S 15 R 188/10

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
SG Lübeck (SHS)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 15 R 188/10
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1.) Ein nach dem 30.06.2003 und vor dem 03.06.2009 nach bestandskräftiger Ablehnung des ursprünglichen
Rentenantrages gemäß §44 Abs.1 SGB X gestellter Überprüfungsantrag auf Hinterbliebenenrente unter
Berücksichtigung von sog. "Ghetto-Beitragszeiten" führt gemäß § 44 Abs. 4 SGB X zu einer für vier Jahre
rückwirkend zu gewährenden Witwen-/Witwerrente. Bei dieser Fallgestaltung ergibt sich kein Rentenbeginn
zum 01.07.1997 aus § 3 Abs. 1 ZRBG.
2.) Ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz (Art. 3 GG) liegt darin nicht.
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand:

Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin einen früheren Beginn der ihr gewährten Hinterbliebenenrente.

Die am 1921 in S geborene Klägerin besitzt die kanadische Staatsangehörigkeit. Sie ist die Witwe des am 1908 in P geborenen und am 1986 verstorbenen H (im Folgenden: Verstorbener).

Am 27. September 2002 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Antrag auf Witwenrente. Sie gab an, dass der Verstorbene Verfolgter des Nationalsozialismus im Sinne des Bundesentschädigungsgesetztes (BEG) gewesen sei. Der Verstorbene habe Beiträge zum kanadischen/quebecischen Sozialversicherungssystem entrichtet. Dem Antrag beigefügt war eine eidesstattliche Erklärung vom 1947 über die Eheschließung, wonach die Klägerin und der Verstorbene am 1941 in P die Ehe schlossen. In einer Erklärung vom 2. September 2002 gab die Klägerin an, dass ihre Ehe mit dem Verstorbenen am 1941 vor dem Standesamt in P geschlossen worden sei und bis zum Tode des Verstorbenen am 1986 rechtsgültig bestanden habe. Die Klägerin sei nicht wieder verheiratet gewesen. Ebenfalls beigefügt war dem Antrag eine Sterbeurkunde betreffend den Verstorbenen. In einer Identitätsurkunde vom 22. Oktober 1947 wurde ausgeführt, dass der Verstorbene sich von September 1943 bis Oktober 1943 im Konzentrationslager P aufgehalten habe. Von Oktober 1943 bis Januar 1944 sei er im Konzentrationslager A , von Januar 1944 bis August 1944 im Konzentrationslager B und von August 1944 bis Mai 1945 im Konzentrationslager M interniert gewesen.

Im Rahmen des ihn betreffenden Entschädigungsverfahrens gab der Verstorbene in seinem Antrag vom 11. Mai 1955 an, dass er sich von September 1941 bis zum 2. November 1943 im "P " aufgehalten habe. Vom 2./3. November 1943 bis März 1944 sei er im Konzentrationslager P in Polen gewesen. Im Zeitraum von März 1944 bis zum 3. Mai 1945 sei er im Zwangsarbeitslager B interniert gewesen.

Dieselben Aufenthaltsdaten waren in einer weiteren Erklärung vom 25. Oktober 1955 genannt.

In einem weiteren Schreiben vom selben Datum gab der Verstorbene an, dass er nach seiner Befreiung zuerst nach Polen zurückgegangen sei, um seine Familie zu suchen. Anfang des Jahres 1946 sei er nach Deutschland zurückgekommen. Im März 1946 sei er in das UNRRA-Lager nach B bei L gekommen. Hier sei er ununterbrochen bis zu seiner Auswanderung nach Kanada geblieben.

Der Kläger erklärte am 21. Januar 1956 eidlich: "Als der Krieg ausbrach, lebte ich in P und als die Deutschen im Juni 1941 einmarschierten, musste ich den Judenstern tragen und Zwangsarbeit verrichten. Ich arbeitete sofort bei der Deutschen Armee beim Aufräumen von Kasernen und beim Ausladen von Gütern auf dem Güterbahnhof. Im Anfang wohnte ich im Judenviertel und Ende 1941 oder im Frühjahr 1942 musste ich ins Ghetto P übersiedeln. Das Ghetto war mit Drahtverhau umgeben und wurde von der SS bewacht. Es war bei Todesstrafe verboten das Ghetto zu verlassen. Die Aufsicht im Ghetto hatte der Sturmführer S. Ich blieb bis Ende des Jahres 1943. Ich arbeitete bei der Firma "M in P b/ P. Der SS-Ingenieur hieß Dietrich. Es wurde ein neues Rohrenlager gebaut. Dann kam ich nach K.Z. P. Hier blieb ich bis März 1944. Ich arbeitete in einer Tischlerei und beim Aufladen von Holz und anderen Sachen. Der Lagerführer hieß A. Von dort kam ich nach dem K.Z. B und hier wurde ich auf verschiedenen Arbeitsplätzen beschäftigt. Ich arbeitete unter Aufsicht des Lagerführer S und des SS-Obersturmführers L. Ich musste hier verschiedene Arbeiten verrichten. Anfang Mai 1945 wurde ich durch die Russen in B befreit. Nach der Befreiung ging ich zuerst meine Familie suchen und dann Anfang des Jahres 1946 ging ich nach L. Hier kam ich ins DP-Lager B , wo ich bis zu meiner Auswanderung nach Kanada im Februar 1948 blieb. Ich erkläre ausdrücklich, dass ich am 1.1.1947 im DP-Lager B mich aufgehalten habe, dort gemeldet und registriert war."

Der Zeuge I gab in einer eidlichen Erklärung vom 21. Januar 1956 an, dass er vor dem Krieg in P gelebt habe und den Verstorbenen schon von Kindheit an gekannt habe. Als die deutschen Truppen im Juni 1941 einmarschiert seien, hätten sie gleich danach den Judenstern tragen und Zwangsarbeit verrichten müssen. Alle Juden hätten von nun an im Judenviertel wohnen müssen. Hier hätten der Verstorbene und der Zeuge Kasernen reinigen, Straßen kehren und verschiedene andere Arbeiten verrichten müssen. Zur und von der Arbeit seien sie mit Wache geführt worden. Im Frühjahr 1942 sei das Judenviertel in ein geschlossenes Ghetto umgewandelt worden. Das Ghetto sei mit Drahtverhau umgeben gewesen und von der SS bewacht worden. Es sei bei Todesstrafe verboten gewesen, dasselbe zu verlassen. Hier seien der Verstorbene und der Zeuge für die Anlage einer Rohrenleitung bei der Firma "M in P bei P herangezogen worden. Der Ingenieur der Firma habe D geheißen. Alle Arbeiten, die der Verstorbene und der Zeuge hätten verrichten müssen, seien unter Bewachung der SS erfolgt. Sie hätten zusammen in einem Haus gewohnt und hätten sich infolge dessen öfter gesehen und gesprochen. Der Zeuge sei zusammen mit dem Verstorbenen bis Ende 1943 im Ghetto P geblieben. Dortiger Lagerkommandant sei der Sturmführer S gewesen. Ende 1943 sei der Zeuge in das Konzentrationslager S gekommen, während der Verstorbene noch im Ghetto P geblieben sei. Im Januar 1944 sei der Zeuge dann in das Konzentrationslager K transportiert worden, wo er den Verstorbenen wiedergetroffen habe. Der Zeuge habe hier in der Polstereiwerkstätte für das deutsche Militär arbeiten müssen, während der Verstorbene mit dem Aufladen von Holz auf Waggons beschäftigt gewesen sei. Sie hätten dort unter Aufsicht des Lagerkommandanten G arbeiten müssen. Dort seien sie zusammen bis März 1944 geblieben. Im März 1944 seien sie zusammen in das Konzentrationslager B transportiert worden und hätten dort zusammen Aufräumarbeiten verrichtet. Sie hätten unter Aufsicht des Lagerführers S und Obersturmführers L gearbeitet. Im Mai 1945 seien sie beide durch die russischen Truppen befreit worden. Nach der Befreiung seien sie auseinander gekommen und hätten sich später in M in Kanada wiedergetroffen.

Der Zeuge B erklärte am 21. Januar 1956 eidlich, dass er den Verstorbenen schon von Jugend an gekannt habe. Als die Deutschen in P im Juni 1941 einmarschiert seien, hätten sowohl der Verstorbene als auch der Zeuge den Judenstern tragen und Zwangsarbeit verrichten müssen. Alle Juden hätten im Judenviertel wohnen müssen. Hier hätten der Verstorbene und der Zeuge Kasernen reinigen, Straßen fegen und verschiedene andere Arbeiten tun müssen. Zur Arbeit und von der Arbeit seien sie mit Wache geführt worden. Im Frühjahr 1942 sei das Judenviertel in ein geschlossenes Ghetto umgewandelt worden. Das Ghetto P sei mit Drahtverhau umgeben gewesen und von der SS bewacht worden. Es sei bei Todesstrafe verboten gewesen, dasselbe zu verlassen. Im Ghetto seien der Verstorbene und der Zeuge für die Anlage einer Rohrenleitung bei der Firma M in P bei P herangezogen worden. Der Ingenieur der Firma habe D geheißen. Alle Arbeiten, die der Verstorbene und der Zeuge hätten verrichten müssen, seien unter Bewachung der SS erfolgt. Sie hätten zusammen in einem Haus gewohnt und hätten sich infolge dessen öfter gesehen und gesprochen. Der Zeuge sei im Ghetto P mit dem Verstorbenen zusammen bis Ende des Jahres 1943 gewesen. Lagerkommandant sei der Sturmführer S gewesen. Ende des Jahres 1943 sei der Zeuge in das Konzentrationslager S gekommen, während der Verstorbene noch im Ghetto P verblieben sei. Von da an habe er den Verstorbenen aus den Augen verloren. Später hätten sie sich in Kanada wiedergetroffen.

Der Rabbi B bestätigte in einer Erklärung vom 20. November 1956, dass der Verstorbene schon am 1. Oktober 1953 in Kanada ansässig gewesen sei. Dieser stamme von jüdischen Eltern ab und sei auch selbst jüdischen Glaubens.

Dies gab der Verstorbene auch in einer eigenen Erklärung vom 17. November 1956 an. Ergänzend gab er an, am 6. März 1948 nach Kanada eingewandert zu sein.

In seinem Antrag auf Entschädigung für Schaden an Körper und Gesundheit gemäß §§ 28 bis 42 BEG gab der Verstorbene an, dass er Ende des Jahres 1942 im Ghetto P von einem SS-Mann so schwer mit einem Gummiknüppel über Kopf, Körper und Füße geschlagen worden sei, bis er bewusstlos zusammengebrochen sei. Seit jenem Tage sei er nervös geworden und werde täglich nervöser und leide an starken Kopfschmerzen. Infolge schlechter Ernährung und harter Arbeit sei er an der Wirbelsäule erkrankt. Diese Schmerzen dauerten unaufhörlich an. Außerdem habe er Arthritis und Rheuma vom Arbeiten in nasser Erde bekommen. Zum Arzt habe er nicht gehen können, da die Verbrennung gedroht habe. Er habe sich bis zur Befreiung durchgeschleppt. Im Jahre 1946 sei er in Behandlung beim Lagerarzt im DP-Camp L gewesen. Er sei dort ins Lazarett gebracht worden und habe dort circa sechs Monate gelegen. Von L sei er im Jahre 1948 nach Kanada ausgewandert.

Mit Bescheid vom 22. Oktober 2003 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Hinterbliebenenrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von Zeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) ab. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass die Zeit vom 1. Juli 1942 bis zum 1. September 1943 nicht als Zeit einer Beschäftigung in einem Ghetto anerkannt werden könne, weil nicht ausreichend glaubhaft gemacht sei, dass es sich hierbei um eine entgeltliche Beschäftigung aus freiem Willensentschluss gehandelt habe. Aus den Angaben im Entschädigungsverfahren ("Arbeit unter Bewachung der SS") ergebe sich, dass die Beschäftigung nicht aus freiem Willensentschluss habe gewählt werden können. Auch der Bezug von Entgelt oder Sachbezug in wesentlichem Umfang lasse sich den Angaben nicht entnehmen. Bei der im Ghetto P ausgeübten Tätigkeit habe es sich daher um keine Beschäftigung im Sinne des ZRBG, sondern um Zwangsarbeit gehandelt. Die Zeit vom 1. September 1941 bis zum 30. Juni 1942 habe nicht als Zeit einer Beschäftigung in einem Ghetto anerkannt werden können, weil das Ghetto zu dieser Zeit noch nicht errichtet gewesen sei. Die Zeit vom 2. September 1943 bis zum 2. November 1943 habe nicht als Zeit einer Beschäftigung in einem Ghetto anerkannt werden können, weil das Ghetto zu dieser Zeit bereits liquidiert gewesen sei. Die Zeit vom 3. November 1943 bis zum 3. Mai 1945 habe nicht als Zeit einer Beschäftigung in einem Ghetto anerkannt werden können, weil es sich um einen Aufenthalt in einem Zwangsarbeitslager bzw. Konzentrationslager gehandelt habe. Zeiten der Beschäftigung und des Aufenthalts in einem Zwangsarbeitslager bzw. Konzentrationslager stünden einer Beschäftigung und einem zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto nicht gleich. Die Angaben, die anlässlich des Rentenverfahrens über das Beschäftigungsverhältnis im Ghetto vorgetragen worden seien, seien nicht geeignet, die Aussagen zu entkräften, die seinerzeit im Entschädigungsverfahren gemacht worden seien. Die Berücksichtigung von Ersatzzeiten für die Zeit der Verfolgung könne aufgrund der fehlenden versicherten Eigenschaft ebenfalls nicht erfolgen, so dass keine auf die Wartezeit anrechenbaren Versicherungszeiten vorlägen. Da keine auf die Wartezeit anrechenbaren deutschen Zeiten vorlägen, sei der Anspruch auf Rente abzulehnen.

Hiergegen erhob die Klägerin am 14. November 2003 Widerspruch. Sie trug vor, dass der Verstorbene von Juli 1942 bis September 1943 als Insasse des Ghettos P beschäftigt gewesen sei. Es habe sich um eine Arbeit gehandelt, die vom Judenrat organisiert und vom Verstorbenen freiwillig übernommen worden sei. Das Kriterium der Freiwilligkeit im Sinne des ZRBG sei unter Berücksichtigung der damaligen politischen Lage zu beurteilen. Es sei das erklärte Ziel der Judenräte gewesen, die jüdische Bevölkerung weitestgehend in den Arbeitsprozess einzugliedern. Man habe sich insbesondere für die kriegswichtige Industrie quasi unentbehrlich machen wollen, um so der Vernichtung zu entgehen. Besitzer einer Arbeitskarte seien am besten vor den ständigen Deportationen geschützt gewesen. Aus diesem Grund habe nie ein Mangel an Bewerbern bestanden. Selbst schwierige, unqualifizierte Arbeiten seien unter widrigen Verhältnissen freiwillig angenommen worden. Historische Quellen belegten, dass sogar Arbeiten in echten Zwangsarbeitslagern an der Ostfront freiwillig angenommen worden seien. Man habe die damit verbundene vollständige Freiheitsentziehung als das kleinere Übel betrachtet. An der Freiwilligkeit der Ghettoarbeit könne jedenfalls kein Zweifel bestehen. Der Verstorbene habe für seine Arbeit entgeltliche Gegenleistungen im Wesentlichen in Form von Lebensmittelkarten, Teilkost am Arbeitsplatz und zeitweise auch geringfügigen Lohnzahlungen erhalten. Abweichende oder fehlende Angaben im früheren Entschädigungsverfahren stünden einer Glaubhaftmachung nicht entgegen. In diesem Zusammenhang sei auf die Beratungsergebnisse des Verbandes der deutschen Rentenversicherungsträger zu verweisen. Es habe demnach durchaus nachvollziehbare Gründe gegeben, warum die Frage der Bezahlung im früheren Entschädigungsverfahren nicht angesprochen oder definitiv verneint worden sei. Die Bezahlung einer Arbeit in einem Ghetto oder Zwangsarbeitslager sei im Leistungsrecht des BEG nie ein entscheidendes Kriterium gewesen und sei daher von der Sachbearbeitung erst gar nicht näher geprüft worden. Über 90 % der Entschädigungsakten enthielten ohnehin keine verwertbaren Angaben zur Frage der Entgeltlichkeit im Sinne des ZRBG. Dem Widerspruch beigefügt war eine eidliche Erklärung der Klägerin. Die Klägerin gab dort an, dass sie aus Erzählungen ihres Ehemannes wisse, dass er beim Anlegen von Rohrenleitungen tätig gewesen sei. Soviel sie wisse, habe er auch manches Mal bei der Eisenbahn gearbeitet. Die Arbeitsstelle sei ihm durch den Judenrat vermittelt worden. Auf dem täglichen Weg zur Arbeit und zurück sei der Verstorbene von der Polizei bewacht worden. Während der Arbeit sei er durch Meister beaufsichtigt worden. Soviel ihr bekannt sei, habe der Verstorbene eine Zahlung erhalten. Daneben habe er eine Wohnung, Verpflegung und Lebensmittelkarten/Sonderrationsscheine und -bezugskarten als Entlohnung erhalten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 4. August 2006 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Nach Darlegung der gesetzlichen Grundlagen führte die Beklagte zur Begründung aus, dass sich aus den Angaben im Entschädigungsverfahren ergebe, dass sich der Verstorbene von September 1941 bis zum 2. November 1943 im Ghetto P aufgehalten habe. Während dieser Zeit habe er unter Bewachung der SS bei der Firma M in P bei P gearbeitet und beim Errichten eines neuen Rohrlagers geholfen. Das Ghetto P habe vom 1. Juli 1942 bis zum 1. September 1943 bestanden. Eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss sei für diesen Zeitraum nicht glaubhaft gemacht worden. Nach den vorliegenden Angaben habe der Verstorbene für die Firma M in einer Anlage für Rohrleitungen gearbeitet. Es sei dabei überwiegend wahrscheinlich, dass der Verstorbene dieser Firma zugewiesen worden sei, ohne dass er hierauf Einfluss gehabt habe, sodass das Merkmal eines frei gewählten Beschäftigungsverhältnisses fehle. Die Zuweisung oder Bereitstellung der jüdischen Arbeitskräfte für die angegebene Arbeit sei auch durch den Judenrat auf Anforderung der deutschen Besatzer zustande gekommen. Dies ändere jedoch nichts daran, dass es sich um Zwangsarbeit gehandelt habe. Aus den vorliegenden Unterlagen ergäben sich keine Hinweise, dass der Verstorbene die Arbeit frei auf einem "Ghetto-Arbeitsmarkt" gewählt habe. Die eigene Erklärung der Klägerin sei zur Glaubhaftmachung einer ZRBG-Beitragszeit nicht geeignet, da die Kenntnisse der Klägerin nicht auf eigenen Wahrnehmungen beruhten. Bei der ausgeübten Tätigkeit habe es sich somit um Zwangsarbeit gehandelt, die vom ZRBG nicht erfasst sei. Die Angaben, welche die Klägerin jetzt anlässlich des Widerspruchsverfahrens über das Beschäftigungsverhältnis im Ghetto vorgetragen habe, seien nicht geeignet, die Aussagen zu entkräften, die seinerzeit im Entschädigungsverfahren gemacht worden seien. Der angefochtene Bescheid sei nicht zu beanstanden und somit zu Recht ergangen. Der Widerspruch sei deshalb zurückzuweisen gewesen. Der Widerspruchsbescheid wurde mit einfachem Brief am 7. August 2006 an den im Inland (84030 Ergolding) ansässigen damaligen Bevollmächtigten der Klägerin abgesandt. Ein Rechtsbehelf wurde nicht eingelegt.

Am 25. November 2008 stellte die Klägerin "vorsorglich" einen Überprüfungsantrag. Zu dessen Begründung führte sie aus, dass der Verstorbene eine freiwillige und entgeltliche Beschäftigung in der Zeit vom 1. Juli 1942 bis zum 1. September 1943 im Ghetto P ausgeübt habe. Entgegen der bisherigen Auffassung der Beklagten habe der Verstorbene im Ghetto P keine Zwangsarbeit ausgeübt. Die Tätigkeit im Ghetto P sei dem Verstorbenen durch den Judenrat vermittelt worden. Der Kläger habe im Lebensmittellager des Judenrates gearbeitet. Als Entlohnung habe der Verstorbene neben der täglichen Verpflegung weitere zusätzliche Lebensmittelrationen erhalten, mit denen er auch noch andere Personen habe versorgen können, sodass von einer Entgeltlichkeit des Beschäftigungsverhältnisses auszugehen sei. Die Angaben im Entschädigungsverfahren bezögen sich ausschließlich auf die geleistete Tätigkeit bei der Firma M. Es werde klargestellt, dass nur die Tätigkeit beim Lebensmittellager des Judenrates als Beschäftigungszeit in einem Ghetto geltend gemacht werde.

Mit Bescheid vom 2. April 2009 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass die Überprüfung des Bescheides vom 22. Oktober 2003 ergeben habe, dass bei dessen Erlass weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem falschen Sachverhalt ausgegangen worden sei. Mit dem Antrag vom 27. September 2002 auf Bewilligung einer Witwenrente nach § 46 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) sei die Berücksichtigung von Beitragszeiten im Rahmen des ZRBG geltend gemacht worden. Die Klägerin habe angegeben, dass sich der Verstorbene von 1941 bis 1943 zunächst in P und später dann in dem dortigen Ghetto aufgehalten habe. Der beigezogenen Entschädigungsakte sei zu entnehmen, dass der Verstorbene vom Juni 1941 bis zum Frühjahr 1942 für die deutsche Armee in einer Kaserne zum Aufräumen und Be- und Entladen von Zügen unter Bewachung gearbeitet habe. Nach der Eröffnung des Ghettos sei eine Beschäftigung bei der Firma M erfolgt, die unter Bewachung der SS verrichtet worden sei. Diese Beschäftigung solle bis zum Ende 1943 angedauert haben. Der Antrag sei abgelehnt worden, weil eine entgeltliche Beschäftigung im Sinne des ZRBG nicht vorgelegen habe. Vielmehr habe es sich um Zwangsarbeit gehandelt. Das anschließende Widerspruchsverfahren habe ebenfalls nicht zur Anerkennung von Beitragszeiten geführt. Nunmehr werde angegeben, dass der Verstorbene vom 1. Juli 1942 bis zum 1. September 1943 im Lebensmittellager des Judenrates durch Vermittlung des Judenrates entgeltlich gearbeitet haben solle. Auf die Beschäftigung bei M werde sich ausdrücklich nicht mehr bezogen. Nachweise oder Mittel der Glaubhaftmachung für die angegebene Beschäftigung hätten nicht beigebracht werden können. Im Fall der Klägerin – Beantragung einer Hinterbliebenenrente ohne den vorherigen Bezug einer Versichertenrente – komme den Aussagen in der Entschädigungsakte eine besondere Bedeutung zu, weil diese zeitnah am zu beurteilenden Lebenssachverhalt und vom Versicherten selbst getätigt worden seien. Weiterführende Erklärungen Dritter seien nicht geeignet, das Vorliegen einer Beitragszeit im Sinne des ZRBG glaubhaft zu machen. Die Berücksichtigung einer Ersatzzeit könne nicht erfolgen, weil die Versicherteneigenschaft nicht gegeben sei. Weil keine auf die Wartezeit anrechenbaren Beitragszeiten vorhanden seien, sei die Gewährung einer Witwenrente nach § 46 SGB VI weiterhin abzulehnen. Somit verbleibe es beim Bescheid vom 22. Oktober 2003.

Hiergegen erhob die Klägerin am 7. Mai 2009 Widerspruch, in welchem sie darauf hinwies, dass sich die Tätigkeit beim Lebensmittellager des Judenrates aus einem "Shoah-Interview" der Ehefrau ergebe. Mit Schreiben vom 5. Juni 2009 äußerte die Klägerin ergänzend, dass sie angesichts der jüngsten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts die Anspruchsvoraussetzungen für erfüllt halte.

Die Beklagte nahm sodann eine DVD mit dem von der Klägerin bezeichneten Interview in Augenschein. In einem Vermerk betreffend den Inhalt der DVD legte die Beklagte nieder, dass die Klägerin geschildert habe, dass sie den Verstorbenen, der deutlich älter gewesen sei als sie selbst, während des Krieges kennengelernt habe. Sie hätten am 1941 geheiratet. Die Trauung habe der Bruder des Ehemannes, ein Rabbi, vorgenommen. Nachdem die Deutschen gekommen seien, sei ein Ghetto errichtet worden. Sie hätten nicht umzuziehen gebraucht, weil das Haus der Eltern sich auf dem Gebiet des Ghettos befunden habe. Sie hätten dort in einem Zimmer gelebt. Der Verstorbene sei ein Freund des Judenratsvorsitzenden D gewesen. Dieser habe ihnen einen Laden gegeben. Sie hätten Lebensmittel, zum Beispiel Brot, Zucker und weitere erforderliche Dinge an die Leute im Ghetto ausgegeben und seien so die Versorger gewesen. Deshalb seien sie nie hungrig gewesen. Das sei, was der Verstorbene gemacht habe. Die Klägerin selbst habe für das Militär gearbeitet. Der Verstorbene habe dann dafür gesorgt, dass sie aus dem Ghetto gekommen seien. Ein polnischer Polizist, der sie aus dem Laden gekannt habe, habe ihnen geholfen. Sie hätten ein paar Monate in einer Wohnung und dann in einem Haus, welches am Stadtrand gelegen sei, gelebt. Der Verstorbene sei dann auch zu dem Haus gekommen. Die Flucht aus dem Ghetto sei ihm gelungen, indem er sich zwei Totengräbern angeschlossen habe, die Leichen aus dem Ghetto zu dem außerhalb des Ghettos gelegenen Friedhof gebracht und diese dort begraben hätten. Sie hätten dann mit anderen in einem Bunker unter dem Haus bis zur Befreiung durch die Russen im Juni 1944 gelebt. Die Beklagte vermerkte, dass die genauen Zeitpunkte, wann zunächst die Klägerin und wann der Verstorbene aus dem Ghetto entkommen seien, den Schilderungen nicht zu entnehmen gewesen sei.

Mit Bescheid vom 5. November 2009 bewilligte die Beklagte der Klägerin große Witwenrente zum 1. Januar 2004. Die Klägerin habe Anspruch auf große Witwenrente. Ihr Ehemann sei am 1986 verstorben und die Klägerin habe das 45. Lebensjahr vollendet. Die vom 1. Juli 1942 bis zum 30. November 1942 zurückgelegten Zeiten einer Beschäftigung in einem Ghetto seien nach dem ZRBG als "Ghetto-Beitragszeiten" anzuerkennen. Für diese Zeiten gälten Beiträge als gezahlt. Die Rente werde unter Berücksichtigung des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kanada über soziale Sicherheit vom 14.11.1985 festgestellt. Für die Zeit des gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland werde eine Auslandsrente festgestellt. Ab 1. Dezember 2009 würden laufend monatlich 203,06 EUR gezahlt. Für die Zeit vom 1. Januar 2004 bis zum 30. November 2009 betrage die Nachzahlung 15.553,32 EUR. Diese Leistung werde als Ermessensleistung gezahlt. Sie gelte nicht als Leistung der sozialen Sicherheit. Der Bescheid ergehe aufgrund des Widerspruchs vom 7. Mai 2009. Dem Widerspruch sei damit gemäß § 85 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in vollem Umfang abgeholfen worden. Das Widerspruchsverfahren sei damit erledigt. Der Bescheid vom 2. April 2009 werde zurückgenommen. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Kosten würden nach § 63 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) von der Beklagten zur Hälfte übernommen.

Mit Schreiben vom 9. Dezember 2009 erhob die Klägerin gegen den Rentenbescheid vom 5. November 2009 teilweise Widerspruch. Der Widerspruch richte sich gegen den Rentenbeginn. Als Rentenbeginn sei der 1. Januar 2004 festgesetzt worden. Die Klägerin habe aber bereits unter dem 27. September 2002 die Gewährung einer Hinterbliebenenrente beantragt. Der ursprüngliche Rentenantrag der Klägerin sei zu Unrecht abgelehnt worden. Im Interesse der Gleichbehandlung aller Betroffenen sollte der Klägerin nicht die Verjährung der Ansprüche entgegengehalten werden. Vielmehr sei auch hier der Rentenbeginn mit dem 1. Juli 1997 festzulegen. Um Abhilfe werde gebeten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 2010 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Unter Widergabe des Wortlauts des § 44 Abs. 4 SGB X führte die Beklagte zur Begründung aus, dass der Überprüfungsantrag am 25. November 2008 und damit vor der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bezüglich des ZRBG (Urteile vom 02.06.2009 und 03.06.2009) gestellt worden sei. In diesen Fällen sei die Anwendung des § 44 SGB X zwingend. Von der Einschränkung der rückwirkenden Leistungserbringung aus § 44 Abs. 4 SGB X könne daher nicht abgewichen werden. Bei dieser Sach- und Rechtslage sei der Widerspruchsausschuss zu der Auffassung gelangt, dass der angefochtene Bescheid nicht zu beanstanden und somit zu Recht ergangen sei. Der Widerspruchsbescheid wurde mit einfachem Brief am 26. Februar 2010 an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin abgesandt.

Am 1. April 2010 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Lübeck erhoben.

Sie trägt vor, dass gemäß § 3 ZRBG Besonderheiten beim Rentenbeginn gälten. Ein bis zum 30. Juni 2003 gestellter Antrag auf Rente gelte als am 18. Juni 1997 gestellt. Bei Hinterbliebenenrenten gelte der Rentenantrag frühestens mit dem Todestag als gestellt, wenn der Verfolgte in der Zeit vom 18. Juni 1997 bis zum 30. Juni 2003 verstorben sei. Die Klägerin ist der Auffassung, dass es sich hierbei um eine lex specialis-Regelung handele, die dem § 44 SGB X vorgehe. Die Beklagte könne sich daher nicht auf die Einschränkung der rückwirkenden Leistungserbringung gemäß § 44 Abs. 4 SGB X berufen. Die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 ZRBG seien hier erfüllt, da der Rentenantrag bis zum 30. Juni 2003 gestellt und von der Beklagten zu Unrecht abgelehnt worden sei.

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 5. November 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2010 zu verurteilen, ihr Witwenrente aus der Versicherung des Herrn H rückwirkend ab dem 1. Juli 1997 zu zahlen,

hilfsweise,

die Sprungrevision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sprungrevision zuzulassen.

Zur Begründung verweist sie auf die Ausführungen im Bescheid vom 5. November 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2010. Die Ausführungen der Klägerin zur Klage seien nicht geeignet, die Beklagte zu einer Änderung ihrer Rechtsauffassung zu bewegen.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Gerichts ohne mündliche Verhandlung schriftsätzlich erklärt (Bl. 16 f. der Gerichtsakte).

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vom Gericht beigezogenen Verwaltungsakten, die sämtlich Gegenstand der Entscheidung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten ausdrücklich ihr Einverständnis hiermit erklärt haben.

Nach Auslegung des klägerischen Begehrens (§ 123 SGG) ist der Streitgegenstand des Klagverfahrens (§ 95 SGG) darauf beschränkt, ob – entgegen des Bescheides der Beklagten vom 5. November 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2010 – ein Anspruch der Klägerin auf die Gewährung von Hinterbliebenenrente zu einem früheren Zeitpunkt als dem 1. Januar 2004, weitestgehend rückwirkend ab dem 1. Juli 1997 besteht.

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

Die formgerecht erhobene Klage ist zulässig.

Das Sozialgericht Lübeck ist gemäß § 57 Abs. 3 SGG örtlich zuständig.

Die Klage ist als Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und Abs. 4 SGG statthaft.

Die Klage wurde auch fristgerecht erhoben. Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG ist eine Klage gegen einen Verwaltungsakt binnen eines Monats nach dessen Bekanntgabe zu erheben. Gemäß § 87 Abs. 2 SGG beginnt die Frist mit der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides. Die Bekanntgabe eines Widerspruchsbescheides richtet sich nach § 85 Abs. 3 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 37 SGB X. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt bei der Übermittlung durch die Post im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben. Der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 23. Februar 2010 wurde ausweislich des Vermerks der Beklagten in der Verwaltungsakte am 26. Februar 2010 zur Post aufgegeben und galt danach am 1. März 2010 als bekanntgegeben. Die Monatsfrist des § 87 Abs. 1 SGG für die Erhebung einer Klage berechnet sich nach § 64 SGG. Gemäß § 64 Abs. 1 SGG beginnt der Lauf einer Frist mit dem Tag nach der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes, hier also dem 2. März 2010 um 0 Uhr. Nach § 64 Abs. 2 SGG endet eine nach Monaten bestimmte Frist mit dem Ablauf des letzten Tages desjenigen Monats, welcher nach Benennung oder Zahl demjenigen Tag entspricht, in den das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt. Dies bedeutet hier, dass die Klagefrist von einem Monat am Donnerstag, dem 1. April 2010 um 24 Uhr endete. Die Klage ist am 1. April 2010 beim Sozialgericht Lübeck eingegangen.

Ein Rechtsschutzbedürfnis für die Klage ist gegeben. Ein solches würde nur fehlen, wenn die Klägerin mit ihrer Klage keinerlei Verbesserung ihrer rechtlichen Stellung erlangen könnte. Nicht entscheidend ist, ob die Klägerin wirtschaftlich besser gestellt würde, woran insoweit Zweifel bestehen könnte, als Hinterbliebenenrenten auf Altersrenten aus eigener Versicherung gemäß § 97 Abs. 1 SGB VI in Verbindung mit § 18a Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) anzurechnen sind. Wenn aber das Recht eine Rechtsposition einräumt, hat die Verwaltung diese Rechtsposition auch vollständig zu beachten und entsprechend zu handeln (Böttiger, in: Breitkreuz/Fichte [Hrsg.], SGG, 2009, § 54 Rdnr. 28). Ein Rechtsschutzbedürfnis ist hier gegeben, denn die Klägerin könnte bei Erfolg der Klage eine Verbesserung ihrer rechtlichen Stellung, nämlich einen früheren Beginn ihrer Hinterbliebenenrente und damit eine länger rückwirkende Gewährung derselben erlangen.

Die Klage ist jedoch nicht begründet.

Die angefochtenen Bescheide sind nicht rechtswidrig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Hinterbliebenenrente rückwirkend für einen Zeitpunkt vor dem 1. Januar 2004.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. § 44 Abs. 1 SGB X dient dem Zweck, die Konfliktsituation zwischen der wegen der Bestandskraft des rechtswidrigen Verwaltungsaktes eingetretenen Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit aufzulösen (BSG, Urteil vom 11.08.1983 – 1 RA 53/82, BSGE 55, 220, 223; BSG, Urteil vom 18.03.1998 – B 6 KA 16/97 R, BSGE 82, 50, 53; BSG, Urteil vom 11.11.2003 – B 2 U 32/02 R, NZS 2004, 660; Jung, SGb 2002, 1, 2; Rützel, SozVers 1999, 64; Fichte, in: Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann [Hrsg.], Kommentar zum Sozialrecht, 2009, § 48 SGB X Rdnr. 7). Der Einzelfallgerechtigkeit wird im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben ein höheres Gewicht beigemessen als der Rechtssicherheit (vgl. BSG, Urteil vom 29.05.1991 – 9/9a RVs 11/89, BSGE 69, 14, 16 und 18). Obwohl die im Bescheid getroffene Regelung wegen formeller oder materieller Bestandskraft für die rechtliche Beziehung zwischen den Beteiligten – Rentenversicherungsträger und Bürger – gemäß § 77 SGG maßgeblich war, erhält ein betroffener Bürger nachträglich eine Leistung. Der Rentenversicherungsträger muss das ursprüngliche Leistungsverfahren mit dem Ziel und dem Zweck wiederaufnehmen und fortsetzen, die Leistung nunmehr entsprechend dem überragenden Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der materiellen Gerechtigkeit allen Verwaltungshandelns in gesetzlich zustehender Höhe festzustellen (BSG, Urteil vom 11.08.1983 – 1 RA 53/82, BSGE 55, 220, 222; Hochheim, NZS 2007, 638, 639). Dies gilt selbst für Verwaltungsakte, die in einem rechtskräftig abgeschlossenen Gerichtsverfahren bestätigt worden sind (BSG, Urteil vom 29.05.1991 – 9/9a RVs 11/89, BSGE 69, 14, 16; Steinwedel, in: von Wulffen/Krasney [Hrsg.], Festschrift 50 Jahre BSG, 2004, S. 783, 786; Hochheim, NZS 2007, 638, 639). Ein nicht begünstigender Verwaltungsakt ist immer dann gegeben, wenn für den Betroffenen nicht lediglich ein Recht oder ein rechtlich erheblicher Vorteil, sondern daneben eine Belastung begründet oder bestätigt wird (Hochheim, NZS 2007, 638, 638). Voraussetzung für die Rücknahme gemäß § 44 Abs. 1 SGB X ist die Rechtswidrigkeit des Bescheides, der zur Überprüfung ansteht. Gleichgültig ist, welche Quelle zur Erkenntnis der Rechtswidrigkeit geführt hat. Der Grund kann in nachträglicher Kenntnis des wahren Sachverhalts, gerichtlichen Entscheidungen beliebiger Art, Auffassungen in der Literatur oder auch in einem eigenständigen Meinungswandel in der Behörde liegen (vgl. Rüfner, in: Gitter/Schulin/Zacher [Hrsg.], Festschrift für Krasney, 1997, S. 401, 405). Die Rechtswidrigkeit muss im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes bestanden haben (vgl. BSG, Urteil vom 03.04.2001 – B 4 RA 22/00 R, BSGE 88, 75, 81; BSG, Urteil vom 14.11.2002 – B 13 RJ 47/01 R, BSGE 90, 136, 138). Der fehlerhafte Verwaltungsakt muss kausal dafür gewesen sein, dass Sozialleistungen nicht erbracht wurden (BSG, Urteil vom 28.05.1997 – 14/10 RKg 25/95, SozR 3-1300 § 44 Nr. 21; Vogelgesang, in: Hauck/Noftz [Hrsg.], SGB X, § 44 Rdnr. 13 [2004]). Auf ein Verschulden der Behörde beim Erlass des aufgehobenen Verwaltungsaktes kommt es nicht an (Waschull, in: Diering/Timme/Waschull [Hrsg.], SGB X, 2. Aufl. 2007, § 44 Rdnr. 54 m. w. Nachw. aus der Rspr. des BSG). Ein Ermessen hinsichtlich der Rücknahme ist der Verwaltung nicht eingeräumt (Steinwedel, in: von Wulffen/Krasney [Hrsg.], Festschrift 50 Jahre BSG, 2004, S. 783, 784).

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Oktober 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2006 war nicht begünstigend, da durch ihn die Gewährung einer Hinterbliebenenrente für die Klägerin abgelehnt wurde. Er war zudem unanfechtbar, da eine Klage gegen ihn nach Erlass des Widerspruchsbescheides nicht erhoben wurde. Der genannte Bescheid der Beklagten erweist sich auch als rechtswidrig, denn das Bundessozialgericht (BSG, Urteile vom 02.06.2009 und 03.06.2009 – u. a. B 13 R 81/08 R, BSGE 103, 190; B 5 R 66/08 R, juris; B 13 R 139/08 R, BSGE 103, 201; B 5 R 26/08 R, BSGE 103, 220) hat zur Auslegung des ZRBG, auf dessen Normen auch die Ablehnung des Rentenantrages der Klägerin gestützt war, klargestellt, dass Verfolgten des Nationalsozialismus unter Umständen, wie sie auch der Verstorbene erleben musste, eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zu gewähren ist. Die Beklagte ist bei der Ablehnung des Rentenantrages zudem von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen, denn der Verstorbene ist im Ghetto P zumindest auch einer anderen als der von der Beklagten angenommenen Beschäftigung nachgegangen, welche die Kriterien des § 1 ZRBG erfüllt. Die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes war kausal für die Nichtleistung der Hinterbliebenenrente. Der Bescheid war auch bereits bei seinem Erlass rechtswidrig, denn die Auslegung des ZRBG durch das Bundessozialgericht stellt keine Änderung geltenden Rechts, sondern einen Akt der Rechtserkenntnis dar, wie die Bestimmungen des ZRBG von Anfang an zu verstehen waren. Dass die Beklagte in ihrem Bescheid vom 5. November 2009 ausgeführt hat, der Bescheid vom 2. April 2009 werde zurückgenommen, stellt lediglich einen Begründungsmangel dar.

Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, werden gemäß § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des Sozialgesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Gemäß § 44 Abs. 4 Satz 2 SGB X wird dabei der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in welchem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Die Frist des § 44 Abs. 4 Satz 2 SGB X beginnt mit dem letzten Tag des Vorjahres (§ 26 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]) und endet nach vier Jahren mit dem ersten Tag des Jahres (§ 26 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit § 188 Abs. 2 BGB). Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, gemäß § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X anstelle der Rücknahme der Antrag. § 44 Abs. 4 SGB X stellt sich nicht als Verfahrensbestimmung, sondern als eine materiell-rechtliche Anspruchsbeschränkung dar (BSG, Urteil vom 23.07.1986 – 1 RA 31/85, BSGE 60, 158; Waschull, in: Diering/Timme/Waschull [Hrsg.], SGB X, 2. Aufl. 2007, § 44 Rdnr. 54; Hofe, SGb 1986, 11, 16). Die Vorschrift ist verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BSG, Urteil vom 23.07.1986 – 1 RA 31/85, BSGE 60, 158; Waschull, in: Diering/Timme/Waschull [Hrsg.], SGB X, 2. Aufl. 2007, § 44 Rdnr. 54).

§ 44 SGB X wird durch den mit Wirkung vom 1. Mai 2007 in das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung eingefügten § 100 Abs. 4 SGB VI modifiziert. Liegen die in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vor, weil er auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Verwaltungsaktes für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt oder in ständiger Rechtsprechung anders als durch den Rentenversicherungsträger ausgelegt worden ist, so ist ein Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden ist, gemäß § 100 Abs. 4 SGB VI nur mit Wirkung für die Zeit ab dem Beginn des Kalendermonats nach Wirksamwerden der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen. Bei dieser Bestimmung handelt es sich hinsichtlich des Zeitpunktes der Aufhebung um eine gegenüber § 44 SGB X spezielle Regelung (Göhde, SozSich 2007, 310, 311). Erfasst werden ausdrücklich nur unanfechtbare Verwaltungsakte (§ 77 SGG). Ein Bescheid bleibt in diesem Sinne auch dann unanfechtbar, wenn nach Eintritt der Bindungswirkung ein Überprüfungsverfahren anhängig ist (BSG, Urteil vom 10.04.2003 – B 4 RA 56/02 R, SozR 4-1300 § 44 Nr. 3; Kreikebohm, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/ Udsching [Hrsg.], BeckOK-SozR, § 100 SGB VI Rdnr. 8 [2010]). Die Norm ist jedoch nicht anwendbar auf Verwaltungsakte, die aufgrund eines sich als unrichtig erweisenden Sachverhalts rechtswidrig sind. In diesen Fällen gilt weiterhin § 44 SGB X (BT-Drucks. 16/3794, S. 37; Jörg, in: Kreikebohm [Hrsg.], SGB VI, 3. Aufl. 2008, § 100 Rdnr. 10; Kater, in: Leitherer [Hrsg.], Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, § 100 SGB VI Rdnr. 20 [2009]; Brähler, in: Ruland/Försterling [Hrsg.], SGB VI, § 100 Rdnr. 51 [2009]).

§ 100 Abs. 4 SGB VI ist hier insoweit nicht anwendbar, als der ablehnende Bescheid der Beklagten zumindest auch deshalb aufzuheben war, da sich der der Beurteilung für die Hinterbliebenenrente zugrunde gelegte Sachverhalt als unrichtig erwies. Die Beklagte hat ihrem ablehnenden Bescheid Tätigkeiten des Verstorbenen im Ghetto zugrunde gelegt, welche die Voraussetzungen des § 1 ZRBG nicht erfüllten. Nach Auswertung neuer Erkenntnisquellen, insbesondere dem auf DVD aufgezeichneten Interview mit der Klägerin erwies sich, dass der Verstorbene im Ghetto P Tätigkeiten verrichtet hat, die die Voraussetzungen des § 1 ZRBG erfüllten.

Aber auch, wenn eine Rücknahme aus Rechtsgründen, etwa im Hinblick auf die neuere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, erfolgt wäre, käme § 100 Abs. 4 SGB VI hier nicht zur Anwendung. Denn es fehlt an einer ständigen Rechtsprechung vor dem 25. November 2008 – dem Datum des Eingangs Überprüfungsantrages bei der Beklagten – , durch welche eine Norm anders ausgelegt worden wäre als durch den Rentenversicherungsträger. § 100 Abs. 4 SGB VI ist mit Wirkung vom 1. Mai 2007 in das SGB VI implementiert worden. Dieses Datum ist der maßgebliche Stichtag für die Anwendbarkeit der Regelung. Eine früher als zu diesem Datum entstandene ständige Rechtsprechung führt nicht zur Anwendbarkeit des § 100 Abs. 4 SGB VI (Göhde, SozSich 2007, 310, 314). Das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 08.02.2007 – B 7a AL 2/06 R, SozR 4-4300 § 330 Nr. 4) hat zum insoweit vergleichbaren § 330 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) zudem ausgeführt, dass die den § 44 SGB X modifizierende Regelung nicht zur Anwendung komme, wenn ein Überprüfungsantrag bereits vor Entstehen einer ständigen Rechtsprechung gestellt worden sei. Die eine Überprüfung Begehrenden dürften gegenüber denjenigen, die die ständige Rechtsprechung herbeigeführt haben, nicht schlechter gestellt werden. Diese Überlegung ist auf § 100 Abs. 4 SGB VI übertragbar. Denn solange noch keine ständige Rechtsprechung vorliegt, kann kein konkreter Zeitpunkt im Sinne dieser Vorschrift festgelegt werden (Göhde, SozSich 2007, 310, 315; a. A. Brähler, in: Ruland/Försterling [Hrsg.], SGB VI, § 100 Rdnr. 56 [2009]). In diesen Fällen verbleibt es bei der Anwendung des § 44 SGB X.

So liegt es auch hier. Eine ständige Rechtsprechung hat unter anderem die Funktion, das Vertrauen auf die Konstanz der Rechtsprechung zu schützen. Die Bindung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht bedeutet zugleich, dass die Verwaltung auch an die Auslegung der Gesetze gebunden ist, die diese durch die Rechtsprechung erfahren haben. Unter einer ständigen Rechtsprechung ist stets die Rechtsprechung eines zuständigen obersten Bundesgerichts verstanden worden (vgl. z. B. BSG, Urteil vom 23.03.1995 – 11 RAr 71/94, SozR 3-4100 § 152 Nr. 5; Hochheim, NZS 2007, 638, 642). Keine ständige Rechtsprechung im Sinne des § 100 Abs. 4 SGB VI können Entscheidungen der Sozial- und Landessozialgerichte begründen (BSG, Urteil vom 29.06.2000 – B 11 AL 99/99 R, SozR 3-4100 § 152 Nr. 10; Kater, in: Leitherer [Hrsg.], Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, § 100 SGB VI Rdnr. 20 [2009]). Denn anderenfalls wäre praktisch kein genauer Zeitpunkt ermittelbar, ab wann von einer solchen auszugehen ist. Auch die Spruchpraxis des Reichsversicherungsamtes kann keine ständige Rechtsprechung im Sinne des § 100 Abs. 4 SGB VI begründen. Eine ständige Rechtsprechung liegt vor, wenn eine Rechtsfrage als abschließend geklärt anzusehen ist. Dies kann dann der Fall sein, wenn der einzig zuständige Senat eines obersten Gerichtshofes des Bundes wiederholt im gleichen Sinn entschieden hat (BSG, Urteil vom 16.10.2003 – B 11 AL 20/03, SozR 4-4300 § 330 Nr. 1; Stock, in: Reinhardt [Hrsg.], SGB VI, 2. Aufl. 2010, § 100 Rdnr. 20; vgl. BT-Drucks. 16/3794, S. 37), zwei unterschiedliche Senate eines obersten Gerichtshofs des Bundes übereinstimmend entschieden haben (BSG, Urteil vom 25.11.1977 – 2 RU 93/76, juris), der Große Senat eines obersten Gerichtshofs des Bundes oder der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes entschieden hat (Kreikebohm, in: Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann [Hrsg.], Kommentar zum Sozialrecht, 2009, § 100 SGB VI Rdnr. 10; Brähler, in: Ruland/Försterling [Hrsg.], SGB VI, § 100 Rdnr. 52 [2009]; Fichte, NZS 1998, 1, 3 f.). Eine Einzelentscheidung eines Senats des Bundessozialgerichts begründet noch keine ständige Rechtsprechung, es sei denn, diese Entscheidung wird von der Verwaltung grundsätzlich befolgt und von den unteren Instanzen sowie vom Schrifttum geteilt (Brähler, in: Ruland/Försterling [Hrsg.], SGB VI, § 100 Rdnr. 53 [2009]; Göhde, SozSich 2007, 310, 312 f.).

Unter Beachtung dieser Grundsätze kann hier eine ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Auslegung der Voraussetzungen für den Erhalt einer Rente unter Berücksichtigung von sogenannten "Ghetto-Beitragszeiten" nach dem ZRBG frühestens ab dem 3. Juni 2009 angenommen werden. Zwar hat das Bundessozialgericht bereits mit Urteilen vom 18. Juni 1997 zu Beitragszeiten aufgrund einer Beschäftigung in einem Ghetto positiv Stellung bezogen. Diese Entscheidungen enthalten indes keine Aussagen zum ZRBG. Vielmehr waren diese Entscheidungen erst der Wegbereiter für das ZRBG (vgl. v. Renesse, NJW 2008, 3037; Röhl, SGb 2009, 464, 465; Leopold, SchlHA 2008, 396). Bei der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 14.12.2006 (B 4 R 29/06 R, BSGE 98, 48) handelt es sich – obwohl ihr Ergebnis mit dem der Urteile vom 2. und 3. Juni 2009 weitgehend übereinstimmt – um eine Einzelentscheidung, denn zu dieser Zeit existierten noch weitere mit dem Gesetz der gesetzlichen Rentenversicherung befasste Senate beim Bundessozialgericht, die keine entsprechenden Entscheidungen erlassen hatten. Dem Urteil wurde auch von Seiten der Verwaltung und der meisten unteren Instanzgerichte nicht entsprochen. Erst zum Zeitpunkt der Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 2. und 3. Juni 2009 haben die zwei derzeit allein für das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung zuständigen Rentensenate des Bundessozialgerichts übereinstimmend die Voraussetzungen der sogenannten "Ghetto-Beitragszeiten" nach dem ZRBG abschließend dargelegt.

Mangels Anwendbarkeit des § 100 Abs. 4 SGB VI war die Hinterbliebenenrente der Klägerin nach Maßgabe des § 44 SGB X festzusetzen. Die Beklagte hat den Rentenbeginn unter Beachtung der Bestimmung des § 44 Abs. 4 SGB X zutreffend auf den 1. Januar 2004 festgelegt. Denn die Hinterbliebenenrente der Klägerin wurde auf den Überprüfungsantrag vom 25. November 2008 hin gewährt.

Auch aus § 48 Abs. 2 SGB X resultiert hier kein höherer Rentenzahlanspruch durch einen früheren Rentenbeginn. Gemäß dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zu Gunsten des Berechtigten auswirkt; § 44 SGB X bleibt unberührt. Die Bestimmung des § 48 Abs. 2 SGB X setzt jedoch – soweit sie als unmittelbare Rechtsgrundlage einer Aufhebung heranzuziehen wäre – einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung voraus. Ein die Rentengewährung ablehnender Verwaltungsakt stellt indes keinen solchen Verwaltungsakt dar (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.1985 – 1 RJ 2/84, BSGE 58, 27).

Hier wurde der von der Klägerin am 27. September 2002 gestellte Antrag auf Witwenrente abgelehnt. Ein Dauerverwaltungsakt war dies nicht. Mangels Anwendbarkeit des § 48 Abs. 2 SGB X im hier zu beurteilenden Fall kann dahinstehen, ob der Bestimmung neben § 44 SGB X überhaupt noch ein eigenständiger Anwendungsbereich zukommen kann, etwa weil die nachträgliche Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung auf einer Änderung ihrer rechtlichen Grundlagen oder der bei ihrer Schaffung geltenden sozialen, soziologischen sowie wirtschaftlichen Gegebenheiten und Ausnahmen beruht (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.1985 – 1 RJ 2/84, BSGE, 58, 27, 31; BSG, Urteil vom 28.04.1999 – B 9 V 16/98 R, juris; Rüfner, in: Gitter/Schulin/Zacher [Hrsg.], Festschrift für Krasney, 1997, S. 401, 408; Merten, in: Hauck/Noftz [Hrsg.], SGB X, § 48 Rdnr. 90 [2009]).

Die Klägerin kann einen früheren Rentenbeginn auch nicht auf § 3 Abs. 1 ZRBG stützen. Gemäß Satz 1 dieser Vorschrift gilt ein bis zum 30. Juni 2003 gestellter Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung als am 18. Juni 1997 gestellt. Bei Hinterbliebenenrenten gilt der Rentenantrag nach § 3 Abs. 1 Satz 2 ZRBG frühestens mit dem Todestag als gestellt, wenn der Verfolgte in der Zeit vom 18. Juni 1997 bis zum 30. Juni 2003 verstorben ist.

Ausgangspunkt einer Gesetzesauslegung ist der Wortlaut einer Norm. Der im Wortlaut des § 3 Abs. 1 ZRBG verwendete Begriff "Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung" ist für sich gesehen neutral. Hierunter könnte jeder Antrag mit Bezug zum Recht der gesetzlichen Rentenversicherung verstanden werden, also nicht nur ein Erst-, sondern auch ein Neufeststellungs- oder Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X, insbesondere, wenn die Gewährung einer Rente zuvor gänzlich von der Verwaltung abgelehnt wurde.

Die Gesetzgebungsmaterialien verhalten sich nicht dazu, ob § 3 Abs. 1 ZRBG nicht nur erstmalige Anträge auf Rente, sondern auch Neufeststellungs- oder Überprüfungsanträge erfasst. Hauptabsicht des Gesetzgebers bei Schaffung des ZRBG war die Aufhebung der bis dahin bestehenden Zahlungssperre und die Anerkennung rentenrechtlicher Zeiten (vgl. BT-Drucks. 14/8583, S. 5). Ob und wie Überprüfungsanträge gemäß § 44 SGB X, insbesondere nach Ablauf der in § 3 Abs. 1 ZRBG genannten Frist, zu behandeln sind, hat der Gesetzgeber nicht vorgegeben.

Auch der telos der Bestimmungen des ZRBG könnte dafür sprechen, Überprüfungsanträge unter § 3 Abs. 1 ZRBG zu fassen. Denn das ZRBG beabsichtigt, eine letzte Lücke im Wiedergutmachungsrecht zu schließen (v. Renesse, NJW 2008, 3037, 3040). Unter Berücksichtigung der Bestimmung des § 2 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) und des auch politisch weitreichenden Gehalts des ZRBG legt dies eine weite Auslegung der Bestimmung nahe. Ein eindeutiges Auslegungsergebnis liefert dies jedoch auch nicht.

In systematischer Hinsicht legt der Wortlaut des § 3 Abs. 1 ZRBG es zunächst nahe, darin eine Sonderregelung allein zu §§ 99, 115 Abs. 1, Abs. 2 SGB VI zu sehen. Hierfür spricht, dass die Frage der Antragstellung strikt zu trennen ist von der Frage, für welchen Zeitraum rückwirkend Leistungen zu gewähren sind. Wäre eine den § 44 SGB X und insbesondere dessen Abs. 4 modifizierende Regelung vom Gesetzgeber beabsichtigt gewesen, hätte es nahegelegen, eine entsprechende Bestimmung zu normieren, wie dies zum Beispiel in § 330 Abs. 1 SGB III, § 100 Abs. 4 SGB VI oder § 11 Abs. 4 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) geschehen ist. In allen diesen Normen wird konkret auf § 44 SGB X Bezug genommen, in § 3 Abs. 1 ZRBG hingegen nicht. Zudem wurde § 100 Abs. 4 SGB VI nach Inkrafttreten des ZRBG in das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung implementiert, ohne dass auch eine Änderung an § 3 Abs. 1 ZRBG dahingehend vorgenommen worden wäre, einen konkreten Bezug zu § 44 SGB X herzustellen. Dieser letzte Umstand kann jedoch auch auf einen Willen des Gesetzgebers schließen lassen, auf entsprechende Modifikationen des § 3 Abs. 1 ZRBG zu verzichten. Das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 03.05.2005 – B 13 RJ 34/04 R, BSGE 94, 294) hat zwar für Neufeststellungsanträge nach § 48 SGB X ausgeführt, dass es sich bei § 3 Abs. 1 ZRBG um eine gegenüber § 48 Abs. 4 SGB X in Verbindung mit § 44 Abs. 4 SGB X spezielle Regelung handele. Diese Rechtsprechung kann jedoch nicht auf die hier zu beurteilende Fallkonstellation übertragen werden. Denn das Bundessozialgericht hatte über einen Sachverhalt zu entscheiden, bei welchem der Neufeststellungsantrag innerhalb der von § 3 Abs. 1 ZRBG normierten Ausschlussfrist, nämlich am 11. Juli 2002, gestellt wurde. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist für die dort behandelte Fallkonstellation konsequent und zwingend, um angesichts der seinerzeitigen Neuheit des ZRBG für den gesamten von ihm erfassten Personenkreis einer Ungleichbehandlung zu begegnen. Die sich hier ergebende Fallkonstellation ist jedoch eine andere: Der Überprüfungsantrag wurde außerhalb der in § 3 Abs. 1 ZRBG genannten Frist, nämlich am 25. November 2008, gestellt.

Im hier zu beurteilenden Fall kann kein früherer Rentenbeginn als der 1. Januar 2004 angenommen werden. Denn Grenze einer Gesetzesauslegung muss – wollte man in § 3 Abs. 1 ZRBG eine lex specialis zu § 44 SGB X sehen – der vollständige Wortlaut der Bestimmung einschließlich der in ihr normierten Tatbestandsvoraussetzungen sein. § 3 Abs. 1 Satz 1 ZRBG fordert als tatbestandliche Voraussetzung ausdrücklich, dass der "Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung" nur dann als am 18. Juni 1997 gestellt gilt, wenn er tatsächlich bis zum 30. Juni 2003 gestellt wurde. Der Folgesatz der Bestimmung, wonach bei Hinterbliebenenrenten der Rentenantrag frühestens mit dem Todestage als gestellt gilt, wenn der Verfolgte in der Zeit vom 18. Juni 1997 bis zum 30. Juni 2003 verstorben ist, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Satz 1 der Vorschrift. Auch diesbezüglich gilt, dass der "Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung" – mag es sich auch um einen Neufeststellungs- oder Überprüfungsantrag handeln – bis zum 30. Juni 2003 gestellt worden sein muss, um eine rückwirkende Rentengewährung ab dem 1. Juli 1997 herbeizuführen. Für die Frage, für welchen Zeitraum rückwirkend Leistungen zu gewähren sind, ist auf den konkreten Antrag, der zur Rentengewährung führt, abzustellen – hier also den Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X. So ist es in § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X vorgesehen. Es ist nicht ersichtlich, dass durch § 3 Abs. 1 ZRBG von diesem Prinzip abgerückt werden sollte. Ein nach Ablauf der großzügigen (so BSG, Urteil vom 03.05.2005 – B 13 RJ 34/04 R, BSGE 94, 294) Antragsfrist des § 3 Abs. 1 ZRBG gestellter Überprüfungsantrag kann, insbesondere nach zunächst bestandskräftiger Ablehnung des ursprünglichen Rentenantrags, nicht so behandelt werden, als sei es der ursprüngliche Rentenantrag, mag dieser auch innerhalb der in § 3 Abs. 1 ZRBG genannten Frist gestellt worden sein. Denn mit einer solchen Argumentation würde der Überprüfungsantrag in den ursprünglichen Rentenantrag "verwandelt". Bei dem ursprünglichen Rentenantrag und dem Überprüfungsantrag handelt sich jedoch um zwei verschiedene Anträge mit unterschiedlicher Funktion, die nicht nach Belieben gegeneinander ausgetauscht werden können. Der ursprüngliche Rentenantrag hat die Funktion, überhaupt eine Rentengewährung zu ermöglichen, da unter Geltung des Antragsprinzips im System der gesetzlichen Rentenversicherung keine Rente ohne einen jemals gestellten Antrag bewilligt werden dürfte. Hierin erschöpft sich jedoch dessen Funktion nach zunächst bestandskräftiger Ablehnung bei anschließend erfolgender Überprüfung. Dagegen dient der Überprüfungsantrag gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X dazu, die Verwaltung zu einer erneuten Ingangsetzung eines Verfahrens zu veranlassen und so gegebenenfalls die Bestandskraft früherer Bescheide zu durchbrechen. Er determiniert den Zeitraum, für welchen rückwirkend Leistungen zu gewähren sind. Gegen einen "Austausch" der Anträge spricht auch, dass, folgte man der Auffassung der Klägerin, die in § 3 Abs. 1 ZRBG vorgesehene Stichtagsregelung praktisch ausgehebelt würde. Denn dann könnte jederzeit und unbegrenzt ein Überprüfungsantrag mit der Folge einer auf den 1. Juli 1997 rückwirkenden Rentengewährung gestellt werden. Dem Sinn der Stichtagsregelung liefe dies diametral zuwider, da sie gerade dazu dienen soll, hinsichtlich der zu erwartenden Anträge und der damit verbundenen Kosten Rechtssicherheit für die Verwaltung zu schaffen.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 ZRBG sind hier nicht vollständig erfüllt. Denn die Klägerin hat ihren Überprüfungsantrag erst am 25. November 2008 und damit nach dem in § 3 Abs. 1 ZRBG normierten Stichtag gestellt. Ein zu diesem Datum gestellter Überprüfungsantrag kann nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 3 Abs. 1 Satz 1 ZRBG wie auch dessen Sinn und Zweck nicht als ein bis zum 30. Juni 2003 gestellter Antrag verstanden werden.

Die Klägerin kann ihr Begehren auch nicht mit Erfolg auf den sogenannten sozialrechtlichen Herstellungsanspruch stützen. Dieses von der Rechtsprechung entwickelte Rechtsinstitut setzt voraus, dass ein Sozialleistungsträger rechtswidrig Pflichten aus einem Sozialleistungsverhältnis verletzt und dadurch einen Schaden verursacht hat, welchen er durch eine gesetzlich zulässige Amtshandlung ausgleichen kann (vgl. BSG, Urteil vom 18.08.1983 – 11 RA 60/82, BSGE 55, 261; BSG, Urteil vom 05.04.2000 – B 5 RJ 50/98 R, SozR 3-1200 § 14 Nr. 29; BSG, Urteil vom 06.05.2010 – B 13 R 44/09 R, juris; Mönch-Kalina, in: Schlegel/Voelzke [Hrsg.], SGB I, 2005, § 14 Rdnr. 38 ff.). Liegen neben den Voraussetzungen des § 44 SGB X die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs vor, so geht § 44 SGB X als die gesetzliche Sonderregelung dem richterrechtlich entwickelten Rechtsinstitut vor (BSG, Urteil vom 23.07.1986 – 1 RA 31/85, BSGE 60, 158, 164; Waschull, in: Diering/Timme/Waschull [Hrsg.], SGB X, 2. Aufl. 2007, § 44 Rdnr. 56; vgl. Steinwedel, in: Leitherer [Hrsg.], Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, § 44 SGB X Rdnr. 16 [2009]).

Es kann hier dahinstehen, ob der Beklagten eine Pflichtverletzung – etwa wegen unzureichender Sachverhaltsaufklärung (vgl. § 20 SGB X) – vorgeworfen werden könnte, da die sich aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ergebenden Rechtsfolgen zu keinem für die Klägerin günstigeren Ergebnis führen würden. Denn aufgrund des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs können keine Leistungen gewährt werden, die länger als vier Jahre zurückwirken. Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen wird die Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X analog auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch angewendet (BSG, Urteil vom 14.02.2001 – B 9 V 9/00 R, BSGE 87, 280; BSG, Urteil vom 27.03.2007 – B 13 R 58/06 R, BSGE 98, 162; vgl. Ladage, Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, 1990, S. 118). Dies ist auch hier zu beachten. Selbst wenn im hier zu beurteilenden Fall dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch neben § 44 SGB X ein eigenständiger Anwendungsbereich zugestanden würde, könnte aufgrund der analogen Anwendung der Bestimmung des § 44 Abs. 4 SGB X auch hier kein früherer Rentenbeginn bzw. eine länger zurückwirkende Rentengewährung aus diesem Anspruch abgeleitet werden.

Schließlich kann die Klägerin einen früheren Rentenbeginn als den 1. Januar 2004 nicht aufgrund der Regelungen zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – gleich ob nach § 27 SGB X oder § 67 SGG – beanspruchen. Zwar ist die Klagefrist, welche die Klägerin nach Erlass des Widerspruchs vom 4. August 2006 versäumt hat, grundsätzlich eine Frist, die einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zugänglich wäre. Eine solche ist gemäß § 27 Abs. 3 SGB X bzw. § 67 Abs. 3 SGG allerdings ausgeschlossen, wenn seit Ablauf der versäumten Frist mehr als ein Jahr vergangen ist und nicht ein Fall höherer Gewalt vorliegt. Seit dem Ablauf der versäumten Klagfrist ist bis zum Überprüfungsantrag am 25. November 2008 deutlich mehr als ein Jahr vergangen. Umstände, die auf das Vorliegen eines Falles höherer Gewalt schließen ließen, sind hier weder vorgetragen worden noch sonst erkennbar.

Ein Verstoß gegen die Verfassung ist hier nicht ersichtlich. Insbesondere besteht kein Anlass, die Klägerin aus Gründen der Gleichbehandlung so zu stellen, als hätte sie ihren Überprüfungsantrag bis zum 30. Juni 2003 gestellt. Art. 3 Grundgesetz (GG) gebietet die Gleichbehandlung im Wesentlichen gleicher Sachverhalte vor dem Gesetz. Nach der sogenannten "Neuen Formel" ist Art. 3 Abs. 1 GG dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten ungleich behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (st. Rspr., vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 07.10.1980 – 1 BvR 240/79 u. a., BVerfGE 55, 72, 88; BVerfG, Urteil vom 14.03.2000 – 1 BvR 284/96, BVerfGE 102, 41, 54; Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf [Hrsg.] Grundgesetz, 11. Aufl. 2008, Art. 3 Rdnr. 17). Eine Ungleichbehandlung, für die kein erhebliches und sachgerechtes Unterscheidungskriterium vorläge, ist hier jedoch nicht gegeben. Zwar ist die Personengruppe der Antragsteller, die eine Rente unter Berücksichtigung des ZRBG begehrt, im Wesentlichen insoweit vergleichbar, dass sie ein im Kern vergleichbares Verfolgungsschicksal unter dem Regime des nationalsozialistischen Unrechtsstaates erleben musste. Es ließe sich vertreten, dass eine pauschalierende Gleichbehandlung des betroffenen Personenkreises im ZRBG von Beginn an angelegt und beabsichtigt war. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch zwischen denjenigen, die ihr Recht nach fristgerecht gestelltem Antrag und anschließend erfolgter Ablehnung der Rente durch die Verwaltung weiter verfolgt haben und solchen, die dies nicht getan haben. Eine Gleichbehandlung aller Betroffenen dahingehend, ihnen allen die Rente rückwirkend ab dem 1. Juli 1997 zu gewähren, kollidiert mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG). Das Prinzip der Rechtssicherheit ist ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips (BVerfG, Urteil vom 01.07.1953 – 1 BvL 23/51, BVerfGE 2, 381, 403; st. Rspr.). Hieraus folgt die grundsätzliche Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen. Vergleichbares gilt für die Bestandskraft von Verwaltungsakten (BVerfG, Beschluss vom 20.04.1982 – 2 BvL 26/81, BVerfGE 60, 253, 270). Der Gesichtspunkt der entschiedenen Sache rechtfertigt es, rechtskräftige Entscheidungen unberührt zu lassen bzw. eine Durchbrechung der Bestandskraft nur im Rahmen des geltenden Rechts – wie zum Beispiel gemäß § 44 SGB X – zuzulassen. Eine Verletzung des Gleichheitssatzes ist hierin nicht zu sehen (Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf [Hrsg.], Grundgesetz, 11. Aufl. 2008, Art. 20 Rdnr. 89). Auch Stichtagsregelungen dienen der Rechtssicherheit. Eine Ungleichbehandlung ist umso weniger erkennbar, als es in das Belieben des Einzelnen gestellt ist, durch eigenes Verhalten die Ungleichbehandlung zu steuern (Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf [Hrsg.], Grundgesetz, 11. Aufl. 2008, Art. 3 Rdnr. 18).

Zwar ist zutreffend, dass die Klägerin ihren ersten Hinterbliebenenrentenantrag innerhalb der Frist des § 3 Abs. 1 ZRBG, das heißt bis zum 30. Juni 2003, gestellt hat. Sie hat ihren Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2006 indes nicht weiterverfolgt. Der Widerspruchsbescheid ist zunächst bestandskräftig geworden. Nach der ablehnenden Entscheidung der Beklagten durch Bescheid vom 22. Oktober 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2006 hätte es der Klägerin offen gestanden, den Rechtsweg zu den Sozialgerichten zu bestreiten. Diesen Weg hat sie jedoch nicht eingeschlagen. Insofern kann sie auch nicht von einer für sie günstigeren Entscheidung profitieren, die diejenigen erlangen konnten und können, die das sie betreffende (Klag-)Verfahren offengehalten haben bzw. gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vor Gericht gezogen sind. Der Zeitraum, für welchen Sozialleistungen rückwirkend gewährt werden können, wird insoweit ohne eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes unter Beachtung des Rechtsstaatsprinzips durch § 44 Abs. 4 SGB X abschließend determiniert.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Die Sprungrevision war hier gemäß § 161 SGG zuzulassen. Das Rechtsmittel der Sprungrevision soll den Beteiligten – auch im öffentlichen Interesse an der Klärung von Rechtsfragen – zu einer schnellen Entscheidung unter Abkürzung des Instanzenzuges verhelfen und damit gleichzeitig Kosten sparen helfen (Berchtold, in: Berchtold/Richter [Hrsg.], Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 7 Rdnr. 159; Dahm, SozVers 1998, 261). Mit Blick auf das vorgerückte Alter des betroffenen Personenkreises ist es angezeigt, den Instanzenzug zwecks Zeitersparnis abzukürzen.

Die Sprungrevision ist gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 SGG aber nur zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG vorliegen. Dies ist hier gegeben, da die Sache grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG hat. Dieser Zulassungsgrund dient dem allgemeinen Interesse an der Wahrung der Rechtseinheit und der Rechtsfortbildung (Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer [Hrsg.], SGG, 9. Aufl. 2008, § 160 Rdnr. 6). Die grundsätzliche Bedeutung muss sich wesentlich auf eine sich stellende Rechtsfrage und deren Klärung beziehen. Es muss sich um eine Rechtsfrage handeln, deren Klärung über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und deren Klärung auch durch das Revisionsgericht zu erwarten ist (Klärungsfähigkeit).

Die sich stellende Rechtsfrage ist hier diejenige, ob dem vom ZRBG erfassten Personenkreis, der nach zunächst bestandskräftiger Ablehnung eines Rentenantrages einen erfolgreichen Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X nach dem 30. Juni 2003 gestellt hat, gemäß § 3 Abs. 1 ZRBG – unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Wertungen des Art. 3 GG – Rente ab dem 1. Juli 1997 oder gemäß § 44 Abs. 4 SGB X lediglich vier Jahre rückwirkend zu gewähren ist.

Die Beantwortung dieser Rechtsfrage ist entscheidungserheblich. Denn wäre § 3 Abs. 1 ZRBG – gegebenenfalls unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Wertungen – dahingehend auszulegen, dass diese Vorschrift auch Überprüfungsanträge erfasste, die außerhalb des dort normierten Stichtages gestellt worden sind, so wäre der Klägerin bereits zu einem früheren Zeitpunkt ihre Hinterbliebenenrente zu gewähren.

Die Rechtsfrage ist klärungsfähig. Eine Rechtsfrage ist dann klärungsfähig, wenn sie nach den Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz beantwortbar ist (Frehse, in: Jansen [Hrsg.], SGG, 3. Aufl. 2009, § 160 Rdnr. 11; vgl. BSG, Beschluss vom 09.12.1993 – 2 BU 87/93, SozR 3-2200 § 550 Nr. 7). Zudem muss die Rechtsfrage revisibles Recht betreffen. Dabei kann es sich um Verfahrensrecht wie auch materielles Recht – gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Verfassungsrechts – handeln. Im Grundsatz ist ebenso erforderlich, dass es sich um geltendes Recht handelt. Auch diese Voraussetzung ist gegeben, denn bei den streitentscheidenden Normen des SGB VI, SGB X und des ZRBG handelt es sich um geltendes Bundesrecht.

Die Rechtsfrage ist auch klärungsbedürftig, denn die Beantwortung der sich stellenden Frage ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz und ist – soweit ersichtlich – höchstrichterlich noch nicht entschieden.

Die Rechtsfrage hat schließlich Bedeutung über den Einzelfall hinaus. Diese Voraussetzung ist gegeben, wenn ein Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt ist (Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer [Hrsg.], SGG, 9. Aufl. 2008, § 160 Rdnr. 7a). Eine über den Einzelfall hinaus reichende Bedeutung ist zum Beispiel dann zu bejahen, wenn die Klärung einer Rechtsfrage zugleich mit Rücksicht auf eine unbestimmte Anzahl ähnlich liegender Fälle erwünscht ist. Eine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung ist auch dann anzunehmen, wenn von einer aufgrund der ausstehenden Klärung gegebenen Unsicherheit eine nicht unbeträchtliche Personenzahl betroffen ist, mithin eine "Breitenwirkung" vorliegt (BSG, Beschluss vom 04.06.1975 – 11 BA 4/75, BSGE 40, 40, 41; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer [Hrsg.], SGG, 9. Aufl. 2008, § 160 Rdnr. 7b; Lüdtke, in: Lüdtke [Hsrg.], SGG, 3. Aufl. 2009, § 160 Rdnr. 10). Grundsätzliche Bedeutung kann auch dann gegeben sein, wenn andere Auswirkungen, insbesondere wirtschaftlicher Art, die Interessen der Allgemeinheit in besonderem Maße berühren. Gleiches gilt für die soziale Tragweite einer Entscheidung (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichten Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap. IX, Rdnr. 60; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer [Hrsg.], SGG, 9. Aufl. 2008, § 160 Rdnr. 7c). Derzeit ist bereits eine erhebliche Anzahl gerichtlicher Verfahren anhängig, in denen die sich auch in diesem Fall entscheidungserhebliche Rechtsfrage stellt. Darüber hinaus sind unter Umständen weitere Klagverfahren in Zukunft zu erwarten, denn bei der Beklagten ist eine Vielzahl von Widerspruchsverfahren betreffend diese Frage anhängig. Es besteht auch ein allgemeines wirtschaftliches Interesse an einer einheitlichen Entscheidung und Rechtsfortbildung. Denn nach Schätzungen (vgl. Schult, in: DER SPIEGEL, Heft 10/2010, S. 81) belaufen sich die Kosten bei einer nur für vier Jahre rückwirkenden Gewährung der Alters- und Hinterbliebenenrenten an den vom ZRBG erfassten Personenkreis auf etwa 0,5 Mrd. EUR. Wären die Renten auf Überprüfungsanträge bereits ab dem 1. Juli 1997 zu gewähren, so entstünden dem Bund (vgl. § 213 Abs. 3 SGB VI) Kosten in Höhe von bis zu 2,0 Mrd. EUR.

Dr. Leopold Richter
Rechtskraft
Aus
Saved