Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 383/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 1 KR 400/14
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 29.08.2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2013 verurteilt, die Kosten des Arzneimittel Avastin® im Rahmen der seit dem 06.09.2013 durchgeführten Tumorbehandlung (in Kombination mit der Gabe von CCNU) zu übernehmen bzw. der Klägerin zu erstatten, sofern ihr Kosten für die Selbstbeschaffung des Arzneimittels entstanden sind. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Übernahme der Kosten für das Arzneimittel Avastin® im Rahmen einer Tumorbehandlung.
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin leidet an einem anaplastischen Astrozytom Grad III (nach WHO), einer lebensbedrohlichen, regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit. Die Diagnose wurde erstmals im März 2012 gestellt. Seitdem erhielt die Klägerin von April bis September 2012 eine Chemotherapie, im April und Mai 2013 eine kombinierte Radiochemotherapie und im August 2013 eine Strahlentherapie.
Am 12.07. und 22.08.2013 beantragte die Klägerin über die behandelnden Ärzte des Tumorzentrums am Universitätsklinikum Heidelberg sowie der Medizinischen Klinik IV des Universitätsklinikums Aachen die Übernahme der Kosten für das Arzneimittel Avastin® (Wirkstoff: Bevacizumab) in Kombination mit dem Nitrosoharnstoff CCNU (= Chlorethyl-Cyclohexyl-Nitroso-Urea) bzw. Lomustin (Arzneimittelname: Cecenu®) im Rahmen einer ambulanten Chemotherapie. Zur Begründung führten die Ärzte des Universitätsklinikums Aachen im Bericht vom 22.08.2013 aus, dass die Verlaufskontrolle nach der zuletzt durchgeführten Strahlentherapie eine deutliche Zunahme sowohl der Tumoranteile als auch des umgebenden Ödems gezeigt habe, sodass von einem realen Fortschreiten der Krankheit auszugehen sei. Aufgrund der zentralen Lage des Tumors und der Vorbestrahlung bestehe keine sinnvolle operative oder strahlentherapeutische Option mehr. Ärztlicherseits werde deshalb eine Kombinationstherapie mit CCNU und Bevacizumab befürwortet. Der Einsatz von Bevacizumab erscheine insbesondere im Hinblick auf das ausgeprägte Umgebungsödem, die bedrohliche Lage des Tumors in der Zentralregion, die geringe Ansprechwahrscheinlichkeit auf eine weitere alleinige Chemotherapie, das junge Alter der Patientin und den noch guten Allgemeinzustand sinnvoll. Das Klinikum Aachen verwies auf die Ergebnisse verschiedener Studien zum Einsatz von Avastin® bei dem vorliegenden Krankheitsbild. Zwar sei Bevacizumab (Handelsname: Avastin®) in Deutschland im Rahmen einer Kombinationstherapie aktuell nur zur Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenem Kolon- oder Rektumkarzinom, Mammakarzinom, nicht kleinzelligen Bronchialkarzinom, Nierenzellkarzinom oder Overialkarzinom zugelassen; in den USA liege aber bereits eine Zulassung für die Therapie höhergradiger Gliome vor. Die Ärzte des Universitätsklinikums Aachen, durch die die ambulante Chemotherapie durchgeführt werden sollte, meinten, dass die vorliegenden klinischen Daten zum Einsatz von Bevacizumab bei Patienten mit Grad III- und Grad IV-Gliomen einen Einsatz dieses Medikaments dringend nahe legten, zumal bei der Klägerin keine vielversprechenden Alternativen zur Verfügung stünden. Unter den gegebenen Umständen seien auch die Anforderungen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 06.12.2005 erfüllt; eine wirksame und medizinisch sinnvolle Therapiealternative für die vorliegende lebensbedrohliche Erkrankung existiere bei der Klägerin nicht mehr.
In einem von der Beklagten veranlassten Gutachten kam der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) Nordrhein am 26.08.2013 zum Ergebnis, dass die beantragte Behandlung mit Bevacizumab in Kombination mit CCNU nicht befürwortet werden könne; es handele sich um eine experimentelle Therapie, die zur Zeit in einer Studie untersucht werde. Die Behandlung des anaplastischen Astrozytoms der Klägerin könne mit einem der zugelassenen Arzneimittel Carmubris® mit dem Wirkstoff BCNU (=Bis-Chlorethyl-Nitroso-Urea) bzw. Carmustin oder Cecenu® mit dem Wirkstoff CCNU bzw. Lomustin erfolgen. Zur Begründung führte der MDK aus, es existierten bislang keine Belege, dass eine Behandlung mit CCNU und Bevacizumab einer Behandlung mit CCNU allein überlegen wäre. Vielmehr werde diese Hypothese zur Zeit in der EORTC-26101-Studie untersucht; die Ergebnisse seien bislang nicht publiziert.
Gestützt hierauf lehnte die Beklagte den Kostenübernahmeantrag durch Bescheid vom 29.08.2013 ab.
Daraufhin entschloss sich die Klägerin "nach detaillierter Aufklärung über die hohen Therapiekosten und ausführlicher Nutzen-Risiko-Abwägung" (so: Bericht des Universitätsklinikums Aachen vom 20.09.2013) zur Durchführung der Therapie mit Bevacizumab, die am 06.09.2013 eingeleitet wurde.
Am 10.09.2013 erhob die Klägerin Widerspruch gegen die ablehnende Entscheidung der Beklagten. Sie legte aktuelle Klinikberichte vor. Darin heißt es, dass bereits nach zweimaliger Behandlung ein deutliches klinisches Ansprechen des Tumors auf die Therapie mit Bevacizumab im Sinne einer Verbesserung der neurologischen Symptomatik mit nachlassenden Lähmungserscheinungen und einer verbesserten Schwingungsfähigkeit trotz Ausschleichens des Cortisons zu verzeichnen sei (Bericht vom 20.09.2013). Eine radiologische Untersuchung vom 16.10.2013 habe eine deutliche Rückläufigkeit sowohl der Schrankenstörungen als auch des angrenzenden Perifokalödems gezeigt (Bericht vom 24.10.2013). Die Tumorkonferenz des Universitätsklinikums habe deshalb einvernehmlich für die Fortführung der Kombinationstherapie mit Bevacizumab (Avastin®) und CCNU gestimmt.
Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 05.12.2013 zurück. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und unter Bezugnahme auf das vorliegende MDK-Gutachten vertrat sie die Auffassung, dass die Ausnahmevoraussetzungen für eine Versorgung der Klägerin mit einem Arzneimittel außerhalb des Zulassungsbereichs (sog. "off-label-use") nicht erfüllt seien.
Dagegen hat die Klägerin am 18.12.2013 Klage erhoben. Sie trägt vor, dass es nach den zunächst durchgeführten standardmäßigen Chemo- und Strahlenbehandlungen nicht zu einer Besserung gekommen sei; vielmehr habe sich der Tumor unter diesen Therapien in seinem Wachstum nicht aufhalten lassen. Angesichts des sich stetig verschlechternden Zustandes habe es keine Zeit für weitere Experimente oder Therapiealternativen gegeben. Nach Meinung aller Spezialisten und auf deren Empfehlung hin habe mit der Kombinationstherapie (Bevacizumab und CCNU) unbedingt begonnen werden müssen, es habe jeder Tag gezählt. Bei dieser Krankheit, die so selten auftrete, sei sie der Meinung, dass, um Leben zu erhalten, auch neue Wege/Therapien zu gehen seien. Zwar gebe es zugelassene Behandlungsalternativen, nämlich die Monotherapie mit den Wirkstoffen BCNU oder CCNU; diese beiden Monotherapien stellten jedoch nur Alternativen zu der bereits durchgeführten Monotherapie mit Temodal® (Wirkstoff: Temozolomid) dar, die allein und in Kombination mit Bestrahlung bei ihr nicht zum Erfolg geführt habe. Damit handele es sich bei dem Einsatz dieser Arzneimittel um eine bloße theoretische alternative Behandlungsmöglichkeit, die allein an der für die Behandlung grundsätzlich bestehenden Zulassung festgemacht werde. Im Hinblick auf die Ergebnisse einer Phase II-Studie bezüglich der von den behandelnden Ärzten gewählten Kombinationstherapie mit Bevacizumab (Avastin®) und CCNU bestehe eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung bzw. eine spürbare positive Einwirkung auf ihren Krankheitsverlauf.
Die Klägerin beantragt ihrem schriftsätzlichen Vorbringen nach,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 29.08.2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2013 zu verurteilen, die Kosten des Arzneimittels Avastin® im Rahmen der durchgeführten Tumorbehandlung zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass eine Kostenübernahme nur dann in Betracht käme, wenn keine Alternativbehandlung zur Verfügung stehe. Dies sei aber gerade nicht der Fall. Denn es sei die Behandlung mit zugelassenen Arzneimitteln möglich. Hinzu komme, dass ein zusätzlicher Nutzen einer Kombinationstherapie aus CCNU und Bevacizumab nicht belegt sei. Die Klägerin sei mit zugelassenen Arzneimitteln nicht austherapiert.
Zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts hat das Gericht Auskünfte der Ärzte der Universitätskliniken Heidelberg und Aachen eingeholt. Wegen des Ergebnisses wird auf die Berichte vom 03.02. und 11.02.2014 sowie die dazu überreichten Unterlagen verwiesen.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung der Kammer durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten, die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil sich die Beteiligten übereinstimmend mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG beschwert, da sie rechtswidrig sind. Ausgehend davon, dass der Klägerin bisher noch keine Kosten für das Medikament Avastin® entstanden sind, hat sie Anspruch darauf, dass ihr die Beklagte dieses Arzneimittel als Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gewährt bzw. die Kosten hierfür übernimmt.
Der Leistungsanspruch folgt aus §§ 27 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
Der in § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 SGB V normierte Anspruch auf Bereitstellung der für die Krankenbehandlung benötigten Arzneimittel unterliegt jedoch den Einschränkungen aus § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V. Er besteht nur für solche Pharmakotherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Diese Anforderungen sind nach der ständigen Rechtsprechung des BSG in der Regel dann nicht erfüllt, wenn das verabreichte Medikament nach den Vorschriften des Arzneimittelrechts der Zulassung bedarf, aber nicht zugelassen ist. Denn ein Arzneimittel kann auch dann, wenn es zum Verkehr zugelassen ist, grundsätzlich nicht zu Lasten der GKV in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt. Vorliegend geht es um eine derartige zulassungsüberschreitende Anwendung (sog. off-label-use). Zwar ist Avastin® für verschiedene andere bei der Klägerin nicht vorliegende Tumorerkrankungen zugelassen und auch als Monotherapie zur Behandlung von Patienten mit rezidivierendem Glioblastom (WHO-Grad IV) nach Vortherapie mit Temozolomid, jedoch (noch) nicht zur Behandlung des bei der Klägerin vorliegenden anaplastischen Astrozytoms (WHO-Grad III) in Kombination mit dem Wirkstoff CCNU. Für eine derartige Anwendung von Avastin®, wie sie bei der Klägerin seit dem 06.09.2013 erfolgt ist, liegt eine arzneimittelrechtliche Zulassung nicht vor.
Allerdings kommt nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 19.03.2002 – B 1 KR 37/00 R – und Urteil vom 26.09.2006 – B 1 KR 14/06 R) auch im Hinblick auf den Vorrang des Arzneimittelrechts ein off-label-use zur Lasten der GKV in den Fällen in Betracht, in denen einerseits an unabweisbarer und anders nicht zu befriedigender Bedarf an der Arzneitherapie besteht und andererseits die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung hinreichend belegt sind. Die Versorgung mit einem Medikament in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet ist dann möglich, wenn es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn (2) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit Letzteres angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist oder die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlich sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.
Diese Voraussetzungen sind im Fall der Klägerin allerdings nicht erfüllt. Zwar gehört das anaplastische Astrozytom (WHO-Grad III) zu den schwerwiegenden Krankheiten, bei denen die Behandlung mit einem für die Indikation nicht zugelassenen Arzneimittel ausnahmsweise in Betracht käme. Jedoch sind die weiteren Voraussetzungen (2) und (3) nicht erfüllt. Zum einen besteht die Möglichkeit einer Monotherapie mit den Wirkstoffen BCNU/Carmustin (Arzneimittel: Carmubris®) bzw. CCNU/Lomustin (Arzneimittel: Cecenu®). Dies ergibt sich aus dem Gutachten des MDK vom 26.08.2013 und ist von den Ärzten der Universitätskliniken Heidelberg und Aachen im Wesentlichen bestätigt worden. Zum anderen gibt es hinsichtlich der Kombinationstherapie aus Bevacizumab (Avastin®) und CCNU noch keine Phase III-Studie und auch noch keinen Konsens der einschlägigen Fachkreise über einen voraussichtlichen Nutzen dieser Behandlung.
Vorliegend geht es jedoch nicht allein um die Frage des (isolierten) Einsatzes eines Arzneimittels – hier: Avastin® – in einem nicht zugelassenen Anwendungsgebiet, sondern um eine bestimmte – neue – Form der Behandlung des bei der Klägerin vorliegenden Krankheitsbildes, nämlich die Kombination eines dafür zugelassenen Wirkstoffes mit einem dafür nicht zugelassenen Wirkstoff. Unter besonderer Berücksichtigung des schwerwiegenden Krankheitsbildes bei der Klägerin und dem ausgebliebenen Erfolg der Vorbehandlungen mittels der zugelassenen Standardtherapien bedürfen die einschlägigen Regelungen des Leistungsrechts der GKV zur Arzneimittelversorgung und Krankenbehandlung aufgrund des Beschlusses des BVerfG vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98) auch im Arzneimittelbereich einer weitergehenden verfassungskonformen Auslegung. Das BVerfG hat in dem genannten Beschluss entschieden, dass es mit den Grundrechten aus Artikel 2 Abs. 1 i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip und aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten generell von der Gewährung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn - eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vorliegt, - bezüglich dieser Krankheit eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht und - bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein aner- kannten) Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht (vgl. ebenso: BVerfG, Beschluss vom 26.02.2013 – 1 BvR 2045/12). Sind diese drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt, dann ist eine Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine bestimmte neue ärztliche Behandlungsmethode sei im Rahmen der GKV ausgeschlossen, weil der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA, vgl. § 91 SGB V) diese noch nicht anerkannt oder sie sich zumindest in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt hat, verfassungswidrig.
Nach Auswertung der ihr vorliegenden Berichte über das Krankheitsbild, den Krankheitsverlauf und die Behandlungsergebnisse sowie unter Berücksichtigung der gesamten ihr bekannt gewordenen Umstände ist die Kammer davon überzeugt, dass die vom BVerfG aufgestellten Kriterien erfüllt sind und im Fall der Klägern einen Anspruch auf Behandlung mit Bevacizumab (Avastin®) in Kombination mit CCNU zu Lasten der GKV begründen. Unstreitig liegt bei der Klägerin eine lebensbedrohliche, regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor. Zwar hätte die Klägerin auch noch im Rahmen weiterer Monotherapien mit den Wirkstoffen CCNU oder BCNU behandelt werden können; die Arzneimittel, in denen diese Wirkstoffe enthalten sind, sind zur Behandlung der Krankheit der Klägerin zugelassen. Jedoch war die Klägerin zuvor bereits im Rahmen einer Monotherapie mit Temodal® (Wirkstoff: Temozolomid) – erfolglos – behandelt worden. Wie sich aus dem Bericht des Universitätsklinikums Heidelberg vom 03.02.2014 ergibt, wurde die Chemotherapie mit Temozolomid seinerzeit einer Monotherapie mit CCNU oder BCNU vorgezogen, weil dieser Wirkstoff prinzipiell besser verträglich ist. Angesichts der Erfolglosigkeit der Monotherapie mit dem besser verträglichen Temozolomid ist der Hinweis des MDK und der Beklagten auf die Möglichkeit weiterer Monotherapien mit den – schlechter verträglichen – Wirkstoffen CCNU und BCNU wenig überzeugend. In dem beschriebenen fortgeschrittenen Stadium, in dem sich die Klägerin im August/September 2013 befand, konnte sie nicht darauf verwiesen werden, zunächst noch alle (zugelassenen) Therapieformen erfolglos durchlaufen zu müssen, bevor sie die hier in Rede stehende neue Behandlungsmethode, nämlich die Kombinationstherapie von Bevacizumab und CCNU, hätte in Anspruch nehmen dürfen. Die behandelnden Ärzte waren zu diesem Zeitpunkt angesichts des fortgeschrittenen Stadiums des Krankheitsbildes der Meinung, dass die Klägerin mit den zugelassenen Behandlungsmethoden austherapiert war. Sie konnten sich für die von ihnen – nicht zuletzt im Rahmen der Tumorkonferenz des Universitätsklinikums Aachen ebenfalls – empfohlenen Kombinationstherapie aus Bevacizumab (Avastin®) und CCNU zwar nicht auf eine Phase III-Studie stützen, wohl aber auf die vielversprechenden Ergebnisse aus einer Phase II-Studie und der laufenden EORTC-26101-Studie. Insofern bestand bezüglich der bei der Klägerin ab 06.09.2013 letztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Kombinationstherapie eine (nicht nur) "auf Indizien gestützte" nicht ganz fern liegende Aussicht wenigstens auf eine spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf. Die in den ersten Berichten des Universitätsklinikums nach Beginn der Kombinationstherapie beschriebenen positiven Wirkungen bestätigen die Annahme der Ärzte. Aus diesen Gründen war (und ist) die Beklagte verpflichtet, die Klägerin neben dem zugelassenen Arzneimittel auch mit dem im Rahmen der Kombinationstherapie eingesetzten Arzneimittel Avastin® zu versorgen bzw. die Kosten für dieses Medikament zu übernehmen.
Da die Klägerin bisher nicht vorgetragen und belegt hat, dass ihr durch den Einsatz von Avastin® seit 06.09.2013 bereits Kosten entstanden sind, geht die Kammer davon aus, dass dem Anspruch der Klägerin mit einer Kostenübernahme seitens der Beklagten genügt ist. Sollten der Klägerin allerdings doch schon Kosten für das Arzneimittel Avastin® entstanden sein, so steht ihr ein entsprechender Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte gemäß § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V zu. Denn die Beklagte hat die beantragte Leistung, wie sich aus den vorstehenden Darlegungen ergibt, zu Unrecht abgelehnt. Wenn dadurch der Klägerin für die unter Einhaltung des Beschaffungsweges (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 15.04.1997 – 1 BK 31/96) selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, hat die Beklagte ihr diese in der entstandenen Höhe zu erstatten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Übernahme der Kosten für das Arzneimittel Avastin® im Rahmen einer Tumorbehandlung.
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin leidet an einem anaplastischen Astrozytom Grad III (nach WHO), einer lebensbedrohlichen, regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit. Die Diagnose wurde erstmals im März 2012 gestellt. Seitdem erhielt die Klägerin von April bis September 2012 eine Chemotherapie, im April und Mai 2013 eine kombinierte Radiochemotherapie und im August 2013 eine Strahlentherapie.
Am 12.07. und 22.08.2013 beantragte die Klägerin über die behandelnden Ärzte des Tumorzentrums am Universitätsklinikum Heidelberg sowie der Medizinischen Klinik IV des Universitätsklinikums Aachen die Übernahme der Kosten für das Arzneimittel Avastin® (Wirkstoff: Bevacizumab) in Kombination mit dem Nitrosoharnstoff CCNU (= Chlorethyl-Cyclohexyl-Nitroso-Urea) bzw. Lomustin (Arzneimittelname: Cecenu®) im Rahmen einer ambulanten Chemotherapie. Zur Begründung führten die Ärzte des Universitätsklinikums Aachen im Bericht vom 22.08.2013 aus, dass die Verlaufskontrolle nach der zuletzt durchgeführten Strahlentherapie eine deutliche Zunahme sowohl der Tumoranteile als auch des umgebenden Ödems gezeigt habe, sodass von einem realen Fortschreiten der Krankheit auszugehen sei. Aufgrund der zentralen Lage des Tumors und der Vorbestrahlung bestehe keine sinnvolle operative oder strahlentherapeutische Option mehr. Ärztlicherseits werde deshalb eine Kombinationstherapie mit CCNU und Bevacizumab befürwortet. Der Einsatz von Bevacizumab erscheine insbesondere im Hinblick auf das ausgeprägte Umgebungsödem, die bedrohliche Lage des Tumors in der Zentralregion, die geringe Ansprechwahrscheinlichkeit auf eine weitere alleinige Chemotherapie, das junge Alter der Patientin und den noch guten Allgemeinzustand sinnvoll. Das Klinikum Aachen verwies auf die Ergebnisse verschiedener Studien zum Einsatz von Avastin® bei dem vorliegenden Krankheitsbild. Zwar sei Bevacizumab (Handelsname: Avastin®) in Deutschland im Rahmen einer Kombinationstherapie aktuell nur zur Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenem Kolon- oder Rektumkarzinom, Mammakarzinom, nicht kleinzelligen Bronchialkarzinom, Nierenzellkarzinom oder Overialkarzinom zugelassen; in den USA liege aber bereits eine Zulassung für die Therapie höhergradiger Gliome vor. Die Ärzte des Universitätsklinikums Aachen, durch die die ambulante Chemotherapie durchgeführt werden sollte, meinten, dass die vorliegenden klinischen Daten zum Einsatz von Bevacizumab bei Patienten mit Grad III- und Grad IV-Gliomen einen Einsatz dieses Medikaments dringend nahe legten, zumal bei der Klägerin keine vielversprechenden Alternativen zur Verfügung stünden. Unter den gegebenen Umständen seien auch die Anforderungen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 06.12.2005 erfüllt; eine wirksame und medizinisch sinnvolle Therapiealternative für die vorliegende lebensbedrohliche Erkrankung existiere bei der Klägerin nicht mehr.
In einem von der Beklagten veranlassten Gutachten kam der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) Nordrhein am 26.08.2013 zum Ergebnis, dass die beantragte Behandlung mit Bevacizumab in Kombination mit CCNU nicht befürwortet werden könne; es handele sich um eine experimentelle Therapie, die zur Zeit in einer Studie untersucht werde. Die Behandlung des anaplastischen Astrozytoms der Klägerin könne mit einem der zugelassenen Arzneimittel Carmubris® mit dem Wirkstoff BCNU (=Bis-Chlorethyl-Nitroso-Urea) bzw. Carmustin oder Cecenu® mit dem Wirkstoff CCNU bzw. Lomustin erfolgen. Zur Begründung führte der MDK aus, es existierten bislang keine Belege, dass eine Behandlung mit CCNU und Bevacizumab einer Behandlung mit CCNU allein überlegen wäre. Vielmehr werde diese Hypothese zur Zeit in der EORTC-26101-Studie untersucht; die Ergebnisse seien bislang nicht publiziert.
Gestützt hierauf lehnte die Beklagte den Kostenübernahmeantrag durch Bescheid vom 29.08.2013 ab.
Daraufhin entschloss sich die Klägerin "nach detaillierter Aufklärung über die hohen Therapiekosten und ausführlicher Nutzen-Risiko-Abwägung" (so: Bericht des Universitätsklinikums Aachen vom 20.09.2013) zur Durchführung der Therapie mit Bevacizumab, die am 06.09.2013 eingeleitet wurde.
Am 10.09.2013 erhob die Klägerin Widerspruch gegen die ablehnende Entscheidung der Beklagten. Sie legte aktuelle Klinikberichte vor. Darin heißt es, dass bereits nach zweimaliger Behandlung ein deutliches klinisches Ansprechen des Tumors auf die Therapie mit Bevacizumab im Sinne einer Verbesserung der neurologischen Symptomatik mit nachlassenden Lähmungserscheinungen und einer verbesserten Schwingungsfähigkeit trotz Ausschleichens des Cortisons zu verzeichnen sei (Bericht vom 20.09.2013). Eine radiologische Untersuchung vom 16.10.2013 habe eine deutliche Rückläufigkeit sowohl der Schrankenstörungen als auch des angrenzenden Perifokalödems gezeigt (Bericht vom 24.10.2013). Die Tumorkonferenz des Universitätsklinikums habe deshalb einvernehmlich für die Fortführung der Kombinationstherapie mit Bevacizumab (Avastin®) und CCNU gestimmt.
Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 05.12.2013 zurück. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und unter Bezugnahme auf das vorliegende MDK-Gutachten vertrat sie die Auffassung, dass die Ausnahmevoraussetzungen für eine Versorgung der Klägerin mit einem Arzneimittel außerhalb des Zulassungsbereichs (sog. "off-label-use") nicht erfüllt seien.
Dagegen hat die Klägerin am 18.12.2013 Klage erhoben. Sie trägt vor, dass es nach den zunächst durchgeführten standardmäßigen Chemo- und Strahlenbehandlungen nicht zu einer Besserung gekommen sei; vielmehr habe sich der Tumor unter diesen Therapien in seinem Wachstum nicht aufhalten lassen. Angesichts des sich stetig verschlechternden Zustandes habe es keine Zeit für weitere Experimente oder Therapiealternativen gegeben. Nach Meinung aller Spezialisten und auf deren Empfehlung hin habe mit der Kombinationstherapie (Bevacizumab und CCNU) unbedingt begonnen werden müssen, es habe jeder Tag gezählt. Bei dieser Krankheit, die so selten auftrete, sei sie der Meinung, dass, um Leben zu erhalten, auch neue Wege/Therapien zu gehen seien. Zwar gebe es zugelassene Behandlungsalternativen, nämlich die Monotherapie mit den Wirkstoffen BCNU oder CCNU; diese beiden Monotherapien stellten jedoch nur Alternativen zu der bereits durchgeführten Monotherapie mit Temodal® (Wirkstoff: Temozolomid) dar, die allein und in Kombination mit Bestrahlung bei ihr nicht zum Erfolg geführt habe. Damit handele es sich bei dem Einsatz dieser Arzneimittel um eine bloße theoretische alternative Behandlungsmöglichkeit, die allein an der für die Behandlung grundsätzlich bestehenden Zulassung festgemacht werde. Im Hinblick auf die Ergebnisse einer Phase II-Studie bezüglich der von den behandelnden Ärzten gewählten Kombinationstherapie mit Bevacizumab (Avastin®) und CCNU bestehe eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung bzw. eine spürbare positive Einwirkung auf ihren Krankheitsverlauf.
Die Klägerin beantragt ihrem schriftsätzlichen Vorbringen nach,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 29.08.2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2013 zu verurteilen, die Kosten des Arzneimittels Avastin® im Rahmen der durchgeführten Tumorbehandlung zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass eine Kostenübernahme nur dann in Betracht käme, wenn keine Alternativbehandlung zur Verfügung stehe. Dies sei aber gerade nicht der Fall. Denn es sei die Behandlung mit zugelassenen Arzneimitteln möglich. Hinzu komme, dass ein zusätzlicher Nutzen einer Kombinationstherapie aus CCNU und Bevacizumab nicht belegt sei. Die Klägerin sei mit zugelassenen Arzneimitteln nicht austherapiert.
Zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts hat das Gericht Auskünfte der Ärzte der Universitätskliniken Heidelberg und Aachen eingeholt. Wegen des Ergebnisses wird auf die Berichte vom 03.02. und 11.02.2014 sowie die dazu überreichten Unterlagen verwiesen.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung der Kammer durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten, die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil sich die Beteiligten übereinstimmend mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG beschwert, da sie rechtswidrig sind. Ausgehend davon, dass der Klägerin bisher noch keine Kosten für das Medikament Avastin® entstanden sind, hat sie Anspruch darauf, dass ihr die Beklagte dieses Arzneimittel als Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gewährt bzw. die Kosten hierfür übernimmt.
Der Leistungsanspruch folgt aus §§ 27 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
Der in § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 SGB V normierte Anspruch auf Bereitstellung der für die Krankenbehandlung benötigten Arzneimittel unterliegt jedoch den Einschränkungen aus § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V. Er besteht nur für solche Pharmakotherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Diese Anforderungen sind nach der ständigen Rechtsprechung des BSG in der Regel dann nicht erfüllt, wenn das verabreichte Medikament nach den Vorschriften des Arzneimittelrechts der Zulassung bedarf, aber nicht zugelassen ist. Denn ein Arzneimittel kann auch dann, wenn es zum Verkehr zugelassen ist, grundsätzlich nicht zu Lasten der GKV in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt. Vorliegend geht es um eine derartige zulassungsüberschreitende Anwendung (sog. off-label-use). Zwar ist Avastin® für verschiedene andere bei der Klägerin nicht vorliegende Tumorerkrankungen zugelassen und auch als Monotherapie zur Behandlung von Patienten mit rezidivierendem Glioblastom (WHO-Grad IV) nach Vortherapie mit Temozolomid, jedoch (noch) nicht zur Behandlung des bei der Klägerin vorliegenden anaplastischen Astrozytoms (WHO-Grad III) in Kombination mit dem Wirkstoff CCNU. Für eine derartige Anwendung von Avastin®, wie sie bei der Klägerin seit dem 06.09.2013 erfolgt ist, liegt eine arzneimittelrechtliche Zulassung nicht vor.
Allerdings kommt nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 19.03.2002 – B 1 KR 37/00 R – und Urteil vom 26.09.2006 – B 1 KR 14/06 R) auch im Hinblick auf den Vorrang des Arzneimittelrechts ein off-label-use zur Lasten der GKV in den Fällen in Betracht, in denen einerseits an unabweisbarer und anders nicht zu befriedigender Bedarf an der Arzneitherapie besteht und andererseits die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung hinreichend belegt sind. Die Versorgung mit einem Medikament in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet ist dann möglich, wenn es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn (2) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit Letzteres angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist oder die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlich sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.
Diese Voraussetzungen sind im Fall der Klägerin allerdings nicht erfüllt. Zwar gehört das anaplastische Astrozytom (WHO-Grad III) zu den schwerwiegenden Krankheiten, bei denen die Behandlung mit einem für die Indikation nicht zugelassenen Arzneimittel ausnahmsweise in Betracht käme. Jedoch sind die weiteren Voraussetzungen (2) und (3) nicht erfüllt. Zum einen besteht die Möglichkeit einer Monotherapie mit den Wirkstoffen BCNU/Carmustin (Arzneimittel: Carmubris®) bzw. CCNU/Lomustin (Arzneimittel: Cecenu®). Dies ergibt sich aus dem Gutachten des MDK vom 26.08.2013 und ist von den Ärzten der Universitätskliniken Heidelberg und Aachen im Wesentlichen bestätigt worden. Zum anderen gibt es hinsichtlich der Kombinationstherapie aus Bevacizumab (Avastin®) und CCNU noch keine Phase III-Studie und auch noch keinen Konsens der einschlägigen Fachkreise über einen voraussichtlichen Nutzen dieser Behandlung.
Vorliegend geht es jedoch nicht allein um die Frage des (isolierten) Einsatzes eines Arzneimittels – hier: Avastin® – in einem nicht zugelassenen Anwendungsgebiet, sondern um eine bestimmte – neue – Form der Behandlung des bei der Klägerin vorliegenden Krankheitsbildes, nämlich die Kombination eines dafür zugelassenen Wirkstoffes mit einem dafür nicht zugelassenen Wirkstoff. Unter besonderer Berücksichtigung des schwerwiegenden Krankheitsbildes bei der Klägerin und dem ausgebliebenen Erfolg der Vorbehandlungen mittels der zugelassenen Standardtherapien bedürfen die einschlägigen Regelungen des Leistungsrechts der GKV zur Arzneimittelversorgung und Krankenbehandlung aufgrund des Beschlusses des BVerfG vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98) auch im Arzneimittelbereich einer weitergehenden verfassungskonformen Auslegung. Das BVerfG hat in dem genannten Beschluss entschieden, dass es mit den Grundrechten aus Artikel 2 Abs. 1 i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip und aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten generell von der Gewährung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn - eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vorliegt, - bezüglich dieser Krankheit eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht und - bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein aner- kannten) Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht (vgl. ebenso: BVerfG, Beschluss vom 26.02.2013 – 1 BvR 2045/12). Sind diese drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt, dann ist eine Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine bestimmte neue ärztliche Behandlungsmethode sei im Rahmen der GKV ausgeschlossen, weil der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA, vgl. § 91 SGB V) diese noch nicht anerkannt oder sie sich zumindest in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt hat, verfassungswidrig.
Nach Auswertung der ihr vorliegenden Berichte über das Krankheitsbild, den Krankheitsverlauf und die Behandlungsergebnisse sowie unter Berücksichtigung der gesamten ihr bekannt gewordenen Umstände ist die Kammer davon überzeugt, dass die vom BVerfG aufgestellten Kriterien erfüllt sind und im Fall der Klägern einen Anspruch auf Behandlung mit Bevacizumab (Avastin®) in Kombination mit CCNU zu Lasten der GKV begründen. Unstreitig liegt bei der Klägerin eine lebensbedrohliche, regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor. Zwar hätte die Klägerin auch noch im Rahmen weiterer Monotherapien mit den Wirkstoffen CCNU oder BCNU behandelt werden können; die Arzneimittel, in denen diese Wirkstoffe enthalten sind, sind zur Behandlung der Krankheit der Klägerin zugelassen. Jedoch war die Klägerin zuvor bereits im Rahmen einer Monotherapie mit Temodal® (Wirkstoff: Temozolomid) – erfolglos – behandelt worden. Wie sich aus dem Bericht des Universitätsklinikums Heidelberg vom 03.02.2014 ergibt, wurde die Chemotherapie mit Temozolomid seinerzeit einer Monotherapie mit CCNU oder BCNU vorgezogen, weil dieser Wirkstoff prinzipiell besser verträglich ist. Angesichts der Erfolglosigkeit der Monotherapie mit dem besser verträglichen Temozolomid ist der Hinweis des MDK und der Beklagten auf die Möglichkeit weiterer Monotherapien mit den – schlechter verträglichen – Wirkstoffen CCNU und BCNU wenig überzeugend. In dem beschriebenen fortgeschrittenen Stadium, in dem sich die Klägerin im August/September 2013 befand, konnte sie nicht darauf verwiesen werden, zunächst noch alle (zugelassenen) Therapieformen erfolglos durchlaufen zu müssen, bevor sie die hier in Rede stehende neue Behandlungsmethode, nämlich die Kombinationstherapie von Bevacizumab und CCNU, hätte in Anspruch nehmen dürfen. Die behandelnden Ärzte waren zu diesem Zeitpunkt angesichts des fortgeschrittenen Stadiums des Krankheitsbildes der Meinung, dass die Klägerin mit den zugelassenen Behandlungsmethoden austherapiert war. Sie konnten sich für die von ihnen – nicht zuletzt im Rahmen der Tumorkonferenz des Universitätsklinikums Aachen ebenfalls – empfohlenen Kombinationstherapie aus Bevacizumab (Avastin®) und CCNU zwar nicht auf eine Phase III-Studie stützen, wohl aber auf die vielversprechenden Ergebnisse aus einer Phase II-Studie und der laufenden EORTC-26101-Studie. Insofern bestand bezüglich der bei der Klägerin ab 06.09.2013 letztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Kombinationstherapie eine (nicht nur) "auf Indizien gestützte" nicht ganz fern liegende Aussicht wenigstens auf eine spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf. Die in den ersten Berichten des Universitätsklinikums nach Beginn der Kombinationstherapie beschriebenen positiven Wirkungen bestätigen die Annahme der Ärzte. Aus diesen Gründen war (und ist) die Beklagte verpflichtet, die Klägerin neben dem zugelassenen Arzneimittel auch mit dem im Rahmen der Kombinationstherapie eingesetzten Arzneimittel Avastin® zu versorgen bzw. die Kosten für dieses Medikament zu übernehmen.
Da die Klägerin bisher nicht vorgetragen und belegt hat, dass ihr durch den Einsatz von Avastin® seit 06.09.2013 bereits Kosten entstanden sind, geht die Kammer davon aus, dass dem Anspruch der Klägerin mit einer Kostenübernahme seitens der Beklagten genügt ist. Sollten der Klägerin allerdings doch schon Kosten für das Arzneimittel Avastin® entstanden sein, so steht ihr ein entsprechender Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte gemäß § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V zu. Denn die Beklagte hat die beantragte Leistung, wie sich aus den vorstehenden Darlegungen ergibt, zu Unrecht abgelehnt. Wenn dadurch der Klägerin für die unter Einhaltung des Beschaffungsweges (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 15.04.1997 – 1 BK 31/96) selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, hat die Beklagte ihr diese in der entstandenen Höhe zu erstatten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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