des Klägers zu Lasten seiner Gesamtgesundheit angenommen. Da von seiten der Beklagten hiergegen keine durchgreifenden Bedenken vorgebracht wurden und auch aus dem restlichen Akteninhalt keine zu erkennen sind, ist das Gericht auch insofern von den Feststellungen von Dr. N. überzeugt.

b) BK Nr. 2109 Auch die BK Nr. 2109 ist beim Kläger anzuerkennen, weil alle vier obengenannten Tatbestandsmerkmale gegeben sind.

(1) Die berufliche Voraussetzung "langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter" während seiner versicherten Tätigkeit ist beim Kläger erfüllt.

Die einzelnen Elemente dieser Voraussetzungen sind:
(a) schweres Tragen auf der Schulter
(b) mit einer gewissen Regelmäßigkeit (dies betrifft den Zeitanteil pro Schicht)
und
(c) Häufigkeit (dies betrifft die Anzahl der Schichten pro Jahr)
sowie
(d) Langjährigkeit.

Wie die einzelnen Elemente dieser Voraussetzung genau zu definieren sind, ist umstritten (vgl. Becker, SozSich 1995, 100, 101 ff.; Bonnermann, BG 1994, 658; Brandenburg, BG 1993, 791, 794 ff.). Die "Gesetzesmaterialien", d.h. die BR-Drs 773/92, enthalten insofern keine Aussage. Das vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebene Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zur BK Nr. 2109 (veröffentlicht: Bundesarbeitsblatt 3/1993, 53 ff.) ist in keinster Weise verbindlich, sondern ein bloßer Hinweis für Allgemeinärzte (vgl. Becker, a.a.O.). Selbst wenn die mehrheitlich vertretenen Werte (vgl. das BMA-Merkblatt; Bonnermann, a.a.O.) für die einzelnen Elemente zugrunde gelegt werden wie für
a) das zu tragende Gewicht 50 kg,
c) mindestens die Hälfte der Arbeitsschichten pro Jahr,
d) mindestens 10 Jahre,
muß deutlich darauf hingewiesen werden, daß dies keine Ausschlußkriterien oder klare Grenzwerte sind, sondern Orientierungswerte, die im Einzelfall durchaus unterschritten werden können. So z.B. das BMA-Merkblatt (a.a.O., S. 55) ausdrücklich für (d) die Langjährigkeit. Insofern besteht aber weiterer Klärungsbedarf: Warum sollen für die Häufigkeit bei der heutigen 5-Tage-Woche nicht 2/5 der jährlichen Arbeitsschichten also durchschnittlich zwei pro Woche genügen (vgl. Brandenburg, BG 1993, 791, 796)? Völlige Unklarheit besteht hinsichtlich des Elementes (b) gewisse Regelmäßigkeit (also der erforderlichen Dauer pro Schicht). Weder dem BMA-Merkblatt noch anderen Veröffentlichungen sind eigenständige Angaben zur BK Nr. 2109 zu entnehmen. Hingewiesen wird insofern immer nur - ohne konkrete Zeitangaben - auf die Fleischträger. Ein Blick auf die BK Nr. 2108 hilft nicht weiter, weil hier die Werte zwischen einer halben und drei Stunden pro Schicht sowohl in den Veröffentlichungen (vgl. Becker, a.a.O., 102 f.) als auch bekanntermaßen in der Verwaltungspraxis der Unfallversicherungsträger schwanken. Bei den im BMA-Merkblatt zur BK Nr. 2108 mitgeteilten Studien liegt die erforderliche Regelmäßigkeit bei ca. 12 % der Schicht, bei 8 Stunden wäre dies knapp 1 Stunde, bzw. bei 40 Hüben vor, so daß das Gericht (b) die gewisse Regelmäßigkeit zumindest ab einer Tragezeit von 1 Stunde pro Schicht bejaht.

Unabhängig von einer genauen Definition weiterer Elemente sind die beruflichen Voraussetzungen beim Kläger jedenfalls gegeben. Er hat während seiner Arbeit als Einschaler Gewichte von 50 kg und schwerer, nämlich Kanthölzer, Eisenschienen, Holzträger und -sprieße, zumindest für ca. 1 Stunde pro Schicht in mehr als der Hälfte der Arbeitsschichten von 1968 bis 1994 auf der Schulter getragen. Dies steht zur Überzeugung des Gerichts fest aufgrund der Erklärungen des Klägers im Laufe des Verfahrens sowie der während des Gerichtsverfahrens eingeholten schriftlichen Erklärungen seiner früheren Arbeitgeberin und seines Vorarbeiters, die diese Angaben beinhalten.

Durch die gegenteilige Stellungnahme des TAD der Beklagten wird dies nicht erschüttert. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß dieser sich insbesondere auf die von der Beklagten und anderen Bau-BGen erstellte Belastungsdokumentation für bestimmte Berufe stützt, deren empirische Grundlagen von der Beklagten weder in diesem Verfahren noch an anderer Stelle offengelegt wurden. Da diese Belastungsdokumentationen jedoch von den TAD der beteiligten Bau-BGen erstellt wurden, kann davon ausgegangen werden, daß sie Ausdruck deren langjähriger beruflicher Erfahrung sind und damit eine (!) wichtige Beurteilungsgrundlage. Sie sind angesichts ihres Umfangs, detailierten Beschreibung und differenzierten Bewertung anderen stärker pauschalierenden Verfahren, wie insbesondere dem Modell einer Gesamtbelastungsbewertung von Hartung/Dupuis und Pangert/Hartmann (s.o. 1. a) (3)), deutlich überlegen. Letztlich handelt es sich bei diesen Belastungsdokumentationen um pauschalierende Setzungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung, die aber keine Bindungswirkung für den vorliegenden Einzelfall haben (so auch ganz klar die "Anwendungshinweise" in den neueren Auflagen der Belastungsdokumentationen). Dies ist ein weiterer entscheidender Vorteil der Belastungsdokumentation: Ist sie zwischen den Beteiligten nicht umstritten - wie vorliegend bei der BK Nr. 2108 - so kann sie aufgrund ihrer Nachvollziehbarkeit ohne weiteres einer Entscheidung des Gerichts zugrunde gelegt werden. Ist sie umstritten, so kann der Kläger relativ genau zu einzelnen Punkten Stellung nehmen und das Gericht ggf. Beweis erheben. Zur Entscheidung des vorliegenden Falls folgt das Gericht nicht der Belastungsdokumentation, die das Tragen von entsprechenden Gewichten auf der Schulter auf nicht größer als 5 % einer Schicht und damit auf ca. 1/2 Stunde schätzt, sondern stützt sich auf die schon genannten konkreten klägerbezogenen Angaben des Klägers, seines langjährigen Vorarbeiters und seiner Arbeitgeberin. Denn diese Angaben stimmen im Kern überein, wurden getrennt von einander erhoben und ein persönliches Interesse des Vorarbeiters oder der früheren Arbeitgeberin - und sei es auch nur "dem Kläger zu helfen" - ist nicht zu erkennen, zumal er schon vor Jahren aus der Firma ausgeschieden ist. Im übrigen ist die Differenz zwischen einer und einer halben Stunde nicht so hoch, daß sie völlig unwahrscheinlich ist. Auch daraus, daß der Kläger zumindest einen Teil der Stellungnahme des TAD im Verwaltungsverfahren, in der das Vorliegen der beruflichen Voraussetzungen pauschal bejaht wurde, unterschrieben hat, folgt nichts anderes, da der Kläger nach dem persönlichen Eindruck des Gerichts von ihm anläßlich der Erörterung seines Schreibens vom 04. November 1995 in der mündlichen Verhandlung den Inhalt des Unterschriebenen nicht voll überblickt hat.

(2) Der Kläger leidet auch an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Halswirbelsäule. Hinsichtlich des maßgeblichen Begriffes der bandscheibenbedingten Erkrankung der HWS wird auf die oben wiedergegebene Definition aus der Bundesrats-Drucksache (BR-Drs 773/92) verwiesen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, weil der Kläger an einer Spondylosis deformans und einer Osteochondrose im Bereich C 3/4 und C4/5 leidet. Dies steht zur Überzeugung des Gerichts fest aufgrund des Gutachtens von Dr. N., dem das Gericht auch insofern aus den obengenannten Gründen folgt. Von der Beklagten wird dies nicht bestritten und aus den anderen ärztlichen Unterlagen ergibt sich nichts Gegenteiliges.

(3) Diese bandscheibenbedingte Erkrankung der HWS des Klägers ist auch durch dessen berufliches langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter nach der im Sozialrecht geltenden Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung verursacht worden.

Hinsichtlich der Grundlagen dieser Theorie und deren Anwendung bei den Wirbelsäulen Berufskrankheiten wird auf die obigen Ausführungen unter 1. a) (3) verwiesen. Nach diesen Voraussetzungen ist die bandscheibenbedingte Erkrankung der HWS des Klägers durch dessen berufliche Tätigkeit verursacht worden. Dies steht zur Überzeugung des Gerichts ebenfalls aufgrund des schon genannten Gutachtens von Dr. N. sowie dessen Aussagen in der mündlichen Verhandlung fest.

Der Sachverständige hat ausgeführt: Die HWS-Erkrankung des Klägers sei ein belastungsadäquates Krankheitsbild und anlagebedingte, statische, entzündliche, unfallbedingte oder außerberufliche Ursachen, die als Erklärung für die Erkrankung in Frage kämen, lägen nicht vor (Gutachten S. 38 = BI. 127 Gerichtsakte). Ausgehend von einem Tragen von Gewichten von 50 kg und schwerer für 50 bis 60 Minuten pro Schicht sei der Kausalzusammenhang bei dem Kläger gegeben. Auch der spätere Beginn der HWS-Erkrankung und der zeitlich verschobene Verlauf, verglichen mit der LWS Erkrankung, spreche für einen Zusammenhang, da die HWS zeitlich in geringerem Umfang belastet worden sei (Gutachten S. 40 = BI. 129 Gerichtsakte). Gegenüber dem Einwand der Beklagten, daß die HWS des Klägers erst in 1992 im Röntgenbefund beginnende, aber noch nicht gesicherte und erst im September 1996, also rund 2 Jahre nach Tätigkeitsaufgabe, starke Veränderungen gezeigt habe, hat der Sachverständige überzeugend ausgeführt: Auch nach dem Ende einer Exposition könne eine degenerative Veränderung der Wirbelsäule fortschreiten, wenn zuvor der "Damm gebrochen" ist. Ein solcher "Dammbruch" wäre z.B., wenn der Nukleus nicht mehr den früheren Druck habe oder der Bandscheibenring degenerative Veränderungen aufweise und in Ansätzen zermürbt sei. Dieses Voranschreiten sei eher die Regel. Beim Kläger seien schon in den Röntgenaufnahmen vom 30.03.1993 (S. 15 des Gutachtens = BI. 104 Gerichtsakte), als er noch belastend arbeitete, erhebliche Befunde festgestellt worden.

Das Gericht folgt dem Sachverständigen Dr. N. auch hinsichtlich dieser Kausalitätsbeurteilung aus folgenden Gründen: Entsprechend den obigen grundsätzlichen Ausführungen zur Kausalitätsbeurteilung ist die Bejahung des Kausalzusammenhangs zwischen der beruflichen Belastung "Tragen auf der Schulter" und der HWS-Erkrankung bei dem Kläger durch den Sachverständigen als logisch und nachvollziehbar anzusehen, weil keine konkurrierenden Ursachen zur beruflichen Belastung vorliegen und auch das obige erste Kriterium für die Kausalitätsbeurteilung nach den Ausführungen von Dr. N. erfüllt ist. Seitens der Beklagten wurde weder in der Stellungnahme ihres Beratungsarztes vom 04.12.1996 noch in der mündlichen Verhandlung eine zur beruflichen Belastung konkurrierende Ursache behauptet - außer dem allgemeinen Alterungsprozeß, hinsichtlich dessen auf die obigen Ausführungen verwiesen wird. Diesen konkreten Einwand der Beklagten hat Dr. N. überzeugend widerlegt. Dr. K. hat sich in seinem Gutachten mit dieser Frage nicht beschäftigt und aus den übrigen ärztlichen Unterlagen ergibt sich nichts, was die Kausalitätsbeurteilung von Dr. N. erschüttern würde.

(4) Der Kläger war durch diese bandscheibenbedingte HWS-Erkrankung gezwungen, seine vorherige berufliche Tätigkeit als Einschaler ab 01.02.1996 zu unterlassen und hat dies auch getan, sogenannter Unterlassenszwang. Hinsichtlich der allgemeinen Voraussetzungen für dieses Tatbestandsmerkmal wird auf die obigen Ausführungen unter 1. a) (4) verwiesen.

Die Tätigkeitsaufgabe ergibt sich aus dem Ausscheiden des Klägers aus dem Erwerbsleben zum 01.01.1994. Die medizinische Notwendigkeit zur Aufgabe der Arbeit als Einschaler zum 01.02.1996 steht zur Überzeugung des Gerichts aufgrund des Gutachtens von Dr. N. und seinen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung fest. Unter Bezugnahme auf seine Ausführungen zum Problem einer derartigen rückwirkenden Feststellung hat Dr. N. ausgehend von seiner Untersuchung am 25.09.1996, als der Kläger nach seiner Meinung nicht mehr in der Lage war, seinen früheren Beruf als Einschaler wegen der HWS-Erkrankung auszuüben, dies aufgrund der Vorgeschichte ab Februar 1996 bejaht. Da von Seiten der Beklagten hiergegen keine weiteren Bedenken vorgebracht wurden und auch aus dem restlichen Akteninhalt keine zu erkennen sind, ist das Gericht auch insofern von der Richtigkeit der Feststellung von Dr. N. überzeugt.

Daß der Kläger zuvor aus der versicherten Tätigkeit ausgeschieden war, steht der Anerkennung nicht entgegen (vgl. BSG vom 30.06.1993- 2 RU 42/92, BSGE 73, 1 ff.).

2. Die Verletztenrente Aufgrund der bei dem Kläger anzuerkennenden BK Nr. 2108 und BK Nr. 2109 hat ihm die Beklagte eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. ab 01.10.1994 und von 30 v.H. ab 01.02.1996 zu zahlen.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente in Höhe des Grades der MdE. Ist diese Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden Anspruch auf Rente. Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern (seit 01.01.1997: § 56 Abs. 1, 3 SGB VII; vorher: § 581 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 RVO). Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (so nun § 56 Abs. 2 SGB VII gemäß der bisherigen Rechtsprechung).

Für die Bemessung der MdE, die eine Rechts- und keine medizinische Frage ist (vgl. nur BSG vom 17.01.1958 – 10 RV 102/56, BSGE 6, 267 f.), haben sich in der Rechtsprechung und der Praxis der Unfallversicherungsträger Grundlagen gebildet, die im einschlägigen Schrifttum (vgl. Günther/Hymmen/lzbicki, Unfallbegutachtung; Schönberger/Mehrtens/ Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit) zusammengefaßt sind. Diese Grundlagen sind zu beachten, weil sie aufgrund ihrer immer wiederkehrenden Bestätigung durch Gutachter, Unfallversicherungsträger und Gerichte sowie ihrer Annahme durch die Betroffenen als Wirklichkeits- und maßstabsgerecht erwiesen haben. Es sind Erfahrungswerte, die nicht zuletzt einer weitgehenden Gleichbehandlung aller Verletzten dienen (vgl. zu diesen Grundsätzen BSG vom 31.07.1997 - 9 RV 374/74, Breithaupt 1976, 217, 220; BSG vom 26.06.1985 - 2 RU 60/84, SozR 2200 § 581 RVO Nr. 23).

Für die Wirbelsäulen-Berufskrankheiten paßt diese Standardbegründung zu den Grundlagen der MdE-Schätzung nur eingeschränkt, weil diese BKen neu sind und es mit ihnen keine langjährigen Erfahrungen gibt. Eine schlichte Übernahme der MdE-Werte der unfallbedingten Wirbelsäulenverletzungen vernachlässigt die Besonderheiten des Körperschadens einer Wirbelsäulen-Berufskrankheit (vgl. Ludolph/Spohr/Echtermeier, BG 1994, 349, 353, die deutlich höhere MdE-Werte für angemessen halten). Eine Orientierung an den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1983, hrsg. v. Bundesministerium für Arbeit, ist nur eingeschränkt möglich, da diese auf die Einschränkungen in allen Lebensbereichen abstellen und nicht nur die Arbeitsmöglichkeiten; das gleiche gilt für die Körperschadenstabelle der DDR (vgl. Bonnermann u.a., BG 1994, 658, 659 f.; Brandenburg, in: Bericht über die Unfallmedizinische Tagung in Mainz am 12./13.11.1994, hrsg. v. HVBG 1995, S. 97, 104). Auch der Sachverständige hat sich in seinem Gutachten ausführlich mit der Frage der MdE-Bemessung auseinandergesetzt (Gutachten S. 42 ff. = BI. 131 Gerichtsakte).

Ausgehend von diesen Überlegungen und verschiedenen veröffentlichten Bewertungsvorschlägen (Bonnermann, a.a.O., 660; Schmitt, SdL 1994, 16; Schröter, SdL 1994, 23, 31; Seide u.a., in: Bericht ... (wie soeben), 101) sowie den Arbeitsmarkt stärker miteinbeziehenden Ansätzen (Ludolph/Spohr/Echtermeier, a.a.O.; Bolm-Audorff, MedSach 90 (1994), 165, 169) schätzt das Gericht die MdE beim Vorliegen von Funktionseinschränkungen und glaubhaften Beschwerden auf 10 v.H. und bei starken Funktionseinschränkungen und Beschwerden auf 20 v.H. Neurologische Ausfallserscheinungen sind keine Voraussetzung für eine MdE von 20 v.H., weil es für die MdE-Bewertung nicht auf technische Meßwerte ankommt, sondern diese eine Funktionsbeurteilung anhand der Arbeitsmöglichkeiten ist (so auch der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung).

Nach diesen Voraussetzungen ist die MdE des Klägers wegen der BK Nr. 2108 auf 20 v.H. zu schätzen, weil seine LWS-Erkrankung zu erheblichen Funktionsstörungen geführt hat und nach den begründeten und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen in seinem Gutachten (S. 42 = BI. 131 Gerichtsakte) mit einem Wirbelkörperbruch mit deutlich funktioneller Insuffizienz und ohne Nervenbeteiligung vergleichbar ist. Im übrigen seien dem Kläger alle Arbeitsplätze versperrt, bei denen schweres Heben und Tragen mit mehr als 10 kg Gewicht, bücken und drehen vorkomme. Die MdE wegen der BK Nr. 2109 ist auf 10 v.H. zu schätzen, weil die HWS-Erkrankung des Klägers zwar zu Funktionseinschränkungen geführt hat, diese aber im Vergleich mit der LWS geringer sind. Auch der Sachverständige meint, sie seien "nur" mit einem Wirbelkörperbruch mit mäßiger funktioneller Insuffizienz zu vergleichen (Gutachten S. 42 = BI. 131 Gerichtsakte).

Der Rentenbeginn für die Verletztenrente in Höhe von 20 v.H. ist der 01.10.1994, als sämtliche Voraussetzungen für die BK Nr. 2108 erfüllt waren. Ab dem 01.02.1996, ab dem auch die Voraussetzungen für die BK Nr. 2109 vorlagen, ist die Verletztenrente um 10 v.H. auf 30 v.H. zu erhöhen.

Die Beklagte als unterlegene Beteiligte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des Verfahrens zu erstatten (§ 193 SGG).
Rechtskraft
Aus
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