S 3 KR 233/12

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 3 KR 233/12
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 16 KR 358/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Kostenerstattung für eine Kopforthesenbehandlung (sogenannte Helmtherapie).

Die am 00.00.2011 geborene Klägerin ist im Rahmen der Familienversicherung über ihre Mutter bei der Beklagten gegen Krankheit versichert. Seit ihrer Geburt litt die Klägerin an einer deutlichen Gesichts- und Schädelasymmetrie. Unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung des Diakoniekrankenhauses B I und eines Kostenvoranschlages der Firma D T über einen Betrag von 1.819,00 EUR beantragte die Mutter der Klägerin bei der Beklagten die Kostenübernahme für eine Helmtherapie.

Mit Bescheid vom 15.02.2012 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab. Sie führte zur Begründung aus, dass für die Helmtherapie kein Wirksamkeitsnachweis vorliege. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) habe bisher keine positive Empfehlung für diese neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode abgegeben. Dies führe dazu, dass die Helmtherapie nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehöre.

Die Behandlung der Klägerin mittels einer Kopforthese begann am 21.02.2012.

Gegen den Bescheid vom 15.02.2012 hat die Klägerin Widerspruch eingelegt. Sie macht geltend, es liege eine erhebliche Verschiebung der Ohrsymmetrie und eine Achsabweichung der Schädelsymmetrie vor. Mit der streitigen Therapie habe sofort begonnen werden müssen. Ansonsten hätten irreparable Gesundheitsschäden gedroht. Die bisherige Be-handlung habe nachweislich eine deutliche Verbesserung der Schädelasymmetrie gebracht. Alternativbehandlungen in Form von Krankengymnastik und Umlagerung seien nicht erfolgreich gewesen. Zur Stützung ihrer Ausführungen hat die Klägerin einen physiotherapeutischen Bericht der Krankengymnastikpraxis Pils, ein Schreiben des Kinderarztes Dr. C und einen Bericht des Diakoniekrankenhauses B vorgelegt.

Die Beklagte schaltete den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein. Dr. N kam in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 29.04.2012 zu dem Ergebnis, es liege keine behandlungsbedürftige Erkrankung oder Behinderung bei der Klägerin vor. Die Helmtherapie sei eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode. Der GBA habe diese bisher nicht positiv befürwortet. Für die Klägerin bestünden Behandlungsalternativen in Form von Lagerungs- und Heilmitteltherapien.

Mit Widerspruchsbescheid vom 08.05.2012 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Nach ihrer Auffassung liegt bei der Klägerin keine behandlungsbedürftige Erkrankung oder eine Entstellung vor. Die Kosten für eine Helmtherapie seien weder als Krankenbehandlung noch im Rahmen der Hilfsmittelversorgung zu übernehmen.

Am 16.05.2012 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie führt zur Begründung nochmals aus, dass keine erfolgversprechenden Behandlungsalternativen existierten. Nur die sofort notwendige Helmtherapie habe gravierende gesundheitliche Folgeschäden effektiv verhindern können. Die Rechnung der Firma D T sei am 20.03.2012 vollständig ausgeglichen worden.

Die Klägerin beantragt,

die Beklage unter Aufhebung des Bescheides vom 15.02.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2012 zu verurteilen, die Kosten für eine Kopforthesenbehandlung in Höhe von 1.819,00 EUR zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten von Dr. C und der Fachärztin für Orthopädie/Kinderorthopädie Frau X (Diakoniekrankenhaus B). Hierzu wird auf Blatt 24 bis 37 der Gerichtsakte Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte verwiesen. Die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 15.02.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2012 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Kostenerstattung für eine Kopforthesenbehandlung.

Nach § 13 Abs. 3 S. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) hat die Krankenkasse dem Versicherten Kosten einer selbst beschafften Leistung zu erstatten, die dadurch entstanden sind, dass sie eine unaufschiebbare Leistung entweder nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, soweit die Leistung notwendig war.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) müssen Versicherte sich vor der Selbstverschaffung um die Gewährung einer Sachleistung bemühen und die Entscheidung der Krankenkasse abwarten (vgl. BSG SozR 4-2500 § 13 Nr. 20). Die Klägerin hat hier diesen Beschaffungsweg eingehalten, da mit der streitigen Behandlung erst nach Erlass des Bescheides der Beklagten vom 15.02.2012 begonnen wurde.

Die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 S. 1 erste Alternative SGB V (Notfall) sind nicht erfüllt, weil diese voraussetzt, dass es dem Versicherten unmöglich oder unzumutbar ist, die Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten (vgl. BSG SozR 3-2500 § 13 Nr. 22). Ein solcher Notfall liegt hier jedoch nicht vor. Eine Leistung ist nur dann unaufschiebbar, wenn sie zum Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Ausführung so dringlich war, dass aus medizinischer Sicht ein zeitlicher Aufschub nicht in Betracht kommt. Hiervon ist vorliegend nicht auszugehen. Die Beklagte hat nur wenige Tage nach der ärztlichen Verordnung über den Leistungsantrag der Klägerin entschieden.

Der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch des Versicherten. Er setzt voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben. Ein Sachleistungsanspruch auf Kostenübernahme für eine Helmtherapie steht der Klägerin jedoch nicht zu. Gemäß § 27 Abs. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten und Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die entsprechende Behandlungsmethode muss dabei gemäß § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Sie muss zu den Behandlungsmethoden zählen, die für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse erforderlich sind. Neue ärztliche Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sind gemäß § 135 Abs. 1 S. 1 SGB V nur dann von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst, wenn der GBA in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 SGB V eine positive Empfehlung über den diagnostischen und therapeutischen Nutzen der Methode abgegeben hat. Durch derartige Richtlinien wird sowohl geregelt, unter welchen Voraussetzungen zugelassene Leistungserbringer neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu Lasten der Krankenkasse erbringen und abrechnen dürfen als auch der Umfang, der den Versicherten geschuldeten ambulanten Leistungen verbindlich festgelegt (vgl. BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 8). Ärztliche Behandlungsmethoden im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung sind medizinische Vorgehensweisen, denen ein eigenes theoretisch-wissenschaftliches Konzept zu Grunde liegt, das sie von anderen Therapieverfahren unterscheidet und das ihre systematische Anwendung in der Behandlung bestimmter Krankheiten rechtfertigen soll (vgl. BSG SozR 4-2500 § 13 Nr. 9). Neu ist eine Methode, wenn sie zum Zeitpunkt der Leistungserbringung nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistung im Einheitlichen Be-wertungsmaßstab für ärztliche Leistungen (EBM-Ä) enthalten ist (vgl. BSG SozR 3-2500 § 135 Nr. 4).

Offen bleiben kann, ob die bei der Klägerin seit ihrer Geburt vorliegende Gesichts- und Schädelasymmetrie eine Krankheit im Sinne des § 27 SGB V darstellt. Ein Leistungsanspruch der Klägerin scheitert vorliegend daran, dass der GBA keine positive Empfehlung für die Helmtherapie abgegeben hat. Die Kopforthesenbehandlung stellt zur Überzeugung der Kammer eine neue Behandlungsmethode im Sinne des § 135 Abs. 1 SGB V dar. Hier geht es konkret um die Einflussnahme auf das Wachstum des Kopfes. Die Behandlung erschöpft sich nicht in der Zurverfügungstellung eines Medizinproduktes. Es erfolgen, bedingt durch das Kopfwachstum des Kindes, regelmäßige Kontrollen und Anpassungen der Orthese im Sinne einer Kopforthesenbehandlung. Eine Abrechnungsmöglichkeit für diese Therapie sieht der EBM-Ä (noch) nicht vor. Eine Empfehlung des GBA über den diagnostischen und therapeutischen Nutzen der Methode fehlt.

Ein Ausnahmefall, in dem es keiner Empfehlung des GBA bedarf, liegt im Falle der Klägerin nicht vor. Die bei ihr nach der Geburt diagnostizierte Gesichts- und Schädelasymmetrie ist kein sogenannter Seltenheitsfall, bei dem eine Ausnahme von diesem Erfordernis erwogen werden könnte. Ein Seltenheitsfall liegt nach der Rechtsprechung nur dann vor, wenn es sich um eine sehr seltene Erkrankung handelt, die sich wegen ihrer Seltenheit der systematischen wissenschaftlichen Untersuchung entzieht und für die deshalb keine wissenschaftlich auf ihre Wirkung überprüfte Behandlungsmethode zur Verfügung steht. Dies gilt insbesondere bei Erkrankungen, die weltweit nur extrem selten auftreten und die deshalb weder systematisch erforscht noch systematisch behandelt werden können (vgl. BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 1). Angesichts der Vielzahl der bei der erkennenden Kammer anhängiger gleichartiger Fälle ist hiervon nicht auszugehen. Ein Leistungsanspruch ergibt sich auch nicht aus einem sogenannten Systemversagen. Ungeachtet des in § 135 Abs. 1 SGB V statuierten Verbots mit Erlaubnisvorbehalt kann nach der Rechtsprechung des BSG eine Leistungspflicht der Krankenkasse ausnahmsweise dann bestehen, wenn die fehlende Anerkennung einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung der für die Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde (Systemversagen). Diese Durchbrechung beruht darauf, dass in solchen Fällen die in § 135 Abs. 1 SGB V vorausgesetzte Aktualisierung der Richtlinien rechtswidrig unterblieben ist und deshalb die Möglichkeit bestehen muss, dass Anwendungsverbot erforderlichenfalls auf andere Weise zu überwinden (vgl. BSG SozR 3-2500 § 135 Nr. 4). Ein solcher Systemmangel liegt nur vor, wenn das Verfahren vor dem GBA von den antragsberechtigten Stellen bzw. dem GBA selbst überhaupt nicht, nicht zeitgerecht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Anhaltspunkte dafür, dass sich der GBA systemwidrig nicht mit der Helmtherapie befasst hat, liegen nach Auffassung der Kammer nicht vor. Evidenzbasierte Leitlinienempfehlungen der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) oder anderer wissenschaftlicher Fachgesellschaften aus Deutschland zum Einsatz der streitigen Therapie bei Schädelasymmetrien gibt es nicht. Ein Überprüfungsantrag beim GBA wurde daher bisher folgerichtig nicht gestellt.

Ein Leistungsanspruch ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 1 a S. 1 SGB V in der ab der 01.01.2012 geltenden Fassung (Bundesgesetzblatt 2011 I S. 2983). Nach dieser Vorschrift können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zu mindestens wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine all-gemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Nach der Gesetzesbegründung (Bundesratsdrucksache 456/11, S. 83) stellte diese Norm eine Klarstellung zum Geltungsbereich des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98; zitiert nach www.juris.de) für das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Das BVerfG hat in dieser Entscheidung eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass aus dem Grundgesetz keine konkreten krankenversicherungsrechtlichen Leistungsansprüche hergeleitet werden können, nur für lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankungen gemacht, für die eine allgemein anerkannte, medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht. Eine Gesichts- und Schädelasymmetrie stellt keine derart schwerwiegende Erkrankung dar.

Ein Sachleistungsanspruch ergibt sich auch nicht aus § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V. Nach dieser Regelung haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 SGB V ausgeschlossen sind. Eine Kopforthese ist ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V. Sie ist jedoch untrennbar mit der Helmtherapie verbunden. Denn nur unter Berücksichtigung des eigenen theoretisch-wissenschaftlichen Konzeptes der Beeinflussung des Kopfwachstums durch eine gezielte Anwendung der Kopforthese und Anpassung derselben, kann es letztlich zum Einsatz der Kopforthese kommen. Soll ein Hilfsmittel im Rahmen der Krankenbehandlung (§ 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB V) deren "Erfolg sichern" (§ 33 Abs. 1 SGB V) ist seine Verwendung nicht von dem zu Grunde liegenden Behandlungskonzept und den dafür geltenden Anforderungen nach §§ 2 Abs. 1 S. 3, 12 Abs. 1 SGB V i. V. m. § 135 Abs. 1 SGB V zu trennen. Insoweit erfasst die Sperrwirkung des in § 135 Abs. 1 S. 1 SGB V begründeten Leistungsverbots mit Erlaubnisvorbehalt jegliche Maßnahme im Rahmen einer bei einem bestimmten Krankheitsbild systematisch angewandten "Methode" und demgemäß auch den Einsatz eines entsprechenden Hilfsmittels (vgl. BSG SozR 4-2500 § 139 Nr. 4).

Die Kammer schließt sich der überwiegenden Rechtsprechung an, wonach eine Kopforthesentherapie nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehört (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.10.2012, L 1 KR 140/12; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.05.2012, L 11 KR 14/12 B ER; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 25.01.2012, L 1 KR 342/10; Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 14.09.2011, L 1 KR 178/10; andere Auffassung: Sozialgericht Dresden, Urteil vom 08.06.2011, S 15 KR 286/10; alle zitiert nach www.juris.de).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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