Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 12 SB 755/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG streitig.
Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 24.07.2012 bei dem am 00.00.0000 geborenen Kläger aufgrund einer Zuckerkrankheit, einer arteriellen Verschlusskrankheit bei Sensibilitätsstörungen der Beine und ataktischen Erscheinungen bei Kaudasymptomatik, einem Wirbelsäulenverschleißleiden, Bandscheibenschäden, einem Schmerzsyndrom, Hörschäden, Ohrgeräuschen, Bluthochdruck, Harnentleerungsstörungen bei Prostatavergrößerung, Refluxkrankheit der Speiseröhre, Karpaltunnelsyndrom beidseits und Funktionsstörungen des Darmes einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens G fest.
Am 28.02.2013 stellte der Kläger einen Änderungsantrag und begehrte die Feststellung des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG.
Der medizinische Dienst des Beklagten wertete daraufhin einen radiologischen Arztbericht, Arzt- und Befundberichte des Neurologen und Psychiaters Dr. B, einen Arztbericht der LVR-Klinik für Orthopädie in W, einen Befundbericht der Orthopädin Dr. G sowie einen Befundbericht des Internisten Dr. L aus. Hierbei kam er zu der Einschätzung, die Zuckerkrankheit bedinge einen GdB von 50, das Wirbelsäulenverschleißleiden mit Bandscheibenschäden und Schmerzsyndrom einen GdB von ebenfalls 50, die arterielle Verschlusskrankheit mit Sensibilitätsstörungen der Beine und ataktischen Erscheinungen bei Kaudasymptomatik einen GdB von 40, der Hörschaden mit Ohrgeräuschen einen GdB von 20 sowie die übrigen beim Kläger vorliegenden Behinderungen einen GdB von höchstens 10. Insgesamt sei der GdB weiter mit 100 zu bewerten. Das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG könne nicht festgestellt werden, da der Kläger nicht mit einem Doppeloberschenkelamputierten gleichzustellen sei. Der Kläger sei am Rollator weiter hinreichend gehfähig.
Mit Bescheid vom 15.05.2013 lehnte der Beklagte die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG ab.
Hiergegen legte der Kläger am 22.05.2013 Widerspruch ein. Zur Begründung gab er an, er könne keine 10 m zu Fuß gehen und sei auf seinen PKW und einen Rollator angewiesen. Der angefochtene Bescheid würdige die bei ihm vorliegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen nicht zutreffend.
Nach erneuter Stellungnahme des ärztlichen Dienstes wies die Bezirksregierung N den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 03.07.2013 als unbegründet zurück.
Am 18.07.2013 hat der Kläger Klage erhoben.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des Neurologen und Psychiaters Dr. B, der Orthopädin Dr. G und des Internisten Dr. L sowie durch Einholung eines fachorthopädischen Gutachtens des Dr. E, welches dieser – nach Untersuchung des Klägers am 08.01.2014 – gegenüber dem Gericht am 16.01.2014 erstattet hat.
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 05.03.2014 die Auffassung vertreten, die Feststellungen im Gutachten des Dr. E seien nicht verwertbar, da dieser sich entsprechend der Beweisanordnung des Gerichts an die Vorgaben der Versorgungsmedizinische Grundsätze gehalten habe. Diese seien aber hinsichtlich des Merkmals aG rechtswidrig, da nicht von einer entsprechenden Verordnungsermächtigung erfasst. Es sei daher ein weiteres Sachverständigengutachten unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Klägers einzuholen, wozu zunächst durch das Gericht der Begriff der außergewöhnlichen Gehbehinderung so zu definieren sei, dass dieser durch die tatsächlichen Feststellungen des Sachverständigen ausgefüllt werden könne.
Der Kammervorsitzende hat mit Schreiben vom 11.03.2014 auf die ständige Rechtsprechung der 12. Kammer des Sozialgerichts B - und hierbei exemplarisch auf das Urteil vom 18.06.2013 – S 12 SB 1015/12, abrufbar unter juris – verwiesen und Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 15.05.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.07.2013 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm ab dem 28.02.2013 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG festzustellen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat er sein Vorbringen aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft sowie auf das Ergebnis des Gutachtens des Dr. E verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Gerichtsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Gemäß § 69 Abs. 4 SGB IX stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung; vgl. hierzu und zu den sich aus dem Merkzeichen ergebenden rechtlichen Folgen, Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15). Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO (neu bekannt gemacht am 26. Januar 2001, BAnz 2001, Nr. 21, S 1419, in der Fassung vom 17.07.2009). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind. Erläuternde Feststellungen zur Zuerkennung des Merkzeichens G enthält Teil D Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (zur Qualifikation der Versorgungsmedizinischen Grundsätze als Erläuterungen vgl. LSG NRW Urteil vom 13.07.2010 - 6 SB 133/09 = juris Rn. 27 - zum Merkzeichen aG). Die Frage, ob die Versorgungsmedizinischen Grundsätze darüber hinaus als Rechtsverordnung verbindliche Festlegungen enthalten ist umstritten. So wird teilweise die Auffassung vertreten, eine Ermächtigungsgrundlage zur Schaffung einer Rechtsverordnung betreffend die im SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche sei nicht gegeben. Insbesondere enthalte der durch die Versorgungsmedizin in Bezug genommene Regelung des § 30 Abs. 17 BVG a.F. (nunmehr § 30 Abs. 16 BVG) keine entsprechende Ermächtigung (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.10.2012 - L 8 SB 1914/10 = juris Rn. 26). Die Regelungen der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zum Nachteilsausgleich aG seien damit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig. Rechtsgrundlage seien daher allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu in ständiger Rechtsprechung anzuwendenden Grundsätze.
Die Kammer schließt sich dieser Auffassung an. Sie ist gleichwohl der Ansicht, dass die Feststellungen des Teil D Ziffer 3 mit in die Bewertung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG mit einbezogen werden können, wenngleich freilich nicht als Rechtsgrundlage im Sinne einer Rechtsverordnung (vgl. dazu etwa Urteil vom 11.03.2014 – S 12 SB 240/13; Urteil vom 18.06.2013 – S 12 SB 1015/12 = juris).
Die Feststellungen in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen werden auf Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze evidenzbasierter Medizin erstellt und fortentwickelt, vgl. § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung. Sie enthalten - im Hinblick auf das Merkzeichen aG - im Wesentlichen die gleichen Regelungen, wie bereits Ziffer 31 der vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX), zuletzt aus dem Jahr 2008, (AHP 2008). Die AHP 2008 beschrieben in Ziffer 31 Abs. 3 bis 4 Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten. Sie gaben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter außergewöhnlich gehbehindert ist. Die Festlegungen der Anhaltspunkte sind von der Rechtsprechung - als antizipierte Sachverständigengutachten - bei der Frage der Beurteilung der Zuerkennung von Merkzeichen zugrundegelegt worden. Eine entsprechende Funktion erfüllen auch die nunmehr in Teil D Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze dargelegten Regelungen (für eine Anwendung der in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen dargelegten Anforderungen auch Bayerisches LSG Urteil vom 26.09.2012 - L 15 SB 46/09 = juris Rn. 61; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 19.12.2011 - L 13 SB 12/08 = juris Rn. 29; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 16.11.2011 - L 11 SB 67/09 = juris Rn. 34; wohl auch LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 09.08.2012 - L 10 SB 10/12 = juris Rn. 15; LSG NRW Urteil vom 13.07.2010 - L 6 SB 133/09 = juris Rn. 29 - zu aG; a.A. offensichtlich LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 12.10.2011 - L 6 SB 3032/11 = juris Rn. 39 ff.; Vogl in: jurisPK-SGB IX, § 146 SGB IX Rn. 5).
Da der Kläger jedenfalls nicht in eine der oben genannten Beispielsgruppen fällt, war zu klären, ob er dem ausdrücklich beschriebenen Personenkreis gleichzustellen ist. Eine Gleichstellung muss dann erfolgen, wenn ein Betroffener in seiner Gehfähigkeit in ungewöhnlichem Masse eingeschränkt ist und er sich nur unter eben so großen Anstrengungen wie die erstgenannte Gruppe von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.; BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 1/97 R = juris Rn.18) Die damit erforderliche Bildung eines Vergleichsmaßstabes birgt freilich Schwierigkeiten, weil die verschiedenen, im Gesetz ausdrücklich aufgezählten Gruppen in ihrer Wegfähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppe - bei gutem gesundheitlichem Allgemeinzustand, hoher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung - ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen können. Auf die individuelle prothetische Versorgung der aufgeführten behinderten Gruppen kann es grundsätzlich aber nicht ankommen (vgl. dazu Bundessozialgericht, a.a.O.) Im Ergebnis ist hinsichtlich der Gleichstellung bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Insoweit stellen die maßgeblichen straßenrechtlichen Vorschriften darauf ab, ob ein schwerbehinderter Mensch nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung - und zwar praktisch von den ersten Schritten - außerhalb seines Kraftfahrzeuges sich bewegen kann. Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.; BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 1/97 R = juris Rn.18). Bei der erforderlichen tatrichterlichen Feststellung, ob und ggf. in welchem Umfang körperlichen Anstrengungen vorhanden sind, kann dabei nicht allein auf eine gegriffene Größe wie die schmerzfrei zurückgelegte Wegstrecke abgestellt werden. Zur Klärung dieser Frage sind Indizien wie Erschöpfungszustände, Luftnot, Schmerzen oder ähnliches heranzuziehen (vgl. BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.). So lässt sich ein vergleichbares Erschöpfungsbild u.a. aus der Dauer der erforderlichen Pause sowie den Umständen herleiten, unter denen der Schwerbehinderte nach der Pause seinen Weg fortsetzt. Nur kurzes Pausieren - auch auf Großparkplätzen - mit anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Probleme ist im Hinblick auf den durch die Vergleichsgruppen gebildeten Maßstab zumutbar. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass das ein Abstellen auf ein starres Kriterium keine sachgerechte Beurteilung ermöglicht, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert (BSG, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung der genannten Kriterien liegen beim Kläger die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG nicht vor.
Dies steht zur Überzeugung der Kammer auf Grundlage der vorliegenden Arzt- und Befundberichte aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren sowie dem Gutachten des Dr. Dulisch fest. Das Gutachten beruht auf umfangreichen Untersuchungen, die von einem erfahrenen medizinischen Gutachter unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit und Vollständigkeit der in dem Gutachten erhobenen medizinischen Befunde und gestellten Diagnosen zu zweifeln. Der Kläger leidet zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung unter:
1. Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule 2. Funktionseinschränkungen beider Schultergelenke 3. Zuckerkrankheit 4. Arterielle Verschlusskrankheit 5. Hörschaden 6. Bluthochdruck 7. Harnentleerungsstörungen 8. Refluxerkrankung der Speiseröhre 9. Karpaltunnelsyndrom beidseits 10. Funktionsstörung des Darmes
Unter Berücksichtigung des klägerischen Vortrags, der vorliegenden Befund- und Arztberichte sowie des Gutachtens einschließlich der Inaugenscheinnahme der durch den Gutachter angefertigten Videoaufnahme des Gangbilds des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung durch die Kammer und die Beteiligten sowie des persönlichen Eindrucks der Kammer, kommt vorliegend die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG nicht in Betracht.
Der Kläger ist in seiner Gehfähigkeit nicht vom ersten Schritt an außergewöhnlich eingeschränkt. Dies zeigt die gefertigte Videoaufnahme eindeutig. Diese hält fest, dass der Kläger sich vom Stuhl – abgestützt auf einen Tisch und seinen Gehstock – erhebt und anschließend kurz etwas einknickt. Im Anschluss daran geht er, leicht hinkend, aber recht zügig. Das Gangbild ist leicht kleinschrittig und etwas unsicher wirkend. Eine besondere Erschöpfung nach dem Gangtest ist auf dem Video nicht zu erkennen und wird vom Gutachter im Übrigen auch nicht beschrieben. Der Gutachter stellte fest, dass der Kläger längere Strecken (wie etwa 100 m) mit dem Rollator zurücklegen könne. So sei er auch zur Praxis mit dem Rollator gekommen. Auch im Termin zur mündlichen Verhandlung war der Kläger mit dem Rollator erschienen. Hier zeigte sich ebenfalls ein etwas schwerfälliges Gangbild, welches sich aber durchaus recht zügig darstellte. Eine Gleichstellung mit der oben genannten Vergleichsgruppe war keinesfalls gegeben. Diese Einschätzung wird auch durch die beim Kläger festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen gestützt.
Für das Funktionssystem der unteren Extremitäten sind nur unwesentliche Einschränkungen in der Bewegungsfähigkeit objektiviert. Es finden sich hier Auswirkungen einer arteriellen Verschlusskrankheit sowie der diabetischen Polyneuropathie, die in entsprechender Anwendung von Teil B Ziffer 9.2.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze im Hinblick auf die Einschränkungen der Gehfähigkeit mit einem GdB von 40 zu bewerten sind. Ebenfalls negativ auf die Gehfähigkeit wirken sich die Einschränkungen im Bereich der Lendenwirbelsäule, vornehmlich der Lendenwirbelsäule, aus, die sich schon als beginnend schwerwiegend darstellen und gemäß Teil B Ziffer 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze unter Berücksichtigung auch der leichtgradigen Einschränkungen im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule einen GdB von 30 rechtfertigen. Durch das Zusammenspiel dieser Beeinträchtigungen erscheint zwar die Zuerkennung des Merkzeichens G gerechtfertigt, nicht aber des Merkzeichens aG. Die sonstigen Beeinträchtigungen wirken sich nicht besonders negativ auf die Gehfähigkeit aus. Aufgrund der gutachterlichen Feststellungen sowie des persönlichen Eindrucks vom Kläger und seiner mit Rollator gezeigten Gehfähigkeit im Gericht steht zur Überzeugung der Kammer nach alledem fest, dass der Kläger nicht mit der oben genannten Vergleichsgruppe vergleichbar ist und daher die Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht in Betracht kommt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG streitig.
Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 24.07.2012 bei dem am 00.00.0000 geborenen Kläger aufgrund einer Zuckerkrankheit, einer arteriellen Verschlusskrankheit bei Sensibilitätsstörungen der Beine und ataktischen Erscheinungen bei Kaudasymptomatik, einem Wirbelsäulenverschleißleiden, Bandscheibenschäden, einem Schmerzsyndrom, Hörschäden, Ohrgeräuschen, Bluthochdruck, Harnentleerungsstörungen bei Prostatavergrößerung, Refluxkrankheit der Speiseröhre, Karpaltunnelsyndrom beidseits und Funktionsstörungen des Darmes einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens G fest.
Am 28.02.2013 stellte der Kläger einen Änderungsantrag und begehrte die Feststellung des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG.
Der medizinische Dienst des Beklagten wertete daraufhin einen radiologischen Arztbericht, Arzt- und Befundberichte des Neurologen und Psychiaters Dr. B, einen Arztbericht der LVR-Klinik für Orthopädie in W, einen Befundbericht der Orthopädin Dr. G sowie einen Befundbericht des Internisten Dr. L aus. Hierbei kam er zu der Einschätzung, die Zuckerkrankheit bedinge einen GdB von 50, das Wirbelsäulenverschleißleiden mit Bandscheibenschäden und Schmerzsyndrom einen GdB von ebenfalls 50, die arterielle Verschlusskrankheit mit Sensibilitätsstörungen der Beine und ataktischen Erscheinungen bei Kaudasymptomatik einen GdB von 40, der Hörschaden mit Ohrgeräuschen einen GdB von 20 sowie die übrigen beim Kläger vorliegenden Behinderungen einen GdB von höchstens 10. Insgesamt sei der GdB weiter mit 100 zu bewerten. Das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG könne nicht festgestellt werden, da der Kläger nicht mit einem Doppeloberschenkelamputierten gleichzustellen sei. Der Kläger sei am Rollator weiter hinreichend gehfähig.
Mit Bescheid vom 15.05.2013 lehnte der Beklagte die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG ab.
Hiergegen legte der Kläger am 22.05.2013 Widerspruch ein. Zur Begründung gab er an, er könne keine 10 m zu Fuß gehen und sei auf seinen PKW und einen Rollator angewiesen. Der angefochtene Bescheid würdige die bei ihm vorliegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen nicht zutreffend.
Nach erneuter Stellungnahme des ärztlichen Dienstes wies die Bezirksregierung N den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 03.07.2013 als unbegründet zurück.
Am 18.07.2013 hat der Kläger Klage erhoben.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des Neurologen und Psychiaters Dr. B, der Orthopädin Dr. G und des Internisten Dr. L sowie durch Einholung eines fachorthopädischen Gutachtens des Dr. E, welches dieser – nach Untersuchung des Klägers am 08.01.2014 – gegenüber dem Gericht am 16.01.2014 erstattet hat.
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 05.03.2014 die Auffassung vertreten, die Feststellungen im Gutachten des Dr. E seien nicht verwertbar, da dieser sich entsprechend der Beweisanordnung des Gerichts an die Vorgaben der Versorgungsmedizinische Grundsätze gehalten habe. Diese seien aber hinsichtlich des Merkmals aG rechtswidrig, da nicht von einer entsprechenden Verordnungsermächtigung erfasst. Es sei daher ein weiteres Sachverständigengutachten unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Klägers einzuholen, wozu zunächst durch das Gericht der Begriff der außergewöhnlichen Gehbehinderung so zu definieren sei, dass dieser durch die tatsächlichen Feststellungen des Sachverständigen ausgefüllt werden könne.
Der Kammervorsitzende hat mit Schreiben vom 11.03.2014 auf die ständige Rechtsprechung der 12. Kammer des Sozialgerichts B - und hierbei exemplarisch auf das Urteil vom 18.06.2013 – S 12 SB 1015/12, abrufbar unter juris – verwiesen und Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 15.05.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.07.2013 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm ab dem 28.02.2013 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG festzustellen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat er sein Vorbringen aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft sowie auf das Ergebnis des Gutachtens des Dr. E verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Gerichtsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Gemäß § 69 Abs. 4 SGB IX stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung; vgl. hierzu und zu den sich aus dem Merkzeichen ergebenden rechtlichen Folgen, Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15). Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO (neu bekannt gemacht am 26. Januar 2001, BAnz 2001, Nr. 21, S 1419, in der Fassung vom 17.07.2009). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind. Erläuternde Feststellungen zur Zuerkennung des Merkzeichens G enthält Teil D Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (zur Qualifikation der Versorgungsmedizinischen Grundsätze als Erläuterungen vgl. LSG NRW Urteil vom 13.07.2010 - 6 SB 133/09 = juris Rn. 27 - zum Merkzeichen aG). Die Frage, ob die Versorgungsmedizinischen Grundsätze darüber hinaus als Rechtsverordnung verbindliche Festlegungen enthalten ist umstritten. So wird teilweise die Auffassung vertreten, eine Ermächtigungsgrundlage zur Schaffung einer Rechtsverordnung betreffend die im SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche sei nicht gegeben. Insbesondere enthalte der durch die Versorgungsmedizin in Bezug genommene Regelung des § 30 Abs. 17 BVG a.F. (nunmehr § 30 Abs. 16 BVG) keine entsprechende Ermächtigung (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.10.2012 - L 8 SB 1914/10 = juris Rn. 26). Die Regelungen der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zum Nachteilsausgleich aG seien damit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig. Rechtsgrundlage seien daher allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu in ständiger Rechtsprechung anzuwendenden Grundsätze.
Die Kammer schließt sich dieser Auffassung an. Sie ist gleichwohl der Ansicht, dass die Feststellungen des Teil D Ziffer 3 mit in die Bewertung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG mit einbezogen werden können, wenngleich freilich nicht als Rechtsgrundlage im Sinne einer Rechtsverordnung (vgl. dazu etwa Urteil vom 11.03.2014 – S 12 SB 240/13; Urteil vom 18.06.2013 – S 12 SB 1015/12 = juris).
Die Feststellungen in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen werden auf Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze evidenzbasierter Medizin erstellt und fortentwickelt, vgl. § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung. Sie enthalten - im Hinblick auf das Merkzeichen aG - im Wesentlichen die gleichen Regelungen, wie bereits Ziffer 31 der vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX), zuletzt aus dem Jahr 2008, (AHP 2008). Die AHP 2008 beschrieben in Ziffer 31 Abs. 3 bis 4 Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten. Sie gaben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter außergewöhnlich gehbehindert ist. Die Festlegungen der Anhaltspunkte sind von der Rechtsprechung - als antizipierte Sachverständigengutachten - bei der Frage der Beurteilung der Zuerkennung von Merkzeichen zugrundegelegt worden. Eine entsprechende Funktion erfüllen auch die nunmehr in Teil D Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze dargelegten Regelungen (für eine Anwendung der in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen dargelegten Anforderungen auch Bayerisches LSG Urteil vom 26.09.2012 - L 15 SB 46/09 = juris Rn. 61; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 19.12.2011 - L 13 SB 12/08 = juris Rn. 29; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 16.11.2011 - L 11 SB 67/09 = juris Rn. 34; wohl auch LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 09.08.2012 - L 10 SB 10/12 = juris Rn. 15; LSG NRW Urteil vom 13.07.2010 - L 6 SB 133/09 = juris Rn. 29 - zu aG; a.A. offensichtlich LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 12.10.2011 - L 6 SB 3032/11 = juris Rn. 39 ff.; Vogl in: jurisPK-SGB IX, § 146 SGB IX Rn. 5).
Da der Kläger jedenfalls nicht in eine der oben genannten Beispielsgruppen fällt, war zu klären, ob er dem ausdrücklich beschriebenen Personenkreis gleichzustellen ist. Eine Gleichstellung muss dann erfolgen, wenn ein Betroffener in seiner Gehfähigkeit in ungewöhnlichem Masse eingeschränkt ist und er sich nur unter eben so großen Anstrengungen wie die erstgenannte Gruppe von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.; BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 1/97 R = juris Rn.18) Die damit erforderliche Bildung eines Vergleichsmaßstabes birgt freilich Schwierigkeiten, weil die verschiedenen, im Gesetz ausdrücklich aufgezählten Gruppen in ihrer Wegfähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppe - bei gutem gesundheitlichem Allgemeinzustand, hoher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung - ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen können. Auf die individuelle prothetische Versorgung der aufgeführten behinderten Gruppen kann es grundsätzlich aber nicht ankommen (vgl. dazu Bundessozialgericht, a.a.O.) Im Ergebnis ist hinsichtlich der Gleichstellung bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Insoweit stellen die maßgeblichen straßenrechtlichen Vorschriften darauf ab, ob ein schwerbehinderter Mensch nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung - und zwar praktisch von den ersten Schritten - außerhalb seines Kraftfahrzeuges sich bewegen kann. Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.; BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 1/97 R = juris Rn.18). Bei der erforderlichen tatrichterlichen Feststellung, ob und ggf. in welchem Umfang körperlichen Anstrengungen vorhanden sind, kann dabei nicht allein auf eine gegriffene Größe wie die schmerzfrei zurückgelegte Wegstrecke abgestellt werden. Zur Klärung dieser Frage sind Indizien wie Erschöpfungszustände, Luftnot, Schmerzen oder ähnliches heranzuziehen (vgl. BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.). So lässt sich ein vergleichbares Erschöpfungsbild u.a. aus der Dauer der erforderlichen Pause sowie den Umständen herleiten, unter denen der Schwerbehinderte nach der Pause seinen Weg fortsetzt. Nur kurzes Pausieren - auch auf Großparkplätzen - mit anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Probleme ist im Hinblick auf den durch die Vergleichsgruppen gebildeten Maßstab zumutbar. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass das ein Abstellen auf ein starres Kriterium keine sachgerechte Beurteilung ermöglicht, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert (BSG, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung der genannten Kriterien liegen beim Kläger die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG nicht vor.
Dies steht zur Überzeugung der Kammer auf Grundlage der vorliegenden Arzt- und Befundberichte aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren sowie dem Gutachten des Dr. Dulisch fest. Das Gutachten beruht auf umfangreichen Untersuchungen, die von einem erfahrenen medizinischen Gutachter unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit und Vollständigkeit der in dem Gutachten erhobenen medizinischen Befunde und gestellten Diagnosen zu zweifeln. Der Kläger leidet zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung unter:
1. Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule 2. Funktionseinschränkungen beider Schultergelenke 3. Zuckerkrankheit 4. Arterielle Verschlusskrankheit 5. Hörschaden 6. Bluthochdruck 7. Harnentleerungsstörungen 8. Refluxerkrankung der Speiseröhre 9. Karpaltunnelsyndrom beidseits 10. Funktionsstörung des Darmes
Unter Berücksichtigung des klägerischen Vortrags, der vorliegenden Befund- und Arztberichte sowie des Gutachtens einschließlich der Inaugenscheinnahme der durch den Gutachter angefertigten Videoaufnahme des Gangbilds des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung durch die Kammer und die Beteiligten sowie des persönlichen Eindrucks der Kammer, kommt vorliegend die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG nicht in Betracht.
Der Kläger ist in seiner Gehfähigkeit nicht vom ersten Schritt an außergewöhnlich eingeschränkt. Dies zeigt die gefertigte Videoaufnahme eindeutig. Diese hält fest, dass der Kläger sich vom Stuhl – abgestützt auf einen Tisch und seinen Gehstock – erhebt und anschließend kurz etwas einknickt. Im Anschluss daran geht er, leicht hinkend, aber recht zügig. Das Gangbild ist leicht kleinschrittig und etwas unsicher wirkend. Eine besondere Erschöpfung nach dem Gangtest ist auf dem Video nicht zu erkennen und wird vom Gutachter im Übrigen auch nicht beschrieben. Der Gutachter stellte fest, dass der Kläger längere Strecken (wie etwa 100 m) mit dem Rollator zurücklegen könne. So sei er auch zur Praxis mit dem Rollator gekommen. Auch im Termin zur mündlichen Verhandlung war der Kläger mit dem Rollator erschienen. Hier zeigte sich ebenfalls ein etwas schwerfälliges Gangbild, welches sich aber durchaus recht zügig darstellte. Eine Gleichstellung mit der oben genannten Vergleichsgruppe war keinesfalls gegeben. Diese Einschätzung wird auch durch die beim Kläger festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen gestützt.
Für das Funktionssystem der unteren Extremitäten sind nur unwesentliche Einschränkungen in der Bewegungsfähigkeit objektiviert. Es finden sich hier Auswirkungen einer arteriellen Verschlusskrankheit sowie der diabetischen Polyneuropathie, die in entsprechender Anwendung von Teil B Ziffer 9.2.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze im Hinblick auf die Einschränkungen der Gehfähigkeit mit einem GdB von 40 zu bewerten sind. Ebenfalls negativ auf die Gehfähigkeit wirken sich die Einschränkungen im Bereich der Lendenwirbelsäule, vornehmlich der Lendenwirbelsäule, aus, die sich schon als beginnend schwerwiegend darstellen und gemäß Teil B Ziffer 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze unter Berücksichtigung auch der leichtgradigen Einschränkungen im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule einen GdB von 30 rechtfertigen. Durch das Zusammenspiel dieser Beeinträchtigungen erscheint zwar die Zuerkennung des Merkzeichens G gerechtfertigt, nicht aber des Merkzeichens aG. Die sonstigen Beeinträchtigungen wirken sich nicht besonders negativ auf die Gehfähigkeit aus. Aufgrund der gutachterlichen Feststellungen sowie des persönlichen Eindrucks vom Kläger und seiner mit Rollator gezeigten Gehfähigkeit im Gericht steht zur Überzeugung der Kammer nach alledem fest, dass der Kläger nicht mit der oben genannten Vergleichsgruppe vergleichbar ist und daher die Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht in Betracht kommt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
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