S 38 KA 631/13

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
38
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 38 KA 631/13
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 12 KA 107/14
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

III. Die Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

Tatbestand:

Die Klage richtet sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 21.06.2013. Die Klägerin ist eine überörtliche Gemeinschaftspraxis. Die Beklagte verhängte im Quartal 2/2011 wegen unzulässiger Verordnung von drei Medikamenten nach § 18 Prüfungsvereinbarung (PV) einen Regress in Höhe von 177,65 EUR. Beanstandet wurde u.a. die Verordnung von Tandemact zur Behandlung von Typ 2 Diabetes mellitus-Patienten, die nunmehr ausschließlich Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist. Zur Begründung berief sich die Beklagte auf Anlage III Ziff. 49 der Arzneimittel-Richtlinien (AM-RL; in Kraft seit 01.04.2011).

Dagegen ließ die Klägerin Klage zum Sozialgericht München einlegen. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin bezog sich auf die Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts vom 06.12.2005 (Az. 1 BvR 347/98), aber auch auf das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 05.06.2013 (SG Marburg, Az. S 12 KA 3/12). Nach der letztgenannten Entscheidung sei trotz Ausschlusses die Verordnung in begründeten Einzelfällen nach § 16 Abs. 5 AM-RL erlaubt. Eine Ausnahmeindikation habe hier vorgelegen. Die Beklagte sei auch im Vorverfahren "rechtzeitig" und "ausführlich" informiert worden. Außerdem sei der Grundsatz "Beratung vor Regress" zu beachten. In diesem Zusammenhang werde auf § 106 Abs. 5e S. 2 SGB V verwiesen. Letztendlich handle es sich auch um eine unzulässige Verkürzung des Rechtsweges.

In ihrer Klageerwiderung führte die Beklagte aus, eine Ausnahmeindikation sei klägerseits erst im Rahmen des Gerichtsverfahrens aufgezeigt worden. Entgegen der Auffassung der Klägerseite liege auch keine Verkürzung des Rechtsweges vor. Ferner gebe es keinen allgemeinen Grundsatz des Inhalts, dass stets eine Beratung einem Regress vorausgehen müsse.

In der mündlichen Verhandlung am 30.4.2014 stellte der Prozessbevollmächtigte des Klägers folgende Anträge:

1. Der Bescheid der Beklagten vom 21.06.2013 wird bezüglich des Regresses von Tandemact aufgehoben. 2. Der Beklagte wird insofern verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin vom 1. Juli 2013 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. 3. Hilfsweise wurde beantragt, die Berufung zuzulassen.

Die Vertreterin der Beklagten beantragte, die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Berufung zuzulassen.

Gegenstand des Verfahrens war auch die Beklagtenakte. Im Übrigen wird auf den sonstigen Akteninhalt, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie die Sitzungsniederschrift vom 30.04.2014 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zum Sozialgericht München eingelegte Klage ist zulässig, jedoch unbegründet. Der angefochtene Bescheid der Prüfungsstelle ist als rechtmäßig anzusehen.

Es handelt sich um eine kombinierte Anfechtungs- und Verbescheidungsklage nach § 54 SGG. Gem. § 78 Abs. 1 SGG ist als Klagevoraussetzung grundsätzlich ein Vorverfahren durchzuführen. Dieses beginnt nach § 83 SGG mit der Erhebung des Widerspruchs und endet mit dem Erlass eines Widerspruchsbescheides. Eines Vorverfahrens bedarf es aller-dings u.a. dann nicht, wenn ein Gesetz dies für besondere Fälle bestimmt (§ 78 Abs. 1 Ziff. 1 SGG). Um eine solche Regelung handelt es sich bei § 106 Abs. 5 S. 8 SGB V, die abweichend von § 106 Abs. 5 S. 3 SGB V in Fällen der Festsetzung einer Ausgleichspflicht für den Mehraufwand bei Leistungen, die durch das Gesetz oder durch die Richtlinien nach § 92 ausgeschlossen sind, ein Vorverfahren nicht vorsieht. Obwohl damit eine "Straffung" des Verwaltungsverfahrens verbunden ist, ist nicht erkennbar, dass – wie die Klägerseite aus-führt – eine unzulässige Verkürzung des Rechtswegs vorliegt. Denn der mit der teilweisen Abschaffung bzw. fakultativen Abschaffung des Widerspruchsverfahrens im Allgemeinen Verwaltungsrecht befasste Bayerische Verfassungsgerichtshof (BayVerfGH, Entscheidung vom 23.10.2008, Az. Vf.10-VII-07) hat im Rahmen einer Popularklage entschieden, dass eine solche Regelung nicht gegen die Bayerische Verfassung (insb. Art. 118 BV, Rechtsstaatsprinzip, Gebot effektiven Rechtsschutzes) verstößt. Nichts anderes gilt im Sozialrecht als besonderem Verwaltungsrecht. Es bleibt grundsätzlich dem Gesetzgeber überlassen, wie er das Verwaltungsverfahren ausgestaltet. Die Grenze bildet lediglich das sog. Willkürverbot. Die gesetzgeberische Intention, den rechtkräftigen Abschluss dieser Verfahren durch Abschaffung des Verfahrens vor dem Beschwerdeausschuss zu beschleunigen, ist jedoch nicht willkürlich.

Das Sozialgericht Dresden (Urteil vom 27.02.2013, Az. S 13 KA 141/11) hatte über eine Wirtschaftlichkeitsprüfung bei unzulässiger Verordnung aufgrund von AM-RL, durchgeführt durch die Prüfungsstelle, zu entscheiden. Die eingelegte Anfechtungsklage nach § 54 SGG wurde als unzulässig abgewiesen, während der Untätigkeitsklage nach § 88 SGG unter Hinweis auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 09.03.1994, Az. 6 RKa 5/92) stattgegeben wurde. Zur Begründung wurde ausgeführt, es hätte ein Vorverfahren stattfinden müssen. Die Vorschrift des § 106 Abs. 5 S. 8 SGB V sei teleologisch jedenfalls dann zu reduzieren, wenn der betroffene Vertragsarzt gegenüber dem Antrag ei-ner Krankenkasse auf Festsetzung eines Regresses wegen des Verstoßes gegen einen Verordnungsausschluss ausdrücklich oder sinngemäß einwende, er habe wegen der besonderen medizinischen Umstände im Einzelfall das Arzneimittel zulasten der Krankenkasse verordnen dürfen, und Tatsachen benenne, die eine solche Ausnahmeindikation zumindest nicht von vornherein aus Rechtsgründen als ausgeschlossen erscheinen ließen. Im Zweifelsfalle sei ein großzügiger Maßstab anzulegen. Allerdings reiche die pauschale Behauptung eines Einzelfalles nicht aus. Das Sozialgericht Dresden bezog sich dabei auch auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 11. Mai 2011, Az. B 6 KA 13/10 R). In dieser Entscheidung wurde die Auffassung vertreten, ein Regress wegen zulassungsüberschreitender Verordnungen könne nicht unmittelbar mit einer Klage angefochten werden. Vielmehr sei zunächst der Beschwerdeausschuss damit zu befassen. Die gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden zugelassene Revision ist beim Bundessozialgericht unter dem Aktenzeichen B 6 KA 25/13 R anhängig.

Die 38. Kammer des Sozialgerichts München schließt sich dieser Rechtsauffassung an. Denn es handelt sich um ein Regel/Ausnahmeverhältnis, wobei im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung im Vertragsarztrecht einem Klageverfahren vom Grundsatz her ein zweistufiges Verwaltungsverfahren nach § 106 Abs. 5 S. 3 SGB V mit der Prüfungsstelle als erste Verwaltungsinstanz und dem Beschwerdeausschuss als zweiter Prüfungsinstanz vorausgeht. Wie sich aus der Gesetzesbegründung zur Ausnahmeregelung des § 106 Abs. 5 S. 8 SGB V (Deutscher Bundestag Drucksache 16/3100, S. 138, zu Art. 1 Nummer 72 Buchstabe j, Doppelbuchstabe cc) ergibt, zielt diese Regelung darauf ab, die Vielzahl gleichartig zu bearbeitender Einzelvorgänge bei einem vergleichsweise leicht überprüfbaren Sachverhalt, ob ein Arzneimittel grundsätzlich Gegenstand der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ist, lediglich der Prüfungsstelle zu überantworten. Damit soll auch der Beschwerdeausschuss für diese Fälle entlastet werden. In allen übrigen Fällen bleibt es originäre Aufgabe des Beschwerdeausschusses, die Entscheidungen der Prüfungsstelle zu überprüfen und damit auch zur Entlastung der Gerichte beizutragen.

Während im Verfahren vor dem Sozialgericht Dresden aus der Stellungnahme des Klägers zumindest sinngemäß hervorging, dass das Medikament auf der Grundlage einer einzelfallbezogenen Indikationsstellung verordnet wurde, ist dies in dem streitgegenständlichen Sachverhalt nicht der Fall. Die Klägerin wurde mit Schreiben der Prüfungsstelle vom 03.09.2012 angeschrieben, ob sie mit der Rückforderung der Krankenkasse einverstanden sei und um Mitteilung beziehungsweise schriftlichen Einspruch gebeten. Der Kläger äußerte sich wie folgt: " Der Einsatz eines zugelassenen und verschreibungspflichtigen Medikaments unterliegt ausschließlich der Kompetenz und Verantwortung des Arztes ... Aus den genannten Gründen ist daher der Regressantrag der AOK in allen Punkten zurückzuweisen." Von einer ausnahmsweise einzelfallbezogenen Vorgehensweise ist weder ausdrücklich, noch sinngemäß die Rede. Soweit sich der Kläger in einem Rechtsirrtum befand, er müsse keinen einzelfallbezogenen Ausnahmefall vortragen und nachweisen, ist dies unbeachtlich. Die Beklagte hatte auch keine Pflicht, den Kläger darauf aufmerksam zu machen und von ihm Nachweise einzufordern. Denn anders als im Verfahren vor dem Sozialgericht Dresden ergeben sich aus den Ausführungen des Klägers keinerlei Anhaltspunkte für eine Ausnahmeindikation. Nach dem sogenannten objektiven Empfängerhorizont versteht es sich von selbst, dass die Bitte um schriftlichen Einspruch mit Fristsetzung und Ankündigung eines schriftlichen Bescheides (der Prüfungsstelle vom 03.09.2012) zugleich die Bitte einschließt, den Einspruch zu begründen. Einer expliziten Aufforderung durch die Beklagte bedurfte es nicht. Ein Unterlassen durch die Beklagte liegt nicht vor. Zusammenfassend ist die Klage daher als zulässig anzusehen.

Die Klage ist aber unbegründet. Die Verordnung von Tandemact zur Behandlung von Typ 2 Diabetes mellitus-Patienten ist nach Anlage III Ziff. 49 der Arzneimittel-Richtlinien (AM-RL; in Kraft seit 01.04.2011) ausgeschlossen. Auch liegen die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise zulässige Verordnung in begründeten Einzelfällen nach § 16 Abs. 5 AM-RL nicht vor. Denn die Klägerin ist mit ihrem Vorbringen präkludiert. Darauf, ob ein solcher Ausnahmefall gegeben ist, kommt es somit nicht an. Bei einem mehrstufigen Verwaltungsverfahren im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung allgemein gilt nach ständiger Rechtssprechung der Sozialgerichte die sog. Präklusion. Das bedeutet, dass der Kläger mit einem weiteren Vorbringen im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens ausgeschlossen ist. Diese führt dazu, dass der Kläger gehalten ist, etwaige Praxisbesonderheiten und Einsparungen im Vorverfahren vorzutragen und nachzuweisen. Dem Kläger obliegt bezüglich seiner Praxisbesonderheiten/kausalkompensatorischen Einsparungen grundsätzlich eine Darlegungs- und Feststellungspflicht und zwar nicht erst im gerichtlichen Verfahren. Darin konkretisiert sich die grundsätzliche Mitwirkungspflicht (§ 21 Abs. 2 SGB X), aber auch die besondere Mitwirkungspflicht des Arztes, die für ihn günstigen Umstände, die nur ihm bekannt sind, aufzuzeigen (BSG, Urteil vom 11.12.2002, B 6 KA 1/02R; LSG NRW, Urteil vom 09.02.2011, L 22 KA 38/09). Würde es zugelassen, die Geltendmachung von Praxisbesonderheiten/kausalen Einsparungen erst im Rahmen eines Gerichtsverfahrens vorzunehmen, würde die Wirtschaftlichkeitsprüfung in das Klageverfahren verlagert, womit letztendlich den Prüfungsgremien die umfassende Prüfungsmöglichkeit genommen würde (BSG, Urteil vom 21.03.2012, B 6 KA 17/11 R). Die Präklusion gilt nach Auffassung des Gerichts auch bei einem einstufigen Verwaltungsverfahren im Sinne von § 106 Abs. 5 S. 8 SGB V. Zwar ist einzuräumen, dass sich die Möglichkeit für den Arzt, einen begründeten Einzelfall vortragen zu können, reduziert. Während er bei einem zweistufigen Verfahren zweimal die Möglichkeit hat, entsprechenden Vortrag zu leisten, ist dies bei einem einstufigen Verfahren lediglich vor der Prüfungsstelle möglich. Trotzdem muss auch hier die Präklusion gelten. Denn ansonsten würde die Prüfung, ob ein begründeter Ausnahmefall vorliegt, in das Gerichtsverfahren verlagert. Genau das soll ausgeschlossen werden. Ferner ist auch hier zu berücksichtigen, dass es originäre Aufgabe des Beschwerdeausschusses ist, eine im Einzelfall begründete Verordnungsweise zu beurteilen.

Abgesehen davon, dass der hier streitgegenständlichen Sachverhalt von dem der Entscheidung des Sozialgerichts Dresden (aaO) zu Grunde liegenden erheblich abweicht, wird die dort geäußerte Rechtsansicht, wonach die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, "auf den Irrtum und die aus ihrer Sicht erforderlichen Nachweise hinzuweisen", nicht geteilt. Denn diese führt dem Grunde nach zu einer Bejahung des "sozialrechtlichen Wiederherstellungsanspruchs" im Vertragsarztrecht. Genau dies wurde aber wiederholt durch die obergerichtliche Rechtsprechung verneint. Dieses Rechtsinstitut ist im Bereich der Rentenversicherung entwickelt worden. Es kommt nach den allgemeinen Grundsätzen bei einer dem zuständigen Leistungsträger zuzurechnenden Pflichtverletzung zum Tragen, durch welche dem Berechtigten ein sozialrechtlicher Nachteil oder Schaden entstanden ist. Durch die Vornahme einer Amtshandlung des Trägers muss ein Zustand hergestellt werden können, der bestehen würde, wenn die Pflichtverletzung nicht erfolgt wäre (vgl. BSG, Urteil vom 04.04.2006 – B 1 KR 5/05). Dieses Rechtsinstitut ist jedoch im Verhältnis des Vertragsarztes zur Kassenärztlichen Vereinigung nicht anwendbar. Denn es beruht auf dem besonderen Sozialrechtsverhältnis zwischen Sozialleistungsempfänger und Sozialleistungsträger (vgl. BSG, Urteil vom 06.03.2003, Az. B 4 RA 38/02 R). Wie das Hessische Landessozialgericht (Urteil vom 15.05.2005, Az. L 4 KA 41/05) ausführt, sind Vertragsärzte nicht in gleicher Weise schutzwürdig wie ein Großteil der Leistungsempfänger im Sinne der §§ 11 ff. SGB I. Insofern verbietet sich im "Vertragsarztrecht" die Anwendung des "Sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs".

Gegen den verhängten Regress kann schließlich nicht angeführt werden, es habe vorher eine Beratung stattfinden müssen. Denn es gibt in den streitgegenständlichen Quartalen keinen Grundsatz einer "Beratung vor Regress". Erst später hat der Gesetzgeber in § 106 Abs. 5e SGB V und zwar auch nur bei Richtgrößenprüfungen nach § 106 Abs. 5a SGB V bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens eine Beratung zwingend vorgeschrieben. Diese Regelung findet hier keine Anwendung. Wie das Bundessozialgericht mehrfach ( vgl. BSG, Urteil vom 06.05.2009, Az B 6 KA 3/08 R ) ausgeführt hat, stellt das Erfordernis vorgängiger Beratung gemäß § 106 Abs. 5 S. 2 SGB V lediglich eine "Soll"-Vorgabe dar.

Aus den genannten Gründen, war zu entscheiden, wie geschehen.

Die Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht war wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 144 Abs. 2 Ziff. 1 SGG zuzulassen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
Rechtskraft
Aus
Saved