S 38 KA 760/14

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
38
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 38 KA 760/14
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 12 KA 126/14
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Der Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.03.2013 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, die Klägerin von der Teilnahme am Bereitschaftsdienst (Fahrdienst) zu befreien.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Tatbestand:

Die Klägerin, die als praktische Ärztin zugelassen ist, begehrt wegen ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung die Befreiung von der Teilnahme am Ärztlichen Bereitschaftsdienst, nunmehr eingeschränkt auf den sog. "Fahrdienst". Ein Antrag auf Befreiung insgesamt wurde mit Erst-Bescheid vom 21.11.2011 abgelehnt. Der dagegen eingelegte Widerspruch war erfolglos. Die Beklagte führte aus, zwar seien die Voraussetzungen für eine Befreiung nach § 14 Abs. 1 S. 2a und b Bereitschaftsdienstordnung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (im folgenden BDO-KVB) gegeben. Jedoch sei die Regelung des § 14 Abs. 3 BDO-KVB zu beachten. Danach sei selbst bei Vorliegen eines schwerwiegenden Grundes die Befreiung von der Teilnahme am Bereitschaftsdienst dann unzulässig, wenn der Antragsteller unvermindert oder über dem Durchschnitt der Fachgruppe vertragsärztlich tätig sei und er insbesondere Hausbesuche durchführe Die Überprüfung der Voraussetzungen habe ergeben, dass die Praxis mit ihren Fallzahlen zwar fortlaufend um ca. 35 % unter dem Durchschnitt der Fachgruppe liege, jedoch eine kontinuierliche Praxistätigkeit festzustellen sei. Ein Rückgang der Fallzahlen sei nicht erkennbar. Die Zahl an Hausbesuchen betrage in den Quartalen 3/2013 (wohl 3/2012) und 1/2013 ca. 30, in den Vorquartalen 4/2011 bis 2/2012 jeweils 7. In den Quartalen 2/2013 bis 4/2013 seien überhaupt keine Hausbesuche mehr durchgeführt worden. Im Hinblick auf die unverminderte vertragsärztliche Tätigkeit und die Dienstfrequenz (weniger Einteilungen) bezogen auf die neue Gruppe sei der Klägerin die Teilnahme am Ärztlichen Bereitschaftsdienst zumutbar. Jedenfalls sei eine Teilnahme am Sitzdienst aus medizinischen Gründen möglich. Darüber hinaus sei die Klägerin auf die Möglichkeit hingewiesen worden, sich von einem eigenen Vertreter vertreten zu lassen.

Dagegen ließ die Klägerin Klage zum Sozialgericht München einlegen. Die Ablehnung der Befreiung von der Teilnahme am Bereitschaftsdienst sei rechtswidrig. Denn die Klägerin leide an einer schweren rheumatischen Erkrankung (rheumatische Arthritis). Dies könne durch verschiedene ärztliche Atteste (Dr. C. = rheumatologischer Internist; Dr. D. = Orthopäde) belegt werden. Außerdem seien die Gesundheitsstörungen als Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung von 50 % zuzüglich des Merkzeichens "G" anerkannt. Klägerseits vorgetragen und in der mündlichen Verhandlung ergänzt wurde, dass die Klägerin nicht mehr in der Lage sei, Treppen zu steigen, was gerade in A-Stadt im Rahmen des sog. "Fahrdienstes" notwendig sei, da viele Häuser nicht über einen Aufzug verfügten. Für den "Fahrdienst" würden die teilnehmenden Ärzte schwerpunktmäßig in der Nacht eingeteilt. Auf Frage des Gerichts wurde mitgeteilt, dass der sog. "Sitzdienst", der parallel zum "Fahrdienst" stattfinde, in der Bereitschaftsdienstpraxis in A-Stadt bis 20.00 Uhr bzw. 21.00 Uhr geleistet werde. Aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen sei sie gezwungen, des Öfteren ihre Praxis zu schließen und Urlaub zu nehmen (41 Urlaubstage im Jahr). Leider sei die angewandte rheumatische Therapie auch mit unerwünschten Nebenwirkungen verbunden. Die Klägerin sei auch nicht mehr in der Lage weitere Patienten aufzunehmen. Die Beklagte machte darauf aufmerksam, die Bereitschaftsdienstgruppe bestehe aus 153 Mitgliedern einschließlich der Klägerin, so dass es aufgrund der Größe möglich sein müsste, sich vertreten zu lassen oder die Dienste zu tauschen. Von dieser Möglichkeit (Abgabe der Dienste an ein Mitglied der Bereitschaftsdienst-gruppe) habe die Klägerin auch immer wieder Gebrauch gemacht, so am 16.12.2014, 17.12.2014, 19.12.2014. Im laufenden Jahr 2014 gehe es noch um 11 Fahrschichten, im Jahr 2015 bis zur Vollendung des 62. Lebensjahres um weitere 9 Fahrschichten. Die unterdurchschnittliche Fallzahl der Klägerin resultiere daraus, dass diese als diabetologische Schwerpunktpraxis mit der Vergleichsgruppe der Hausärzte verglichen wurde, da es keine anderen Fallzahlen gebe. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 11.06.1986, Az. 6 RKa 5/85) gehe die Interessenabwägung zu Lasten der Klägerin.

In der mündlichen Verhandlung am 28.05.2014 stellte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Antrag vom 23.04.2014 mit der Modifikation, dass sich die Befreiung nicht auf die "Sitzdienste" beziehen solle.

Die Vertreterin der Beklagten beantragte, die Klage abzuweisen.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung war die Beklagtenakte. Im Übrigen wird auf den Akteninhalt, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie die Sitzungsniederschrift vom 28.05.2014 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zum Sozialgericht München eingelegte Klage ist zulässig und erweist sich auch als begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Befreiung von der Teilnahme am Ärztlichen Bereitschaftsdienst, soweit sich dieser auf den "Fahrdienst" bezieht. Die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung, die den Kassenärztlichen Vereinigungen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung aufgetragen ist, umfasst auch die vertragsärztliche Versorgung zu den sprechstundenfreien Zeiten (§§ 73 Abs. 2, 75 S. 1 S. 1 und 2 SGB V). Auf dieser Rechtsgrundlage wurde die Bereitschaftsdienstordnung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (BDO-KVB) erlassen, die hier in der Fassung vom 23.11.2012, in Kraft getreten am 20.04.2013 zur Anwendung kommt. In deren § 2 sind diejenigen Ärzte, medizinische Versorgungszentren aufgeführt, die zur Teilnahme an dem ärztlichen Bereitschaftsdienst verpflichtet sind. Nachdem die Antragstellerin als praktische Ärztin mit vollem Versorgungsauftrag zugelassen ist, besteht für sie eine entsprechende Verpflichtung (§ 2 Abs. 1 Ziff. 1). Die Regelung in § 14 BDO-KVB enthält einen Befreiungstatbestand. Danach kann ein Vertragsarzt aus schwerwiegenden Gründen ganz, teilweise oder vorübergehend und zusätzlich auch befristet (§ 14 Abs. 6) vom ärztlichen Bereitschaftsdienst befreit werden. Schwerwiegende Gründe liegen insbesondere in folgenden Fällen vor:

a. Der Arzt ist wegen nachgewiesener Erkrankung oder körperlicher Behinderung zur Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst nicht in der Lage.
b. Die Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst ist aufgrund nachgewiesener besonderer belastender familiärer Pflichten dem Arzt nicht zuzumuten.
c ...
d ...
e ...

In § 14 Abs. 2 ist bestimmt, dass ein schwerwiegender Grund nach Abs. 1 durch Vorlage geeigneter Unterlagen nachzuweisen ist. Des Weiteren sieht § 14 Abs. 3 vor, dass eine Befreiung vom ärztlichen Bereitschaftsdienst grundsätzlich nicht zulässig ist, wenn der Antragsteller die Voraussetzungen gemäß Abs. 1 S. 2 a. und b. erfüllt, jedoch unvermindert oder über dem Durchschnitt der Fachgruppe vertragsärztlich tätig ist

Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung (auch Befreiung vom ärztlichen Bereitschaftsdienst ganz, teilweise, vorübergehend, zeitlich befristet), wie sich der Formulierung "kann" in § 14 Abs. 1 BDO-KVB entnehmen lässt. Aber auch aus der Regelung des § 14 Abs. 3 BDO-KVB (Formulierung "grundsätzlich"), der als Ausschlusstatbestand konzipiert ist, ist ein Ermessen abzuleiten.

Aus §§ 73 Abs. 2, 75 S. 1 SGB V und §§ 1 ff. BDO-KVB geht hervor, dass es gemeinsame Aufgabe aller Vertragsärzte ist, am ärztlichen Bereitschaftsdienst teilzunehmen, weshalb "Befreiungen" äußerst restriktiv zu handhaben sind. Das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 11.06.1986, Az. 6 RKa 5/85) hält es mit den Grundsätzen des Kassenarztrechts für vereinbar, wenn die Freistellung "nicht allein von den gesundheitlichen Verhältnissen des Kassenarztes, sondern auch davon abhängig gemacht wird, ob die gesundheitlichen Verhältnisse sich nachteilig auf die allgemeine berufliche Tätigkeit des Arztes auswirken, zum Beispiel dass sie zu einer deutlichen Einschränkung der Praxisausübung geführt haben oder dem Kassenarzt aufgrund seiner Einkommensverhältnisse (des Honorarumsatzes ) nicht mehr zugemutet werden kann, den NVD (Notfallvertretungsdienst) auf eigene Kosten von einem Vertreter wahrnehmen zu lassen.

Die erstgenannte Überlegung des Bundessozialgerichts ist in § 14 Abs. 3 BDO-KVB (Neufassung durch den Beschluss der Vertreterversammlung der Kassen-ärztlichen Vereinigung Bayerns vom 23 11. 2012, in Kraft getreten am 20. April 2013) ausdrücklich aufgenommen worden, indem eine Befreiung vom ärztlichen Bereitschaftsdienst grundsätzlich nicht zulässig ist, wenn der Antragsteller die Voraussetzungen gemäß Abs. 1 S. 2 a. und b. erfüllt, jedoch unvermindert oder über dem Durchschnitt der Fachgruppe vertragsärztlich tätig ist Hintergrund ist, dass demjenigen, der uneingeschränkt oder überdurchschnittlich vertragsärztlich tätig ist, der somit "die wirtschaftlichen Möglichkeiten des freien Berufs voll nutzt, eventuell sogar besser gestellt ist ", trotz bestehender Gesundheitsstörungen zugemutet werden kann, am ärztlichen Bereitschaftsdienst teilzunehmen. Er soll nicht zulasten seiner Kollegen vom ärztlichen Bereitschaftsdienst befreit werden. Dagegen wurde die weitere Überlegung, den Vertragsarzt dann nicht zu befreien, wenn er aufgrund seiner Einkommensverhältnisse (des Honorarumsatzes ) in der Lage ist, den Bereitschaftsdienst auf eigene Kosten von einem Vertreter wahrnehmen zu lassen, nicht in der BDO-KVB aufgenommen. Die damals vom Bundessozialge-richt zu beurteilende Rechtsgrundlage des § 5 des Statuts im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen ist nicht vergleichbar mit der hier zu be-urteilenden Rechtsgrundlage (BDO-KVB), die dem hier zu beurteilenden Sachverhalt zu Grunde zu legen ist. Hätte der Satzungsgeber die Überlegungen des Bundessozialgerichts voll übernehmen wollen, hätte er auch den Vertretungsgesichtspunkt in § 14 Abs. 3 BDO-KVB aufgenommen. Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass allein der Hinweis auf eine Vertretungsmöglichkeit nicht ausreicht, eine Befreiung zu versagen. Davon abgesehen kommt es stets auf den einzelnen Bereitschaftsdienstbereich an, ob und inwieweit ein Tausch oder eine Vertretung möglich sind. Selbstverständlich dürfen grundsätzlich die Kosten der Vertretung bei ausreichenden Honorareinkünften des vertretenen Arztes keine Rolle für eine Befreiung spielen. Für die Organisation der Vertretung, die rechtzeitige Aufnahme sowie die ordnungsgemäße Durchführung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes trägt der Vertretene die Verantwortung (§ 11 Abs. 3 S. 5 BDO-KVB).

Ferner ist in Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu differenzieren zwischen der völligen Befreiung, der teilweisen oder vorübergehenden und zeitlich befristeten. Liegt ein schwerwiegender Grund für die Befreiung vor, ist zu prüfen, ob statt einer völligen Befreiung andere eingeschränkte Befreiungsmöglichkeiten wie zum Beispiel eine teilweise Befreiung in Betracht zu ziehen sind.

In Anwendung dieser Grundsätze ist festzustellen, dass die Beklagte von ihrem in § 14 Abs. 1, Abs. 3 BDO-KVB eingeräumten Ermessen im Ergebnis keinen Gebrauch gemacht hat. Sie ist nämlich von einer unterdurchschnittlichen Fallzahl (Vergleich mit der Vergleichsgruppe der Hausärzte) ausgegangen, obwohl die Klägerin mit ihrer diabetologischen Schwerpunktpraxis nur bedingt mit dieser Fachgruppe vergleichbar ist, Für diabetologische Schwerpunktpraxen existieren keine Vergleichszahlen. Es kann somit keine Aussage darüber getroffen werden, ob die Klägerin - was die Fallzahl betrifft – als unterdurchschnittlich oder überdurchschnittlich anzusehen ist. Was die unverminderte Praxistätigkeit betrifft, ist die Fallzahl der Klägerin seit sechs Jahren in etwa konstant; die Abweichungen liegen innerhalb der normalen Schwankungsbreite. Dies kann jedoch dahinstehen, da die Beklagte nicht berücksichtigt hat, dass die Hausbesuchstätigkeit der Klägerin - offensichtlich mit der Erkrankung der Klägerin zusammenhängend - nicht mehr stattfindet. Insofern würde auch eine ansonsten unverminderte Praxistätigkeit eine Befreiung vom ärztlichen Bereitschaftsdienst nicht hindern. Der Möglichkeit der Vertretung kommt - wie sich aus der Nichtnennung in § 14 Abs. 3 BDO-KVB (vergleiche oben) ergibt, als Ausschlusstatbestand allenfalls untergeordnete Bedeutung zu, sollen die Befreiungstatbestände nicht "leer" laufen.

Gegen eine vollständige Befreiung von der Teilnahme am ärztlichen Bereit-schaftsdienst, der sowohl den "Sitzdienst", als auch den "Fahrdienst" umfasst, spricht, dass es der Klägerin trotz Erkrankung (Rheumatisches Krankheitsbild) unter Würdigung ihres vertragsärztlichen Tätigwerdens zumutbar erscheint, den "Sitzdienst" in der Bereitschaftsdienstpraxis in A-Stadt weiter zu übernehmen. Dagegen ist der Klägerin nach Auffassung des Gerichts in Gesamtschau aller Umstände nicht zuzumuten, für den "Fahrdienst" eingeteilt zu werden. Wie sie mehrfach betont hat, ist sie nicht mehr in der Lage, Treppen zu steigen, was gerade in A-Stadt im Rahmen des sog. "Fahrdienstes" notwendig sei, da viele Häuser nicht über einen Aufzug verfügen. Sie hat auch die räumlichen Voraussetzungen (Erdgeschosspraxis) so gestaltet und angepasst, dass der Praxisbetrieb trotz ihrer Erkrankung aufrechterhalten werden kann. Hinzu kommt, dass sie sich nicht mehr in der Lage sieht, weitere Patienten aufzunehmen, die Klägerin keine Hausbesuche mehr tätigt und extensive Urlaubszeiten (41 Urlaubstage im Jahr) notwendig sind, um den Praxisbetrieb mit der Erkrankung kompatibel zu machen. Bei dieser Sachlage wäre es nahezu grotesk, der Klägerin die Teilnahme am "Fahrdienst" zuzumuten, so dass von einer "Ermessensreduzierung auf Null" auszugehen ist. Die Beklagte übersieht auch, dass es sich um eine Einzelfallentscheidung handelt, sich deshalb eine pauschale Beurteilung verbietet, und auch die Belastung der Kolleginnen/Kollegen der Klägerin angesichts der Größe der Bereitschaftsdienstgruppe (153 Mitglieder) durch eine partielle Befreiung der Klägerin von der Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst sehr gering sein dürfte.

Aus den genannten Gründen war zu entscheiden, wie geschehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.
Rechtskraft
Aus
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