S 12 SB 894/13

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 12 SB 894/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) streitig.

Der Beklagte stellte bei der Klägerin mit Bescheid vom 06.12.2011 aufgrund einer seelischen Behinderung mit Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, einer Funktionseinschränkung der Wirbelsäule, einer Funktionseinschränkung der Verdauungsorgane und einer Funktionsbeeinträchtigung der Atemorgane, einen GdB von 60 fest.

Am 06.02.2013 stellte die Klägerin einen Änderungsantrag beim Beklagten und begehrte neben einem höheren GdB die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G und aG. Zur Begründung gab sie an, es seien in der Zwischenzeit viele weitere Erkrankungen bei ihr aufgetreten. Einzelheiten könne der Beklagte von den behandelnden Ärzten erfahren.

Der Beklagte holte daraufhin einen Befundbericht der Internistin Dr. H, des Orthopäden Dr. Q, der HNO-Ärztin Dr. M, der Neurologin und Psychiaterin Dr. J, des Schmerztherapeuten Dr. K sowie des Urologen Dr. O ein und werte diese zusammen mit Arztberichten des Städtischen Krankenhauses O GmbH, des Chirurgen Dr. U, des Krankenhauses E gGmbH, des Chirurgen Dr. O1, des Radiologen Dr. N, des Chirurgen Dr. G, der radiologischen und nuklearmedizinischen Gemeinschaftspraxis E1, des St.-Elisabeth Krankenhauses K, des St.-Marien Hospitals E2, der Klinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde des Krankenhauses Maria-Hilf N, des Labormediziners Dr. S sowie des Internisten S1 durch seinen ärztlichen Dienst aus.

Dieser kam zu der Einschätzung der GdB für die seelische Behinderung bei Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen sowie Fibromyalgiesyndrom sei mit 40, die Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule ebenfalls mit 40, die Funktionsstörung der Verdauungsorgane mit 20, die Funktionsbeeinträchtigung der Atemorgane mit 10, die Funktionsstörung der oberen Gliedmaßen mit 10, die Hörminderung nebst Tinnitus mit 10 sowie die Blasenentleerungsstörung ebenfalls mit 10 zu bewerten. Die Klägerin vorliegende Schilddrüsenerkrankungen bedinge keinen GdB. Insgesamt sei der GdB weiterhin mit 60 zu bewerten. Das vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G oder aG sei nicht zu begründen.

Mit Bescheid vom 03.05.2013 lehnte der Beklagte darauf hin die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G und aG ab.

Hiergegen legte die Klägerin am 16.05.2013 Widerspruch mit der Begründung ein, sie leide unter orthopädischen Beeinträchtigungen, die sich nachteilig auf ihre Gehfähigkeit auswirken. Auch die bei ihr diagnostizierte Fibromyalgie wirke sich erheblich einschränkend auf die Gehfähigkeit aus. Nach erneuter Prüfung der Unterlagen kam der medizinische Dienst des Beklagten zu der Einschätzung, ein höherer Grad der Behinderung komme nicht in Betracht, ebenso wenig wie die Feststellung der Merkzeichen G oder aG.

Im Juli 2013 wandte sich die Klägerin an den Beklagten und vertrat die Auffassung, dieser habe nicht ordnungsgemäß ermittelt bzw. die bei ihr vorliegenden Beeinträchtigungen nicht zutreffend gewürdigt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 08.08.2013 wies die Bezirksregierung Münster den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück.

Am 20.08.2013 hat die, anwaltlich vertretene, Klägerin Klage erhoben und beantragt den Grad der Behinderung mit 70 festzustellen. Die Klägerin hat im Rahmen des Klageverfahrens ein umfangreiches Konvolut medizinischer Unterlagen – teilweise in die 1990er Jahre zurückreichend – zu den Akten gereicht.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten der Frau Dr. H, des Herrn Dr. Q, der Frau Dr. M sowie der Frau Dr. I und darüber hinaus ein internistisch-rheumatologisch- psychosomatisches Gutachtern des Herrn L eingeholt, welches dieser unter Berücksichtigung der Ergebnisse einer ambulanten Untersuchung der Klägerin am 03.02.2014, gegenüber dem Gericht erstattet hat. Dem Gutachter haben hierbei die vollständige Gerichtsakte, die vollständige Verwaltungsakte sowie die Verfahrensakte S 15 P 101/02 vorgelegen.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 03.05.2013 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 08.08.2013 zu verurteilen, ihr einen GdB von 70 zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wiederholt und vertieft er das Vorbringen aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren und beruft sich überdies auf die Feststellungen seiner medizinischen Beraterin im Gerichtsverfahren sowie das Ergebnis des gerichtlichen Gutachtens.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte sowie die Gerichtsakte und die Verfahrensakte S 15 P 101/12, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG nicht beschwert, da die angefochtenen Bescheide rechtmäßig sind. Der Klägerin steht derzeit kein höherer GdB als 60 zu.

Nach § 2 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion oder geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird nach § 69 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

Die Bemessung des Gesamt-GdB hat dabei in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tatrichterliche Aufgabe (Bundessozialgericht - BSG - Beschluss vom 09.12.2010 - B 9 SB 35/10 B = juris Rn. 5 m.w.N.; Landessozialgericht - LSG - Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).

Zunächst sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. Sodann sind diese den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-GdB zu bilden (BSG Urteil vom 30.09.2009 - B 9 SB 4/08 R = juris Rn. 18 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).

Nach Teil A Ziffer 3 der Anlage zu § 2 der aufgrund § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008, S. 2412 - Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008 (Versorgungsmedizinische Grundsätze), die wegen § 69 Abs. 1, Satz 4 SGB IX auch im Schwerbehindertenrecht zur Anwendung kommt, sind zur Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzelgrade der Behinderung, nicht zulässig. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad der Behinderung bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei ist gemäß Teil A Ziffer 3 lit. d) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu beachten, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit einem Einzelgrad der Behinderung von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung führen, selbst wenn mehrere dieser leichteren Behinderungen kumulativ nebeneinander vorliegen. Auch bei Leiden mit einem Einzelgrad der Behinderung von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung zu schließen.

Schließlich sind bei der Festlegung des Gesamt-GdB zudem die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen feste GdB-Werte angegeben sind (BSG Urteil vom 02.12.2010 -B 9 SB 4/10 R = juris Rn. 25; vgl. auch Teil A Ziffer 3 lit. b) Versorgungsmedizinische Grundsätze).

Die Klägerin leidet zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Wesentlichen unter

(1.) Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule (2.) Funktionsbeeinträchtigungen der oberen Extremitäten (3.) Funktionsbeeinträchtigungen der unteren Extremitäten (4) Funktionsbeeinträchtigung der Hörorgane (5.) Funktionsbeeinträchtigung der Atemorgane (6.) Funktionsbeeinträchtigungen der Verdauungsorgane (7.) Entleerungsstörung der Blase (8.) Seelischen Funktionsstörungen

Das Vorliegen dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen steht nach Auffassung der Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Klageverfahren vorgelegten und eingeholten Befund- und Arztberichte sowie dem Gutachten des Herrn Kohl fest.

Das Gutachten beruht auf umfangreichen Untersuchungen, die von einem erfahrenen medizinischen Gutachter unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit der in dem Gutachten erhobenen medizinischen Befunde und gestellten Diagnosen zu zweifeln. Die Beteiligten haben auch keine substantiierten Einwände gegen die medizinischen Feststellungen erhoben. Soweit die Klägerin sinngemäß gegenüber dem Gericht erklärt hat, es seien die vorhandenen medizinischen Unterlagen nicht hinreichend berücksichtigt worden, bzw. es hätten noch weitere Ermittlungen durchgeführt werden müssen, ist diese Ansicht nach Auffassung der Kammer unzutreffend. Objektiv sind die bei der Klägerin vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen, es geht hierbei um diejenigen für den Zeitraum bis zur letzten mündlichen Verhandlung, hinreichend ermittelt und zutreffend bewertet worden. Soweit die Klägerin - trotz der umfangreichen durchgeführten Ermittlungen und vorgelegten Berichte – subjektiv der Auffassung ist der Gutachter und das Gericht verkennten ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen, teilt die Kammer diese Ansicht unter Verweis auf die zahlreichen vorliegenden Unterlagen und das lege artis erstellte und schlüssige Gutachten des Herrn Kohl, der ebendiese Unterlagen ebenfalls berücksichtigt hat, nicht.

1. Für das Funktionssystem der Wirbelsäule sind zunächst die Auswirkungen des bei der Klägerin vorliegenden statisch degenerativen Wirbelsäulen-Syndroms zu berücksichtigen. Der behandelnde Orthopäde Dr. Q führte aus, dass die Klägerin seit 1996 über Schmerzen im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule klagt und seit dieser Zeit immer wieder wegen rezidivierender Wirbelsäulenbeschwerden vorstellig wird. Er diagnostiziert eine rezidivierende Blockierung im Bereich der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule bei degenerativen Veränderungen im Bereich der gesamten Wirbelsäule. Daneben beschreibt er in seinem Befundbericht - worauf im Zusammenhang mit dem jeweilig betroffenen Funktionssystem noch einzugehen sein wird - ein Carpalunnelsyndrom beidseits, einen Zustand nach Arthroskopie der linken Schulter im Januar 2012 und arthroskopischer Rotatorenmanschetten-Rekonstruktion der linken Schulter im Mai 2012 (dazu unter 2.), eine sog. Fibromyalgie sowie eine schwere Belastungsstörung (dazu unter 8.). Im Rahmen der Untersuchung durch Herrn L erklärte die Klägerin, sie habe Nackenschmerzen und in der Halswirbelsäule würde es "krachen". Sie können nicht lange laufen. Wenn sie zuhause staubsauge habe sie Schmerzen in der Lendenwirbelsäule. Da müssen Sie sich immer wieder hinlegen. Wenn sie länger als 25 Minuten laufe, fange alles an. Sie habe auch Nervenstiche in den Beinen, nicht im Liegen, nur bei Belastung habe sie diese Rückenbeschwerden. Bei der Massage würde ihr erklärt, dass sie "alles verklebt" und "überall Blockaden" habe. Insgesamt sei eine zunehmende Verschlimmerung im Bereich der Halswirbelsäule zu verzeichnen. Hier sei "vor Ewigkeiten" ein Vorfall der Bandscheibe festgestellt worden. Sie habe überall Blockaden, da würde "alles festhängen". Sie sei auch unzählige Male eingerenkt worden, dabei habe sie auch einen Hirnschlag erlitten. Im Bereich der Lendenwirbelsäule habe sie seitlich in 2011 einen Wirbelbruch sowie einen Wirbelkantenbruch erlitten. Dies blockiere alles. Sie habe zudem ein Hohlkreuz. Sie hätte auch Nervenschmerzen. Ihre Beine seien untersucht worden, die Venen. Da sei aber nichts zu erkennen. Sie habe einen Gleitwirbel L4/L5, bezüglich dessen die Ärzte in Bardenberg erklärt hätten, dies sei ein "Phantomschmerz". Im Juni 2011 sie ein Steißbeinbruch gehabt, der letzte Knochen sei gebrochen.

Im Rahmen der Untersuchung stellte der Gutachter L fest, dass die Klägerin einen weitgehend unauffälligen Gang und eine aufrechte Körperhaltung zeigte. Die Koordination war nicht gestört. Tonus und Trophik der Arme und Beine war regelgerecht. Im Bereich der Außenseite des linken Oberschenkels sowie des linken Unterschenkels fand sich ein hyposensibler Bereich. Die Wirbelsäule selbst zeigt eine etwas betonte Brustkyphose. Die Beweglichkeit im Bereich der Halswirbelsäule zeigte sich um ein Drittel eingeschränkt, wobei endgradig Beschwerden angegeben wurden. Die umgebende Muskulatur im Nacken Schulterbereich war druckdolent und verspannt. Auch im Bereich der Lendenwirbelsäule zeigt sich eine konzentrisch um ein Drittel eingeschränkte Beweglichkeit. Auch hier war die Muskulatur verspannt und druckschmerzhaft. Die Brustwirbelsäule war altersentsprechend ausreichend beweglich. Der ermittelte Finger-Boden-Abstand betrug 25 cm, das Maß nach Schober – welches ein Maß für die Entfaltbarkeit der Lendenwirbelsäule darstellt - betrug 10/13 cm. Das Maß Kinn/Sternum (Brustbein), welches die Beweglichkeit der Halswirbelsäule nach vorne angibt, betrug 2/16 cm, das Maß Kinn/Acromion (Schulterblatt), welches die seitliche Beweglichkeit anzeigt, betrug beidseits 13 cm. Das Zeichen nach Flèche (Hinterhaupt–Wand–Abstand) betrug 0 cm. Das Zeichen nach Lasègue war beidseits negativ.

Unter Berücksichtigung der ermittelten Bewegungsausmaße unter Zugrundelegung auch der zahlreich vorliegenden ärztlichen Befunde und Untersuchungsergebnissen sowie der Tatsache, dass mit Ausnahme eines hyposensiblen Bereichs an des Ober- und Unterschenkels, der auf eine Läsion der Wurzel im Bereich L5/S1 schließen lässt, neurologische Einschränkungen, insbesondere motorische Ausfälle, nicht gesichert werden konnten, ist bei der Klägerin vom Vorliegen mittelgradiger funktioneller Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten auszugehen. Gemäß Teil B Ziffer 18.9 der Versorgungsmedizinische Grundsätze ist hierfür ein GdB von 30 bis 40 vorgesehen. Die Kammer geht mit dem Gutachter davon aus, dass bei der Klägerin unter den gegebenen Umständen, weiterhin für den Bereich der Wirbelsäule ein GdB von 40 in Ansatz gebracht werden kann, wobei dieser – auch unter Berücksichtigung der von der Klägerin geschilderten Schmerzproblematik – nur so gerade eben erreicht wird.

2. Für das Funktionssystem der oberen Extremitäten sind bei der Klägerin zunächst die Beeinträchtigungen beider Schultergelenke zu berücksichtigen. Im Jahr 2012 wurde - wie sich auch aus dem Befundbericht des behandelnden Orthopäden Dr. Q ergibt - ein kompletter Rotatorenmanschettenschaden rechts im antero-lateralen Intervall sowie eine Instabilität der langen Bizepssehne festgestellt. Hier wurden eine Tenodese der langen Bizepssehne (Befestigung der Sehne am Knochen) sowie eine Rotatorenmanschetten-Rekonstruktion vorgenommen. Gegenüber Herrn L gab die Klägerin an, sie habe Beschwerden in den Armen und könne diese nicht mehr richtig bewegen. Sowohl ihre Schultern als auch ihre Finger würden schmerzen. Im Bereich der Schultern sei 2011 Kalk wegoperiert worden. Im Schultergelenk stünden "die Knochen aufeinander". Sie habe einen Bizepssehnenteilanriss rechts gehabt, linksseitig sei sie ganz gerissen. Hier sei sie auch operiert worden. Ebenfalls sein Operationen wegen eines beidseitigen Carpaltunnelsyndroms erforderlich gewesen.

Im Rahmen der körperlichen Untersuchung beschrieb der Gutachter die oberen Extremitäten als inspektorisch unauffällig. Eine wesentliche Längendifferenz war nicht festzustellen. Die Umfänge im Bereich der Ober- und Unterarme waren seitengleich. Zeichen von wesentlicher Atrophie fanden sich nicht. Im Bereich der rechten und linken Schulter sowie des rechten linken Handgelenks fanden sich reizlose Narben nach Operation. Der Tonus und die Trophik der Arme waren regelgerecht. Die Muskeleigenreflexe zeigten allseits lebhafte seitengleiche Reaktion, pathologische Reflexe bestanden nicht. Die grobe Kraft war nicht wesentlich gemindert und seitengleich. Konkret im Bereich der Schultergelenke fand sich keine Deformierung, keine Schwellung keine Überwärmung. Die aktive und passive Beweglichkeit war altersentsprechend ausreichend und schmerzfrei möglich. Der Nacken- und Schürzengriff waren beidseits möglich. Aufgrund der eigenen erhobenen Untersuchungsbefunde, unter Berücksichtigung der auch insoweit vorliegenden zahlreichen Vorbefunde, kam der Gutachter zu der Einschätzung, dass bei der Klägerin in beiden Schultergelenken eine Periarthritis humeroscapularis vorliegt, dass aber die in diesem Bereich durchgeführten operativen Interventionen sehr erfolgreich gewesen waren. Bei einem insgesamt hypermobilen Gelenksstatus war die Beweglichkeit beider Schultergelenke bei der Untersuchung ausreichend und umfassten das volle Ausmaß. Gemäß Teil B Ziffer 18.13 sei daher für die Schultern ein GdB von 10 in Ansatz zu bringen. Die Kammer schließt sich nach eigener Prüfung dieser Auffassung an. Daneben ist im Bereich der Hände eine initiale Polyarthrose der Fingergelenke, eine Ruptur der Beugesehne im V. Strahl sowie ein Zustand nach beidseitiger Carpaltunnel-Syndrom-Operation zu berücksichtigen. Bei der körperlichen Untersuchung zeigten sich im Bereich der Handgelenke keine Schwellung, keine Deformierung, keine Überwärmung. Die Handgelenke waren aktiv und passiv schmerzfrei altersentsprechend ausreichend beweglich. Im Bereich der Finger zeigten sich beginnende knotige Auftreibungen der Fingermittel- und Fingerendgelenke im Sinne einer beginnenden Fingergelenkspolyarthrose. Im Bereich des linken V.Strahls im Endglied war die Beugung wegen einer traumatisch bedingten Ruptur nicht möglich. Ansonsten waren sämtliche Fingergelenke aktiv und passiv altersentsprechend ausreichend schmerzfrei beweglich. Die Griffkraft war beidseits gleich und altersentsprechend unauffällig. Fingerspitzgriff und Faustschluss waren beidseits komplett. Gemäß Teil B Ziffer 18.13. der Versorgungsmedizinische Grundsätze ist mit dem Gutachter - unter Berücksichtigung der von der Klägerin geschilderten morgendlichen Steifigkeit - von einem GdB von höchstens 10 auszugehen. Unter Berücksichtigung dieser Beeinträchtigungen ist für Funktionssystem der oberen Gliedmaße insgesamt ein GdB von 10 in Ansatz zu bringen.

3. Für das Funktionssystem der unteren Gliedmaße können die anamnestisch von der Klägerin angegebenen Beschwerden in den Knien berücksichtigt werden. Hier finden sich etwa in dem Arztbericht des Herrn S aus Dezember 2012 Hinweise auf ein Reiben im Bereich der Kniescheibe. Gegenüber Frau Dr. I gab die Klägerin 2013 an, sie leide unter Unruhe in beiden Beinen. Frau Dr. I diagnostizierte daraufhin ein sog. "Restless-legs-Syndrom", welches – nach dem Befundbericht der Frau Dr. M – mit Schlafstörungen einhergehe. Insgesamt werden von den behandelnden Ärzten nähere körperliche Beeinträchtigungen nicht beschrieben. Auch bei der Untersuchung durch Herrn L fanden sich keine Anhaltspunkte für das Vorliegen wesentlicher Beeinträchtigungen im Bereich der unteren Extremitäten. Die unteren Extremitäten waren inspektorisch unauffällig, die Umfänge im Bereich der Ober- und Unterschenkel seitengleich. Zeichen von wesentlicher Atrophie fanden sich nicht. Tonus und Trophik der Beine waren regelgerecht. Die Muskeleigenreflexe zeigten eine allseits lebhafte seitengleiche Reaktion. Pathologische Reflexe fanden sich nicht. Hacken- und Zehenstand waren beidseits gut ausführbar. Der Einbeinstand wurde beidseits sicher ausgeführt. Die Klägerin konnte unter Abstürzen in die tiefe Hocke gehen und sich hieraus wieder aufrichten. Die Kontrolle der Beweglichkeit der Hüftgelenke zeigte eine altersentsprechend aktiv und passiv ausreichend freie Beweglichkeit. Die Klägerin klagte über einen Druckschmerz am Trochanter major. Im Bereich der Hüftgelenke sowie der Kniegelenke fanden sich keine Schwellung, keine Deformierung und keine Überwärmung. Beide Kniegelenke waren altersentsprechend schmerzfrei aktiv und passiv ausreichend beweglich. Das Zohlen’sche Zeichen war beidseits negativ. Wesentliche Gelenkgeräusche waren nicht zu vernehmen. Die Bänder waren insgesamt stabil. Es fand sich lediglich eine Druckschmerzhaftigkeit am Kniegelenkinnenspalt. Die Sprunggelenke und Zehengelenke waren ebenfalls weitgehend unauffällig. Es zeigte sich lediglich ein mäßiger Senk-Spreiz-Fuß. Der Gang der Klägerin wurde vom Gutachter als weitgehend unauffällig beschrieben. Ein Tremor fand sich nicht.

Da die Klägerin sich in der Vergangenheit immer wieder auch wegen Beeinträchtigungen im Bereich der unteren Extremitäten in ärztliche Behandlung begeben hat, ist nach Auffassung der Kammer, trotz der Tatsache, dass im Rahmen der Untersuchung wesentliche Beeinträchtigungen nicht feststellbar waren, für das Funktionssystem der unteren Extremitäten gemäß Teil B Ziffer 18.14 der versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von 10 in Ansatz zu bringen.

Unter Berücksichtigung der sorgfältig erhobenen Feststellungen des Gutachters Kohl sowie der eingeholten sowie vorgelegten ärztlichen Unterlagen der behandelnden Orthopäden der Klägerin war die Einholung eines weiteren Gutachtens auf orthopädischem Gebiet von Amts wegen nicht geboten.

4. Für das Funktionssystem der Ohren ist bei der Klägerin entsprechend dem Befundbericht der HNO-Ärztin Dr. M zum einen der chronische Tinnitus sowie zum andere eine geringgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit beidseits im Hochtonbereich zu berücksichtigen. Unter Berücksichtigung des vorliegenden Ergebnisses der Audiometrie sowie des Eindrucks des Hörvermögens der Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung ist hierfür insgesamt gemäß Teil B Ziffer 5.2 und 5.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von 10 in Ansatz zu bringen. Soweit das chronische Ohrgeräusch eine psychische Beeinträchtigung nach sich zieht, ist dies im Rahmen des Funktionssystems der Psyche (dazu unter 8.) entsprechend zu bewerten.

5. Für das Funktionssystem der Atmungsorgane ist bei der Klägerin eine bestehende allergische Neigung, die saisonal zu einer Hyperreagibilität führt und zum Teil auch Asthmaanfälle provoziert, zu berücksichtigen. Insoweit ist insbesondere auf die Feststellungen der HNO- Ärztin Dr. M zurückzugreifen, die bei der Klägerin eine hochgradig allergische Rhinopathie mit Beteiligung der Konjunktiva, ein Asthma bronchiale sowie eine Allergie auf Schimmelpilzsporen, Hausstaubmilben, Pollen und kreuzallergene Nahrungsmittel diagnostiziert hat. Im Rahmen einer durchgeführten Hyposensibilisierung haben sich nach Feststellungen der behandelnden HNO Ärztin die allergischen Beschwerden leicht verbessert. Die Klägerin hat eine Bedarfsmedikation mit einem Betasympathometicum und einem Cortisonspray. Im Rahmen der beim Gutachter L durchgeführten Lungenfunktionsprüfung zeigte sich bei der Klägerin insgesamt eine normale ventilatorische Funktion. Insgesamt ist nach Auffassung der Kammer - in Übereinstimmung mit den Feststellungen des Gutachters – vor dem Hintergrund von Umfang und Dauer der Beeinträchtigungen insoweit gemäß Teil B Ziffer 8.5 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze der GdB mit 10 festzusetzen.

6. Für das Funktionssystem der Verdauungsorgane sind bei der Klägerin zum einen die Auswirkungen einer seit Jahren bekannten Divertikulose zu berücksichtigen, die in der Vergangenheit aufgrund einer seinerzeit vorhandenen Entzündung stationär behandelt werden musste. Darüber hinaus ist bei der Klägerin ein Gallensteinleiden bekannt, welches bislang indes bis jetzt zu keinen objektivierten Gallenblasenkoliken geführt hat. Daneben sind bei der Klägerin auch Beschwerden aufgrund mehrfacher Verwachsungslösungen (Briden) beschrieben sowie das Bestehen einer Refluxsymptomatik, aufgrund derer die Klägerin regelmäßig ein Medikament einnimmt. Im Rahmen der Untersuchung zeigte sich ein weicher, nicht druckschmerzhafter Bauchraum ohne Abwehrspannung und einer regen Peristaltik. Unter Berücksichtigung von Teil B Ziffer 10.1 und 10.2.2 ist bei der Klägerin in der Gesamtbetrachtung ein GdB von 20 angemessen.

7. Die Klägerin gibt an, unter einer Blasenentleerungsstörung zu leiden, welches nur durch eine entsprechende Medikation zu behandeln sei. Sie erhält den Wirkstoff Oxybutynin. Besondere Nebenwirkungen der Medikation sind nicht objektiviert. Die Funktionsstörung selbst wird hierdurch nach Angabe der Klägerin indes völlig behoben. Gemäß Teil B Ziffer 12.2.2 der Versorgungsmedizinische Grundsätze ist mit dem Gutachter Kohl davon auszugehen, dass ein GdB von 10 für das Funktionssystem der Harnorgane schon wohlwollend ist.

8. Schließlich leidet die Klägerin unter Beeinträchtigungen der Psyche. Die sie behandelnde Neurologin und Psychiaterin Dr. I diagnostiziert in ihrem Befundbericht der Klägerin eine leichtgradige, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sowie eine kombinierte und sonstige Persönlichkeitsstörung. Eine entsprechende Diagnose stellt auch der Gutachter L, wobei dieser eine wesentliche depressive Symptomatik bei der Klägerin im Zeitpunkt der Begutachtung nicht feststellen konnte. Hinsichtlich der Depression ist freilich zu berücksichtigen, dass die Klägerin in der Vergangenheit – dies zeigen die vorliegenden Arzt und Befundberichte – teilweise auch unter stärkeren depressiven Episoden litt. So befand sie sich etwa 2009 mit einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome in stationärer Behandlung der Rheinischen Kliniken E.

Soweit in der Vergangenheit bei der Klägerin die Diagnose einer Fibromyalgie gestellt wurde, geht diese in der Feststellung der chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren auf. Die Diagnose eines "Fibromyalgie- Syndrom" wird – ausgehend von den 1990 veröffentlichten – und 2010 modifizierten - Kriterien der American College of Rheumatology (ACR) - dann gestellt, wenn die Betroffenen über einen Zeitraum von mindestens drei (teilweise sechs) Monaten ausgedehnte chronische Schmerzen an Muskeln und Sehnen in bestimmten Regionen oder Punkten (ursprünglich war die Schmerzhaftigkeit 11 von 18 typischer sog. "Tender points" gefordert), insbesondere im Bereich der Schultern und des Beckens aber auch des übrigen Bewegungsapparat, klagen, ohne dass andere Ursachen oder Erkrankungen, die diese erklären könnten, beispielweise entsprechende Entzündungszeichen, zu finden wären (vgl. dazu etwa Jaggi, Burnout-praxisnah, 2008, S. 12; Häuser, in: Baron et al. [Hrsg.], Praktische Schmerzmedizin, 2013, S. 423 ff.; kritisch zu den – von ihm seinerzeit mit aufgestellten Kriterien der ACR, Wolfe, Stop using the American College of Rheumatology criteria in the clinic, JRheumatol 2003, S. 1671-1672, abrufbar unter http://www.jrheum.org/content/30/8/1671.full.pdf). Die Betroffenen klagen häufig zudem über eine Vielzahl funktioneller, vegetativer und psychischer Beschwerden, wie schnelle Ermüdbarkeit, Abnahme der Muskelkraft, Kälteempfindlichkeit, Spannungsgefühl im Bereich der Gelenke, Atem- und Herzbeschwerden, Schwindel oder Schlafstörungen (vgl. Heisel/Jerosch, Schmerztherapie der Haltungs- und Bewegungsorgane, S. 346). Ätiologie und Pathogenese der Erkrankung sind derzeit unbekannt. Während teilweise von einem somatischen Hintergrund ausgegangen wird - nach ICD 10 wird die Fibromyalgie als sonstige Erkrankung des Weichteilgewebes unter M 79.7 verschlüsselt - handelt es sich derzeit wohl herrschender Lehrmeinung um ein psychisch bedingtes, somatoformes Schmerzsyndrom (Schreiber, in: Köhler, Fibromyalgie – Ursachen und Therapie einer chronischen Schmerzerkrankung, S. 9; Wolfe, et. al, Symptoms, the Nature of Fibromyalgia, and Diagnostic and Statistical Manual 5 (DSM-5) Defined Mental Illness in Patients with Rheumatoid Arthritis and Fibromyalgia, abrufbar unter: http://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0088740; vgl. auch Dohrenbusch, Begutachtung somatoformer Störungen und chronifizierter Schmerzen, 2007, S. 348, wonach "Fibromyalgie" ein "rheumatologische Klassifikationsansatz" für Patienten mit chronischen, nicht weiter erklärbaren Schmerzen bei erhöhter Schmerzempfindlichkeit, ist). Auch der gerichtlich bestellte Gutachter versteht die diagnostizierte Fibromyalgie als chronische Schmerzerkrankung. Nach Auffassung der Kammer sind die Auswirkungen der Fibromyalgie entsprechend den Vorgaben für somatoforme Schmerzstörungen gemäß Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu bewerten (so schon Sozialgericht – SG – Aachen, Urteil vom 29.04.2014 – S 12 SB 1155/13 = juris). Vor diesem Hintergrund trifft die Annahme der Klägerin, der Gutachter habe die Fibromyalgie "im Endeffekt als Erkrankung nicht anerkannt" nicht zu. Er hat sich nach Auffassung der Kammer lediglich in den richtigen Kontext gestellt.

Unabhängig von den medizinischen Fragestellungen der Einordnung der Fibromyalgie ist im Rahmen des Schwerbehindertenrechts im Übrigen die konkrete Klassifizierung letztlich unerheblich. Es geht nicht um die Diagnosen, sondern um die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Bei der Klägerin sind dies die bereits oben beschriebenen körperlichen Beschwerden, sowie – ebenfalls im wesentlichen Umfang – die psychischen Beeinträchtigungen.

Im Rahmen der Begutachtung durch Herrn L, sowie auch während der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht, wurde bei der Schilderung der bei der Klägerin vorliegenden Symptomatik deutlich, dass sie sehr stark auf körperliche Beschwerden fokussiert ist. Herr L führt aus dass bei dieser Schilderung die körperlichen Beschwerden im Rahmen einer Schmerzverarbeitungsstörung mit affektiver Attributtierung und dysfunktionaler Konnotation vorgetragen werden. Von der Stimmung her wirkte sie bei der Begutachtung etwas verzagt sowie verärgert und zeigte sich sehr darauf bedacht, ihre Vorstellungen durchzusetzen, wobei es ihr offensichtlich schwer fiel, mit all den für sie wohl zum Teil unbekannten Formulierungen und Beschreibungen von Krankheiten, eine gewisse Ordnung in das System ihrer Krankheiten, Befindlichkeitsstörungen und Einschränkungen zu finden. Hierbei erschien es dem Gutachter, dass sie sich sehr benachteiligt, ungerecht behandelt und nicht verstanden fühlt. Einen entsprechenden Eindruck vermittelte die Klägerin nach Auffassung der Kammer auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung. Anamnestischen gab die Klägerin an, dass sie in ärmlichen Verhältnissen mit sechs Geschwistern groß geworden sei. Die Kindheit sei aber sehr schön gewesen. Ihre seelischen –und auch teilweise körperlichen – Beeinträchtigungen führt die Klägerin auf ihre Ehe von 1982 bis 1994 zurück, die von Alkohol, Lieblosigkeit und Entwertung ihr gegenüber geprägt gewesen sei. Aus dieser Ehe habe sie sich aber befreien können. Hinsichtlich ihres sozialen Aktivitätsniveaus führte die Klägerin gegenüber dem Gutachter aus, dass sie allein mit ihrem Hund in einer Wohnung lebe. Sie würde häufig ihre Zeit "totschlagen", würde gern wieder mehr machen, aber es gehe weder Reiten noch Tanzen und vieles andere auch nicht. Sie führe ihren Haushalt alleine und besuche mal Ihre Brüder und Schwestern, die alle in der Nähe wohnen. Hierzu benutzte sie auch das Auto. Auch zu Untersuchung kam die Klägerin mit dem Auto. Sie fahre allerdings nicht gerne im Dunkeln. Sie habe einen Freundeskreis und würde kein zurückgezogenes Leben führen. Sie sei sehr gesellig. Wenn im Dorf ein Fest sei, gehe sie – auch mit Freunden - hin. Sie gehe einmal in der Woche eine Stunde zum Funktionstraining und ein Stunde zum Reha-Sport. Zu ihrem Sohn habe sie einen sehr guten Kontakt. Sie fahre auch - wenngleich nicht regelmäßig - in Urlaub. Dieses Jahr sei sie für drei Wochen - von Freunden eingeladen - in Spanien. Aufgrund des vorhandenen Tinnitus gibt die Klägerin an, dass er sie am Einschlafen hindert. Insgesamt leidet die Klägerin unter Schlafstörungen, wie auch von der HNO-Ärztin Dr. M beschrieben wird.

Unter Berücksichtigung dieser Feststellungen kann bei der Klägerin – insbesondere durch die Tatsache, dass ein Großteil ihres Denkens und Handelns durch die Fokussierung auf ihren Gesundheitszustand bestimmt ist - durchaus schon von wesentlichen Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit ausgegangen werden, so dass gemäß Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein Bewertungsspielraum von 30 bis 40 eröffnet ist. Betrachtet man das von der Klägerin geschilderte – und oben dargelegte – Sozial- und Aktivitätsniveau so steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass mit dem Gutachter die Bewertung mit einem GdB von gerade eben 40 der Klägerin gerecht wird. Das Vorliegen von dauerhaften schweren Störungen, mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, ist bei der Klägerin bislang nicht objektiviert, so dass ein GdB von 50 für den Bereich der Psyche keinesfalls in Betracht kommt.

Weitere bei der Klägerin vorliegende gesundheitliche Beeinträchtigungen bedingen keinen GdB.

Vor diesem Hintergrund ist bei der Klägerin für den streitbefangenen Zeitraum nach § 69 Abs. 3 SGB IX in Verbindung mit Teil A Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein weiterhin ein Gesamt-GdB von 60 zu bilden.

§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX schreibt vor, bei Vorliegen mehrerer Teilhabebeeinträchtigungen den Grad der Behinderungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-GdB ergibt sich dabei aus der Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen. Er ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 42 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 9/97 R = juris Rn. 10 m.w.N.). Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R = juris).

Im vorliegenden Fall sind zum einen die Beeinträchtigungen der Psyche sowie der der Wirbelsäule, die beide einen GdB von soeben 40 bedingen, zu berücksichtigen. Die hier bestehenden Beeinträchtigungen haben erhebliche Überschneidungen, wurde doch schon der GdB von 40 für die Wirbelsäule nur deshalb in Vorschlag gebracht, weil sich auch dort bereits die Schmerzstörung, sowie das "Fokussiert-sein" der Klägerin auf ihren Gesundheitszustand, berücksichtigt wurde. Auch hinsichtlich der übrigen Beeinträchtigungen bestehen insoweit erhebliche Überschneidungen mit den Beeinträchtigungen der Psyche. Hier ist es nach Auffassung der Kammer gerechtfertigt, den GdB insgesamt mit 60 zu bewerten. Die Feststellung eines höheren GdB, etwa der von der Klägerin begehrte GdB von 70, kommt nach Auffassung der Kammer – die sich insofern auch durch die Einschätzung des erfahrenen Gutachters Kohl bestätigt, sieht, nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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