S 11 BK 28/13

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 BK 28/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 14.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.08.2013 wird – soweit er den Zeitraum von Juli 2011 bis Mai 2012 betrifft – aufgehoben. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach 47/50.

Tatbestand:

Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist verheiratet und Mutter der Kinder Q. (geboren am 00.00.0000), G. (geboren am 00.00.0000) und B. (geboren am 00.00.0000).

Die Klägerin und ihre Familie bewohnten ein ca. 150 qm großes Einfamilienhaus in I. In der Zeit vom 01.06.2011 bis 31.05.2012 bezog die Familie Wohngeld in Höhe von monatlich 178,00 EUR.

Mit Bescheid vom 14.01.2011 bewilligte die Beklagte der Klägerin für die Kinder Q. und B. Kinderzuschlag für den Zeitraum vom 01.01.2011 bis 30.06.2011 in Höhe von monatlich 260,00 EUR. Hierbei berücksichtigte die Beklagte – entsprechend den Angaben der Klägerin im Antrag – Einkommen der Klägerin sowie des Ehemanns aus einer Beschäftigung bei M. Sie erhalte Entgelt in Höhe von monatlich 330,00 EUR aus einer geringfügigen Beschäftigung, ihr Ehemann erhalte vom gleichen Arbeitgeber monatlich 1.750,00 EUR brutto (1.388,06 EUR netto).

Am 23.05.2011 beantragte die Klägerin die Weiterbewilligung der Leistungen. Sie gab gegenüber der Beklagten an, die monatliche Miete für das Haus belaufe sich auf 850,00 EUR, für die Heizung zahlten sie monatlich 142,91 EUR und die sonstigen Nebenkosten beliefen sich auf 147,00 EUR. Sowohl sie als auch ihr Ehemann bezögen weiterhin Einkommen aus nichtselbständiger Tätigkeit in gleichbleibender Höhe. Ihr Sohn G. erhalte eine Berufsausbildungsbeihilfe in Höhe von monatlich 271,00 EUR. Ausweislich einer Abrechnung für das Jahr 2010 belief sich die monatliche Miete auf 800,00 EUR und die Nebenkostenvorauszahlungen auf 120,00 EUR.

Mit Bescheid vom 04.07.2011 bewilligte die Beklagte der Klägerin Kinderzuschlag für G. und B. für den Zeitraum von Juli 2011 bis Mai 2012 in Höhe von monatlich 250,00 EUR.

Mit Bescheid vom 13.07.2011 bewilligte die Beklagte der Klägerin für Q. und B. für den Monat Juli 2011 Kinderzuschlag in Höhe von 250,00 EUR. Mit weiterem Bescheid vom 13.07.2011 bewilligte die Beklagte der Klägerin Kinderzuschlag für ihre drei Kinder für den Zeitraum von August 2011 bis Mai 2012 in Höhe von monatlich 390,00 EUR. In den Bewilligungsbescheiden wurde die Klägerin stets ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie – unabhängig von einer etwaigen Nachprüfung durch die Familienkasse - verpflichtet sei, Änderungen mitzuteilen, die sich auf den Kinderzuschlag auswirken können. Dies gelte insbesondere für Änderungen in der Höhe des Einkommens.

Am 04.05.2012 stellte sie einen Fortzahlungsantrag. Hierbei gab sie an, die monatliche Miete belaufe sich auf 850,00 EUR, die Heiz- und Nebenkosten beliefen sich auf 146,48 EUR. Der Ehemann der Klägerin sei zwischenzeitlich arbeitslos geworden und beziehe Arbeitslosengeld I. Die Leistungshöhe betrug kalendertäglich 30,85 EUR für die Zeit vom 16.06.2011 bis 15.06.2012. Weiteres Einkommen sei nicht vorhanden. Die Klägerin selbst arbeite auch seit dem 30.06.2011 nicht mehr.

Mit Bescheid vom 14.06.2012 nahm die Beklagte die Bewilligung des Kinderzuschlags nach § 45 SGB X ab Juni 2011 im vollen Umfang zurück und forderte insgesamt 4.410,00 EUR zurück. In dem Bescheid wurde die Klägerin darauf hingewiesen, dass ein Antrag beim SGB II-Träger zu stellen sei. Hiergegen legte die Klägerin am 03.07.2012 Widerspruch ein. Sie teilte mit, sie sei der Auffassung ihr Einkommen – zusammen mit dem Kinderzuschlag - reiche aus, die Hilfebedürftigkeit zu vermeiden. Im Übrigen sei ihr Ehemann seit dem 01.07.2012 wieder als Omnibusfahrer bei der Firma M. in K.beschäftigt. Der monatliche Bruttoverdienst belaufe sich wieder auf 1.750,00 EUR.

Mit Widerspruchsbescheid vom 06.08.2013 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Am 03.09.2013 hat die Klägerin Klage erhoben und zunächst beantragt, den Bescheid vom 14.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.08.2013 aufzuheben.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 22.07.2014 hat die Klägerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, die Klage hinsichtlich des Monats Juni 2011 zurückgenommen.

Sie beantragt nunmehr noch,

den Bescheid vom 14.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.08.2013 aufzuheben, soweit der Zeitraum von Juli 2011 bis Mai 2012 betroffen ist.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte sowie die Gerichtsakte Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 22.07.2014 gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist als reine Anfechtungsklage zulässig und – nach entsprechender Teilrücknahme für den Monat Juni 2011 – begründet. Die Klägerin ist gemäß § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da die angefochtenen Bescheide hinsichtlich der Rücknahme für den Zeitraum Juli 2011 bis Mai 2012 rechtswidrig sind.

Als Rechtsgrundlage für die Rücknahme der Bewilligungsbescheide kommt für den Zeitraum von Juli 2011 bis Mai 2012 allein § 45 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) in Betracht. Nach dessen Abs. 1 darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigter Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen des Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein rechtswidriger Verwaltungsakt darf nach Abs. 2 der Regelung nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat (Nr. 1), der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr. 2), oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge Fahrlässigkeit nicht kannte, wobei grobe Fahrlässigkeit vorliegt, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (Nr. 3).

Im vorliegenden Fall waren die Bewilligungsbescheide für den Zeitraum Juli 2011bis Mai 2012 von Beginn an rechtswidrig, weil die Beklagte den Kinderzuschlag in diesen Zeiträumen bewilligt hatte, ohne dass hierbei die Tatsache berücksichtigt wurde, dass das Beschäftigungsverhältnis des Ehemanns der Klägerin bereits seit dem 15.06.2011 und die Klägerin seit dem 30.06.2011 nicht mehr beim Busunternehmen M. arbeiteten. Eine Berücksichtigung des verringerten Einkommens hätte zum Wegfall bzw. zur Verringerung des Anspruchs der Klägerin auf Kinderzuschlag geführt.

Die Klägerin war – dies steht zur Überzeugung der Kammer fest – in ihrem Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsakts auch nicht schutzwürdig, da der Verwaltungsakt gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X auf Angaben beruhte, die die Klägerin zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig gemacht hat. Zwar hat die Klägerin zum Zeitpunkt der Antragstellung zutreffende Angaben gemacht. Sie hätte aber spätestens nach dem Verlust der Arbeit ihres Ehemanns und ihrer selbst, die Beklagte darüber in Kenntnis setzen müssen, dass das Einkommen sich verringert hat. Hierauf ist die Antragstellerin bei jeder Antragstellung unmissverständlich hingewiesen worden. Entsprechende Hinweise enthielten auch stets die entsprechenden Bewilligungsbescheide.

Somit steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) jedenfalls für den Zeitraum ab Juli 2011 vorliegen.

In diesem Fall "darf" die Behörde, so der ausdrückliche Wortlaut der Norm, den Verwaltungsakt ganz oder teilweise zurücknehmen. Der Behörde ist damit ein Ermessen hinsichtlich der Rücknahme eingeräumt (so die zu Recht herrschende Ansicht, vgl. dazu etwa Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 45 Rn. 88; Padé in: jurisPK-SGB X, § 45 Rn. 120 ff.; Bundessozialgericht -BSG - Urteil vom 15.02.1990 – 7 Rar 28/88 = juris; Landessozialgericht –LSG – Baden-Württemberg Urteil vom 16.02.2012 – L 10 R 2006/10 = juris; Hessisches LSG Urteil vom 30.10.2013 – L 4 KA 65/11 = juris; Bundesverwaltungsgericht – BVerwG – Urteil vom 14.03.2013 – 5 C 10/12 = juris; vgl. allgemein zum Ermessen und Ermessensfehlern, Dörr/Francke, Sozialverwaltungsrecht, 2. Aufl. 2006, Kap. 3 II).

Dass die Behörde im vorliegenden Fall erkannt hat, dass ihr ein solches Ermessen eingeräumt war, lässt eine Auslegung der angefochtenen Bescheide nach dem objektiven Empfängerhorizont, nicht erkennen. Eine Ermessensreduzierung "auf Null" ist nach Auffassung der Kammer nicht ersichtlich. Die bloße Tatsache, dass kein Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X besteht führt jedenfalls nicht zu einer solchen Ermessensreduzierung. Eine Heilung nach § 41 Abs. 2 SGB X kommt nach Auffassung der Kammer vorliegend nicht in Betracht, da kein Fehler in der Ermessensbegründung, sondern ein Mangel in der Ermessensbetätigung vorliegt (vgl. dazu Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 41 Rn. 11). Soweit die Beklagte im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, man habe doch im Widerspruchsbescheid ausgeführt, die Klägerin habe die Veränderungen nicht rechtzeitig mitgeteilt, weswegen sie sich auf Vertrauensschutz nicht berufen könne, so ersetzt dies nach Auffassung der Kammer nicht die Ausübung des Ermessens. Hiermit hat die Beklagte lediglich die tatbestandlichen Voraussetzungen dargelegt, aufgrund derer überhaupt dem Grunde nach eine rückwirkende Rücknahme in Betracht gekommen wäre. Dies ist – wie oben dargelegt – durch den Beklagten zutreffend festgestellt worden. Nach Auffassung der Kammer gebietet § 45 SGB X aber auch in diesen Fällen die Ausübung von Ermessen dahingehend, ob – und aus welchen Gründen – die Beklagte von der Möglichkeit der Rücknahme auch Gebrauch machen will. Dass die Beklagte überhaupt erkannt hat, dass sie diese Erwägungen anzustellen hat, ist vorliegend aber gerade nicht erkennbar. Die Behörde ist vielmehr davon ausgegangen, dass die Bewilligung bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen aufzuheben ist. Jedenfalls lässt der Bescheid nach dem objektiven Empfängerhorizont nach Auffassung der Kammer keine andere Deutung zu. Anders als aber in Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende (§ 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II) findet sich im Bereich des BKGG ein – nach Auffassung der Kammer, schon im Hinblick auf die sachliche Nähe beider Regelungsmaterien, durchaus sinnvoller – Verweis auf die Regelung des § 330 Abs. 2 des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches – Arbeitsförderung – (SGB III) nicht.

Nach alledem waren die Bescheide für den Zeitraum von Juli 2011 bis Mai 2012 als ermessensfehlerhaft aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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