L 10 R 5304/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 10 R 3200/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 5304/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 30.09.2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Weitergewährung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung über den 31.08.2011 hinaus.

Die 1957 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt und war zuletzt bis Juli 2001 als Reinigungskraft versicherungspflichtig beschäftigt. Sie bezog bereits vom 01.02.2005 bis 30.09.2006 sowie vom 01.09.2010 bis 31.08.2011 Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Auf ihren Antrag auf Weiterzahlung dieser Rente vom 26.04.2011 (Bl. 114 VA) veranlasste die Beklagte eine Begutachtung der Klägerin durch den Neurologen, Psychiater und Psychotherapeuten Dr. H. (M 23 der VA; nach Untersuchung im Juni 2011). Dr. H. diagnostizierte (S. 10 des Gutachtens) einen Verdacht auf Dysthymia (differenzialdiagnostisch rezidivierende Anpassungsstörungen), eine Somatisierung (mit Angabe von Spannungskopfschmerzen, Schwankschwindel, Tinnitus und Schmerzen überall), ein Karpaltunnelsyndrom (zum Untersuchungszeitpunkt ohne Relevanz für das Leistungsvermögen), degenerative Wirbelsäulenveränderungen (zum Untersuchungszeitpunkt ohne Reizsymptomatik) sowie bildmorphologisch nachgewiesene zerebrale Veränderungen (zum Untersuchungszeitpunkt ohne Symptomatik mit Relevanz für das Leistungsvermögen). Trotz dieser gesundheitlichen Beeinträchtigungen sei die Klägerin - so Dr. H. - noch in der Lage, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten sechs Stunden und mehr ohne Nachtschicht, ohne erhöhten Zeitdruck, in wechselnder Körperhaltung, ohne Ersteigen von Leitern sowie ohne Wirbelsäulenzwangshaltungen zu verrichten (M 23 der VA, S. 11 des Gutachtens).

Auf dieser Grundlage lehnte die Beklagte die beantragte Weitergewährung der Rente mit Bescheid vom 22.06.2011 (zwischen Bl. 116 und 117 VA) in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.08.2011 (Bl. 124 VA) ab.

Ihre am 31.08.2011 beim Sozialgericht Heilbronn erhobene Klage hat die Klägerin mit einer Verschlechterung ihres psychischen Gesundheitszustandes und einer Verschlechterung ihrer Beweglichkeit begründet. Das Sozialgericht hat vor diesem Hintergrund u.a. eine Begutachtung der Klägerin durch die Neurologin, Psychiaterin und Psychotherapeutin Dr. R. veranlasst (Bl. 56 ff. SG-Akte; nach Untersuchung im September 2012). Die Sachverständige hat auf nervenfachärztlichem Gebiet eine leichte depressive Episode sowie eine alte zerebrale Ischämie der rechten Kleinhirnhemisphäre ohne neurologische Ausfälle diagnostiziert (Bl. 79 SG-Akte). Angesichts dessen sei die Klägerin noch in der Lage, leichte Tätigkeiten mindestens sechs Stunden zu verrichten. Akkordarbeit, Nachtarbeit, Arbeiten unter besonderem Zeitdruck und Arbeiten mit besonderer Verantwortung seien ihr nicht mehr zuzumuten. Auch sollten besonders hohe Ansprüche an die Aufmerksamkeit und Konzentration gemieden werden. Mit Blick auf den Kleinhirninsult ohne neurologisches Defizit seien Arbeiten auf Leitern, Tätigkeiten mit einer erhöhten Absturzgefahr und an ungeschützten Maschinen zu vermeiden (Bl. 86 SG-Akte).

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Nervenarzt und Psychotherapeut Prof. Dr. R. ein Gutachten erstattet (Bl. 94 ff. SG-Akte; nach Untersuchung im Januar 2013). Er hat eine Anpassungsstörung mit depressiven und Angstsymptomen gemischt nach rezidivierender Krebserkrankung (2003 und 2004), anhaltende Schmerzstörungen mit somatischen und psychischen Faktoren sowie einen Zustand nach zerebraler Ischämie im Bereich der rechten Kleinhirnhemisphäre bei keinerlei objektivierbarer neurologischer Symptomatik diagnostiziert (Bl. 114 SG-Akte). Nach Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. R. sei die Klägerin nur mehr in der Lage, sowohl ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit als auch andere leichte körperliche Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zeitweise und begrenzt auf eine Halbtagstätigkeit (täglich vier Stunden) zu verrichten.

Mit Urteil vom 30.09.2013 hat das Sozialgericht Heilbronn die Klage - insbesondere gestützt auf das Gutachten der Sachverständigen Dr. R. - abgewiesen.

Gegen das am 02.12.2013 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 11.12.2013 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt und zur Begründung vorgetragen, ihr Gesundheitszustand habe sich - unter Berufung auf einen Befundbericht des Facharztes für Allgemeinmedizin, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. K. vom 20.01.2014 (Bl. 21 LSG-Akte) - psychiatrisch insoweit verschlechtert, als sie zwischenzeitlich zusätzlich an akustischen Halluzinationen in Form kommentierender und imperativer Stimmen leide.

Die Klägerin beantragt (sachdienlich gefasst),

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 30.09.2013 sowie den Bescheid vom 22.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.08.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung über den 31.08.2011 hinaus zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat ein weiteres neurologisch-psychiatrisches Gutachten bei Dr. B. veranlasst (Bl. 27 ff. LSG-Akte; nach Untersuchung im April 2014). Dr. B. hat folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: vielschichtige Persönlichkeitsakzentuierungen, Angst- und depressive Störung gemischt, Somatisierungsneigung; bei angeblich stattgehabtem "Schlaganfall" kein Anhalt für objektivierbare diesbezüglich überdauernde Funktionsstörung oder neurologisch erklärende Auffälligkeiten, Adipositas, Mamma-CA-Anamnese 2003/2004, angegebene Wirbelsäulen- und Gelenksbeschwerden, operierte Zehenfehlstellung rechts sowie Krallenzehenfehlstellung links (Bl. 64 ff. LSG-Akte). Nach der Einschätzung des Sachverständigen Dr. B. besteht bei der Klägerin noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten. Diese Tätigkeiten seien nur zu ebener Erde und nicht an unmittelbar gefährdenden Maschinen möglich; sie sollten ohne besonderen Zeitdruck, ohne regelmäßige nervöse Anspannung, ohne andere Stressfaktoren wie Nacht- oder Wechselschicht, ohne überdurchschnittlich fordernde soziale Interaktionen oder besondere Anforderungen auch an die Konfliktfähigkeit ausgeübt werden. Weiterhin sollten Tätigkeiten mit weit überdurchschnittlichen Anforderungen an den festen Stand ausgeschlossen bleiben (Bl. 68 LSG-Akte).

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

II.

Der Senat entscheidet über die nach den §§ 143, 144 SGG zulässige Berufung nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

Das Sozialgericht hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die hier von der Klägerin beanspruchte Rente dargelegt (§§ 43, 240 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - SGB VI) und ebenso zutreffend ausgeführt, dass die Klägerin die Voraussetzungen für eine solche Rente nicht erfüllt, weil sie weder voll noch teilweise erwerbsgemindert ist und auch keinen besonderen Berufsschutz genießt. Auch nach Überzeugung des Senats kann die Klägerin - gestützt auf die Gutachten des Dr. H. , der Dr. R. und des Dr. B. - zumindest leichte Tätigkeiten im Haltungswechsel und ohne Wirbelsäulenzwangshaltungen noch mindestens sechs Stunden täglich im Rahmen eine Fünf-Tage-Woche verrichten. Zu vermeiden sind Tätigkeiten an unmittelbar gefährdenden Maschinen, mit besonderem Zeitdruck (Akkordarbeit), mit regelmäßiger nervöser Anspannung, mit anderen Stressfaktoren wie Nacht- oder Wechselschicht sowie mit überdurchschnittlich fordernden sozialen Interaktionen oder besonderen Anforderungen auch an die Konfliktfähigkeit. Nicht mehr zuzumuten sind auch Arbeiten mit besonderer Verantwortung, mit besonders hohen Ansprüchen an die Aufmerksamkeit und Konzentration sowie - insbesondere mit Blick auf den Kleinhirninsult ohne neurologisches Defizit - Arbeiten auf Leitern, Tätigkeiten mit einer erhöhten Absturzgefahr, mit weit überdurchschnittlichen Anforderungen an den festen Stand sowie an ungeschützten Maschinen. Der Senat sieht deshalb gemäß § 153 Abs. 2 SGG insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück.

Soweit die Klägerin unter Berufung auf den Befundbericht des Facharztes für Allgemeinmedizin, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. K. vom 20.01.2014 (Bl. 21 LSG-Akte; identisch bereits als Befundbericht vom 24.09.2013 an das Sozialgericht übersandt, Bl. 134 SG-Akte) im Rahmen des Berufungsverfahrens eine Verschlechterung ihrer psychiatrischen Gesundheitsstörungen geltend macht, ist der Senat vom Vorliegen der dort beschriebenen Psychopathologie (akustische Halluzinationen in Form kommentierender und imperativer Stimmen) - angesichts der Ausführungen des Sachverständigen Dr. B. ("nicht nachvollziehbar", Bl. 72 LSG-Akte) - nicht überzeugt, zumal selbst Dr. K. von einer deutlichen Besserung der von ihm in diesem Zusammenhang diagnostizierten schizoaffektiven Psychose ausgegangen ist (Bl. 134 SG-Akte, Bl. 22 LSG-Akte).

Soweit der Sachverständige Prof. Dr. R. die Beeinträchtigung des Durchhaltevermögens (wegen chronischer Erschöpfung, akzentuierter Ermüdbarkeit, geklagter Schmerzen, vegetativer Symptome mit Schwindel und Schwächegefühl, verminderten Antriebs und totalen Motivationsverlusts, Bl. 115 SG-Akte) als Hauptgrund für die - aus seiner Sicht auch zeitlich - eingeschränkte Leistungsfähigkeit der Klägerin darstellt, hat sich dies bei der erneuten Untersuchung durch Dr. B. gerade nicht bestätigt. So hat sich die von der Klägerin subjektiv angenommene Antriebsschwäche oder Kraftlosigkeit bei der Begutachtung durch den Sachverständigen Dr. B. in keiner Weise gezeigt (Bl. 51 LSG-Akte). Deutlich ist dies beispielsweise daran geworden, dass er der Klägerin nach dreistündiger Untersuchung mit sehr dichter und ausführlicher gutachterlicher Anamneseerhebung eine Pause angeboten hat, die sie selbst aber - ausdrücklich - nicht für erforderlich gehalten hat (Bl. 52 LSG-Akte). Die Klägerin habe - so Dr. B. - überhaupt nicht etwa erschöpft oder ermüdet gewirkt und sei auch nicht in Eile gewesen (als Zeichen dafür, die anstrengende Untersuchung schnellstmöglich hinter sich zu bringen). Dem entsprechend hat Dr. B. auch im Bereich der neurologischen Diagnostik einen durchaus flotten Bewegungsablauf beobachtet und geschildert (Bl. 53 LSG-Akte). Auch im Rahmen des psychischen Befundes hat sich die Klägerin gegenüber Dr. B. bewusstseinsklar, sicher in allen Qualitäten orientiert und im Denken formal geordnet gezeigt. Bis zuletzt seien - so Dr. B. - in der insgesamt dreieinhalbstündigen Untersuchung Auffassung, Konzentration, Merkfähigkeit, Gedächtnis und Aufmerksamkeit ungestört geblieben. Dr. B. hat keinerlei Erschöpfung/Ermüdung - ungeachtet der subjektiven Beschwerdeschilderung - in der mehrstündigen - und zwangsläufig für jeden Probanden überdurchschnittlich anstrengenden - Untersuchungsprozedur beobachtet (Bl. 60 LSG-Akte). Vielmehr hat sich die Klägerin - vorgefasster Absicht folgend - nach der Untersuchung bei Dr. B. zusammen mit der sie begleitenden Freundin aufgemacht, die Innenstadt von Mannheim zu erkunden (Bl. 53 LSG-Akte).

Diese Beobachtungen durch Dr. B. decken sich auch mit denen der Sachverständigen Dr. R. , die die Klägerin im Rahmen des psychischen Befundes ebenfalls weder als teilnahmslos noch verlangsamt wahrgenommen hat. Auch damals ist die Klägerin - so Dr. R. - in ihrer Informationsaufnahme und -verarbeitung in keiner Weise eingeschränkt gewesen. Die Sachverständige hat während der gesamten Begutachtung keinerlei Bewusstseins-, Auffassungs-, Konzentrations- oder Merkstörungen beobachtet (Bl. 74 f. SG-Akte).

Nach Dr. B. liegt - entgegen der Befunderhebung durch Dr. K. (Bl. 21 f. LSG-Akte) - auch keine überdauernde, sozialmedizinisch richtungsweisende depressive Einengung vor (Bl. 60 LSG-Akte); ebenso zieht die - nach Dr. B. leichtgradig anklingende (Bl. 61 LSG-Akte) - Angstsymptomatik keine rentenrechtlich relevante Leistungsminderung nach sich. Dass aus der depressiven Symptomatik und der Angstsymptomatik keine quantitative Leistungseinschränkung folgt, zeigt sich deutlich an den Schilderungen des regelmäßigen Tagesablaufs der Klägerin gegenüber den Sachverständigen Dr. R. (Bl. 71 f. SG-Akte) und Dr. B. (Bl. 28 ff., 62 f. LSG-Akte). Beide Schilderungen über den Alltag der Klägerin enthalten keine psychisch oder körperlich begründeten Funktionsstörungen bzw. - bezüglich der Angstsymptomatik - richtungsweisende Vermeidungsverhalten, die auf quantitative Leistungseinschränkungen der Klägerin schließen lassen könnten. Vielmehr dokumentieren gerade die von Dr. B. stichwortartig dokumentierten Beschäftigungen der Klägerin einen von körperlichen und seelischen Funktionsstörungen weitgehend unbeeinträchtigten Alltag; auf die Darstellung Bl. 62 f. LSG-Akte wird Bezug genommen.

Nicht überzeugen kann in diesem Zusammenhang auch, dass nach Prof. Dr. R. "die möglichen Verdeutlichungstendenzen" der Klägerin "zu vernachlässigen" seien und von ihm pauschal mit den Persönlichkeitszügen der Klägerin erklärt werden (Bl. 113, 116 SG-Akte). Nachdem bereits der Gutachter Dr. H. auf eine Aggravation in der körperlichen Untersuchung und Anamneseerhebung hingewiesen hatte (M 23 der VA, S. 11 des Gutachtens), haben auch die Sachverständigen Dr. R. ("Deutlich wurde die Aggravation", Bl. 74 SG-Akte) und insbesondere Dr. B. darauf hingewiesen, dass deutliche Diskrepanzen zwischen Befinden und Befund festzumachen gewesen sind (Bl. 60 LSG-Akte). An anderer Stelle spricht Dr. B. sogar von einer "krassen Diskrepanz" zwischen den geklagten Beschwerden der Klägerin und ihrem tatsächlich beobachteten Verhalten (Bl. 43 f. LSG-Akte). Angesichts dieser Aspekte teilt der Senat auch die Einwände des Dr. Neumann, der als Beratungsarzt der Beklagten das Gutachten des Prof. Dr. R. als inkonsistent bezeichnet hat, da es sich vor allem auf subjektive Beschwerdeangaben der Klägerin stütze (Bl. 121 SG-Akte), ohne diese durch eigene Beobachtungen und kritisches Hinterfragen zu objektivieren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved