L 8 RJ 90/00

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 24 RJ 1267/98
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 8 RJ 90/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. September 2000 und der Bescheid der Beklagten vom 1. Oktober 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Mai 1998 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin vom 1. Oktober 1997 an Witwenrente nach dem Versicherten Hartmut Köhler zu gewähren. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente nach ihrem geschiedenen Ehemann.

Die 1937 geborene Klägerin war seit dem 19. Mai 1956 mit dem 1934 geborenen und 1977 verstorbenen Versicherten HKverheiratet. Aus der Ehe ging der 1956 geborene Sohn J hervor. Die Eheleute lebten zunächst in der DDR und siedelten 1961 nach West-Berlin über. Die Ehe wurde vom Landgericht B mit Urteil vom 10. Oktober 1973 geschieden; der Versicherte wurde an der Scheidung schuldig gesprochen. Dem Urteil war ein außergerichtlicher Vergleich der Eheleute vom 22. Juli 1973 vorausgegangen, in dem die Klägerin gegenüber dem Versicherten auf sämtliche Unterhaltsansprüche einschließlich Notbedarf verzichtete, die elterliche Gewalt für den Sohn auf die Klägerin übertragen wurde und die eheliche Wohnung der Klägerin zur alleinigen Berechtigung und Benutzung verbleiben sollte.

Der Versicherte, der eine Ausbildung zum Schlosser nicht abgeschlossen hat, war nach der Übersiedlung aus der DDR (mit Unterbrechungen) bis April 1970 als Sandstrahler bei der SAG und vom 16. Juni bis November 1970 bei der Firma F.W. Gtätig. Beide Arbeitsverhältnisse endeten nach Angaben der Klägerin durch arbeitgeberseitige Kündigung vor dem Hintergrund des übermäßigen Alkoholkonsums des Versicherten. Nach einer krankheitsbedingten Unterbrechung der Arbeitstätigkeit vom 14. November 1970 bis zum 9. Mai 1971 war er im Juli 1971 als Kraftfahrer beschäftigt; die Zwischenzeiten sind nicht belegt. Vom 1. Dezember 1971 an war er beim Land B, Bezirksamt C, in Vollzeit als Heizer beschäftigt und wurde nach der Lohngruppe III (Fallgruppe 29, 31 bzw. 40) zum BMT-G entlohnt. Im Jahr 1972 erzielte er ein versicherungspflichtiges Bruttoentgelt von 14.640,- DM, in den Monaten Januar bis März 1973 von 2.568,- DM. Mit Schreiben vom 26. März 1973 wurde dieses Arbeitsverhältnis vom Arbeitgeber zum Ablauf des 28. März 1973 fristlos gekündigt. Der Versicherte sei unentschuldigt seit dem 27. Februar 1973 der Arbeit ferngeblieben und habe auf Schreiben des Arbeitgebers nicht reagiert. Arbeitnehmer, die mehrmals zwei Wochen ohne Entschuldigung dem Dienst fernblieben, seien für einen Krankenhausbetrieb wegen mangelndem Verantwortungsbewusstsein nicht tragbar. In der Folge war er kurzzeitig vom 20. August bis 31. August 1973 bei der Firma F P versicherungspflichtig beschäftigt; Pflichtbeiträge für eine versicherungspflichtige Beschäftigung sind außerdem vom 19. Dezember 1973 bis zum 8. Februar 1974 gezahlt worden. Die anschließende Zeit bis zum 20. November 1974 ist nicht belegt. In der Zeit vom 21. November 1974 bis zum 8. Januar 1975 und vom 8. Mai 1975 bis zum 15. Januar 1977 war der Versicherte arbeitslos gemeldet, dazwischen war er vom 9. Januar 1975 bis zum 6. April 1975 erkrankt und befand sich dabei vom 22. Januar bis zum 28. Februar 1975 in stationärer Behandlung im Waldkrankenhaus S. Vom 17. Januar 1977 bis zu seinem Tode war er schließlich bei der S im Rahmen einer AB-Maßnahme als Gartenarbeiter beschäftigt. Pflichtbeiträge wurden in dieser Zeit aus 5.429,00 DM gezahlt; vom 16. März 1977 bis zum 12. Mai 1977 bestand Arbeitsunfähigkeit.

Es liegt ein Arztbericht des E Wkrankenhauses S vom 24. Februar 1975 vor, in dem bei diagnostizierter Leberverfettung und bekanntem Alkoholabusus auf Krankenhausaufenthalte im Juni und Dezember 1970 Bezug genommen wird. Der Versicherte war schließlich vom Amtsgericht T im September 1968 wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs und im Mai 1973 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr jeweils zu kurzzeitigen Freiheitsstrafen (mit Aussetzung zur Bewährung) verurteilt worden. Er ist zudem wegen Hausfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden (Urteil des AG T vom 16. Januar 1976 und des Landgerichts Bvom 30. Juni 1976), weil er sich am 10. September 1975 Zutritt in die Wohnung der Klägerin verschafft und sie angegriffen hatte.

Die Klägerin, die während der gesamten Ehezeit gearbeitet hatte, war vom 2. Oktober 1967 bis zum 31. Dezember 1996 bei der HWarenhaus AG in Vollzeit beschäftigt. Zunächst war sie als Verkäuferin (bis 1980) und als Kassiererin (bis 1984) tätig; ihre Bezahlung richtete sich während dieser Zeit nach der Lohngruppe K2. Im Jahr 1972 betrug ihr beitragspflichtiges Bruttoentgelt 12.933,- DM, im Jahr 1973 14.605,- DM, im Jahr 1976 17.545,- DM und im Jahr 1977 20.090,- DM. Später war sie als Betriebsschwesternhelferin in der 1. Hilfe-Station (bezahlt nach K3) tätig. Nach den Feststellungen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) ist sie seit dem 2. September 1997 erwerbsunfähig und erhält seit dem 1. Oktober 1997 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und seit dem 1. November 1997 Altersrente für Frauen.

Der Sohn J hat am 1. April 1972 ein Ausbildungsverhältnis zum Stahlbauschlosser begonnen (mit einer Ausbildungsvergütung von 220,- DM im ersten und 270,- DM im zweiten Lehrjahr), das er zum 9. Oktober 1973 abgebrochen hat, und hat zum 1. Februar 1974 eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen (im Jahr 1974 erzielte er ein Bruttoeinkommen von 9.545,- DM).

Die Klägerin, die wie der verstorbene Versicherte nicht wieder geheiratet hat, beantragte am 8. März 1996 bei der Beklagten Witwenrente nach ihrem geschiedenen Ehemann. Sie habe auf Unterhaltsleistungen verzichtet, nicht weil dies die Scheidung erleichtert habe, sondern weil es aussichtslos gewesen sei Unterhalt zu erlangen, da der Versicherte alkoholkrank und Tagelöhner gewesen sei und selbst bedürftig. Der Antrag wurde mit Bescheid vom 8. Oktober 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. März 1997 abgelehnt, da die Klägerin, die ihren Anspruch nur auf § 243 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) stützen könne, weder das 60. Lebensjahr vollendet habe noch vortrage, vermindert erwerbsfähig zu sein. Die hiergegen erhobene Klage zum Sozialgericht (SG) Berlin nahm die Klägerin am 11. Juli 1997 zurück und stellte am selben Tag einen neuen Antrag bei der Beklagten.

Die Beklagte lehnte auch diesen Antrag ab. Der umfassende Unterhaltsverzicht stehe dem geltend gemachten Anspruch entgegen. Ein Fall nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zur ausnahmsweisen Unbeachtlichkeit des Verzichts liege nicht vor, denn die Klägerin habe im Zeitpunkt der Scheidung nicht absehen können, ob in Zukunft durch „einkommensmindernde Wechselfälle“ ein Unterhaltsanspruch nicht doch hätte entstehen können. Da der gemeinsame Sohn kurz vor der Volljährigkeit gestanden habe, hätte der Wegfall der Unterhaltspflichten dem Sohn gegenüber auch eine veränderte Situation hinsichtlich der Unterhaltsfähigkeit des Versicherten ergeben können (Bescheid vom 1. Oktober 1997 und Widerspruchsbescheid vom 27. Mai 1998).

Die hiergegen beim SG Berlin erhobene Klage ist ohne Erfolg geblieben

(Urteil vom 22. September 2000). Die Kammer schließe sich der Begründung der angefochtenen Entscheidung an. Ein Fall entsprechend der Rechtsprechung zur „leeren Hülse“ liege nicht vor. Die bekannten Fakten zur Lebenssituation des Versicherten und der Klägerin ergäben, dass nicht von eklatant auseinanderstrebenden Berufslebensläufen des Ehepaares auszugehen sei, die von vornherein das Entstehen eines Unterhaltsanspruchs der Klägerin gegenüber dem Versicherten nach der Scheidung unwahrscheinlich machten. Auch in Bezug auf die behauptete Alkoholkrankheit des Versicherten ergebe sich nichts anderes. Gerade bei Suchterkrankungen sei ein großes positives Potential für den Stillstand der Krankheit vorhanden. Der Versicherte sei bei der Scheidung erst 39 Jahre alt gewesen und hätte schon von seinem Lebensalter her generell mehr Chancen haben können, trocken zu werden als in der Krankheit zu verharren.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin. Unter Bezugnahme auf die bei den Akten befindlichen Nachweise über die Lebensverhältnisse des Versicherten trägt sie vor, es habe schon im Jahre 1973 nicht mehr davon ausgegangen werden können, dass er wieder unterhaltsfähig werden könne. Der Verzicht auf mögliche Unterhaltsansprüche habe nur deklaratorischen Charakter gehabt und sei daher im Rahmen der Prüfung des § 243 Abs. 3 SGB VI unbeachtlich.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgericht Berlin vom 22. September 2000 und den Bescheid der Beklagten vom 1. Oktober 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Mai 1998 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr vom 1. Oktober 1997 an Witwenrente nach dem Versicherten Hartmut Köhler zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, weiteren Beweis zur Frage des Vorliegens eines chronischen Alkoholmissbrauchs des verstorbenen Versicherten zunächst durch Beiziehung der Leistungskarte der gesetzlichen Krankenkasse zu erheben.

Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

Dem Senat haben die Akten des Sozialgerichts Berlin (S 24 RJ 1267/98), die Verwaltungsakten der Beklagten und die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vorgelegen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den weiteren Inhalt der Akte und der beigezogenen Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, denn ihr steht der geltend gemachte Anspruch auf große Witwenrente seit dem 1. Oktober 1997 zu.

Der Anspruch der Klägerin findet seine Rechtsgrundlage in § 243 Abs. 3 SGB VI in der bis zum 31. 12. 2000 geltenden Fassung (aF; vgl. § 300 Abs. 2 SGB VI).

Nach § 243 Abs. 2 SGB VI aF hat eine frühere Ehefrau Anspruch auf große Witwenrente, (unter anderem) wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes in der bis zum 30. Juni 1977 geltenden Fassung (EheG aF) oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt tatsächlich geleistet hat (Abs. 2 Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind vorliegend zwar nicht erfüllt. Ein Unterhaltsanspruch bestand wegen des Verzichts auf Unterhaltsleistungen auch für den Notbedarf nicht und der Versicherte hat auch nicht Unterhalt tatsächlich geleistet. Nach Abs. 3 der genannten Vorschrift erhält aber Hinterbliebenenrente auch ohne Vorliegen der in Absatz 2 Nr. 3 genannten Unterhaltsvoraussetzungen unter anderem der geschiedene Ehegatte, der einen Unterhaltsanspruch nach Absatz 2 Nr. 3 wegen eines Arbeitsentgelts oder Arbeitseinkommens aus eigener Beschäftigung oder wegen des Gesamteinkommens des Versicherten nicht hatte (Abs. 3 Nr. 1), im Zeitpunkt der Scheidung ein eigenes Kind oder ein Kind des Versicherten im Sinne des § 46 Abs. 2 SGB VI erzogen hat (Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a) und berufsunfähig oder erwerbsunfähig ist (Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b), wenn auch vor Anwendung der Vorschriften über die Einkommensanrechnung auf Renten wegen Todes ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente für eine Witwe oder einen Witwer des Versicherten aus dessen Rentenanwartschaften nicht besteht. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin zur Überzeugung des Senats zum 1. Oktober 1997.

Die Klägerin hat im Zeitpunkt der Scheidung ein Kind des Versicherten erzogen und ist seit dem 2. September 1997 erwerbsunfähig. Soweit in Abs. 3 Nr. 1 weiter vorausgesetzt wird, dass der Unterhaltsanspruch (nur) wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat, ist dies hier zwar nicht der Fall, da ein Unterhaltsanspruch der Klägerin im Zeitpunkt des Todes des Versicherten, unabhängig von den in § 243 Abs. 3 Nr. 1 SGB VI aF vorausgesetzten wirtschaftlichen Verhältnissen, an dem vereinbarten Verzicht scheitert, was auch den Anspruch nach § 243 Abs. 3 SGB VI grundsätzlich ausschließt (BSG SozR 2200 § 1265 Nr. 6). Der jedenfalls im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten wirksame Unterhaltsverzicht kann aber ausnahmsweise dann für den Rentenanspruch unbeachtlich sein, wenn er nur deklaratorischen Charakter hatte ("leere Hülse") und bei Außerachtlassung des Verzichts die Voraussetzungen des § 243 Abs. 3 SGB VI aF gegeben wären. Hierauf beruft sich die Klägerin zu Recht.

Nach der Rechtsprechung des BSG (BSGE 72, 39, 45 = SozR 3-2200 § 1265 Nr. 9 und SozR 3- 2200 § 1265 Nr. 12) hat der Unterhaltsverzicht nur deklaratorischen Charakter, wenn
1. der Versicherte im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor seinem Tode nicht zur Zahlung eines rentenrechtlich relevanten Unterhalts an die frühere Ehefrau verpflichtet war,
2. zur Zeit der Scheidung kein rentenrechtlich relevanter Unterhaltsanspruch bestand und
3. nach den bei Abschluss des Unterhaltsverzichts gegebenen objektiven Umständen vernünftigerweise auch in Zukunft nicht mit dem Entstehen von rentenrechtlich relevanten Unterhaltsansprüchen der früheren Ehefrau gerechnet werden konnte.

Zur Ermittlung eines möglichen Unterhaltsanspruchs im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tod des Versicherten sind die für den Zeitpunkt der Scheidung festgestellten ehelichen Lebensverhältnisse entsprechend den damals bereits vorhersehbaren Einkommensentwicklungen und den seitdem eingetretenen Veränderungen der allgemeinen Lohn- und Preisverhältnisse "fortzuschreiben" und die aktuelle Einkommens- und Vermögenssituation der Beteiligten zu ermitteln (vgl. BSG SozR 3-2600 § 243 Nrn. 3 und 7 und SozR 3-2600 § 91 Nr. 1). Der letzte wirtschaftliche Dauerzustand rechnet dabei von der letzten, vor dem Tod des Versicherten eingetretenen wesentlichen Änderung der Einkommensverhältnisse der geschiedenen Ehegatten (stRspr des BSG seit BSGE 14, 129 = SozR Nr. 1 zu § 1266 RVO) und war hier durch die Aufnahme einer Tätigkeit durch den Versicherten im Januar 1977 bestimmt. Ein Unterhaltsanspruch der Klägerin bestand zu diesem Zeitpunkt schon deshalb nicht, weil sie gemessen an den ehelichen Lebensverhältnissen im Zeitpunkt der Scheidung (auch) 1976/1977 nicht unterhaltsbedürftig war. Sie konnte ihren Unterhalt aus einer ihr zumutbaren, schon während der Ehe ausgeübten Tätigkeit decken. Es kann somit dahinstehen, ob der Versicherte angesichts des recht geringen Einkommens, seiner offensichtlichen gesundheitlichen Probleme (auch während dieser ersten Beschäftigung nach langjähriger Arbeitslosigkeit war er bereits 2 Monate nach Arbeitsaufnahme wieder 8 Wochen arbeitunfähig) und der Befristung der Beschäftigung als ABM (aus der bei den Akten befindlichen Karte der Senatsverwaltung ergibt sich der 15. Juli 1977 als Befristungsende) dauerhaft unterhaltsfähig gewesen wäre.

Im Zeitpunkt der Scheidung bestand ein Anspruch auf Unterhalt (den Unterhaltsverzicht hinweggedacht) ebenfalls nicht. Der Versicherte war bereits seit über einem halben Jahr – von einer 10tägigen Unterbrechung abgesehen – arbeitslos, ohne Leistungen zu beziehen, und also nicht unterhaltsfähig. Die Klägerin verfügte dagegen über ein Einkommen aus ihrer Beschäftigung. Mit diesem Einkommen bzw. ihren Einkommen aus vorangegangenen Beschäftigungen ist während der Ehezeit etwa die Hälfte des Familienunterhalts gedeckt worden, da die Klägerin und der Versicherte, solange dieser regelmäßig gearbeitet hatte, etwa gleichviel verdient haben. Die eigenen Erwerbseinkünfte der Klägerin waren auch voll auf ihren Unterhaltsanspruch anzurechnen, weil ihr die ausgeübte Vollzeiterwerbstätigkeit auch vor dem Hintergrund der Notwendigkeit der Betreuung des noch minderjährigen Sohnes im Zeitpunkt der Scheidung zumutbar war. Der Sohn hatte das 16. Lebensjahr vollendet und stand bereits im Berufsleben. Es ist nicht ersichtlich, dass der noch notwendige Betreuungsbedarf mit der Ganztagsbeschäftigung nicht in Einklang zu bringen war.

Auch die zwischen den Beteiligten vorrangig streitige dritte der genannten Voraussetzungen ist erfüllt. Der Senat ist nach Würdigung sämtlicher in Betracht zu ziehender Umstände zu der Überzeugung gelangt, dass nach den bei Abschluss des Unterhaltsverzichts gegebenen objektiven Umständen vernünftigerweise auch in Zukunft nicht mit dem Entstehen von rentenrechtlich relevanten Unterhaltsansprüchen (d.h. in Höhe von 25 % des örtlich gültigen Regelsatzes der Sozialhilfe) der Klägerin gerechnet werden konnte.

Zunächst ist nicht erkennbar, dass der Unterhaltsverzicht eine Umkehr der Verschuldenslast iS der §§ 58 Abs. 1, 59 Abs. 1 Satz 1 EheG aF bezwecken sollte, also ohne den Verzicht der Ehefrau eine Scheidung aus deren alleinigem oder überwiegendem Verschulden erfolgt wäre (und damit eine „Konventionalscheidung“ im Sinne der zitierten Rechtsprechung vorläge). Zwar mag die Klägerin den Unterhaltsverzicht erklärt haben, um möglichst schnell die Scheidung herbeizuführen. Hieraus und aus Sitzungsniederschrift und Urteil des Scheidungsverfahrens ergibt sich indes nicht, dass das Urteil des Scheidungsgerichts zur Schuldfrage durch den Unterhaltsverzicht beeinflusst worden ist. Vielmehr erfolgte die Scheidung aus dem alleinigen Verschulden des Versicherten, weil er das eingeschränkte Klagevorbringen im Sinne seines Verschuldens zugegeben hatte. Die Klägerin hat im Rahmen des späteren Strafverfahrens 1976 als Zeugin erklärt, sie habe die Scheidung eingereicht, weil die Ehe für sie unerträglich geworden sei und damit der Darstellung des Versicherten im Strafverfahren, die Scheidung sei allein der Form halber zum Schutz vor Gläubigern erfolgt, widersprochen. Das Landgericht ist dieser Schilderung gefolgt. Es besteht vor dem Hintergrund des sich aus dem Strafverfahren ergebenden Verhaltens des Versicherten ihr gegenüber kein Anlass, an der Richtigkeit der Aussage der Klägerin zu zweifeln.

Bei der Prüfung einer eventuell zu erwartenden Bedürftigkeit des geschiedenen Unterhaltsberechtigten muss – wie es die Beklagte dargestellt hat - einkommensmindernden Wechselfällen wie dem Eintritt von Krankheit oder Arbeitslosigkeit im Rahmen der Prognose grundsätzlich Rechnung getragen werden. Sie gehören zum normalen Ablauf eines Arbeitslebens und können nur unter besonderen Umständen ausgeschlossen werden. In dieser Hinsicht abgesicherte Lebensverhältnisse bilden die Ausnahme. Zwar hatte die Klägerin im Zeitpunkt der Scheidung ein gesichertes und für die unabhängige Lebensführung ausreichendes Einkommen, so dass ihre eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse einen Verzicht auf mögliche Ansprüche erlaubten. Eine Position, die sie mit der von der Rechtsprechung geforderten Sicherheit vor späteren Einkommensausfällen durch Arbeitslosigkeit oder Krankheit geschützt hätte, liegt aber auch hier – wie von der Beklagten zutreffend dargelegt und der Klägerin nicht bestritten - nicht vor. Im Zeitpunkt der Scheidung war schließlich bereits absehbar, dass vorrangige Unterhaltsverpflichtungen des Versicherten an den gemeinsamen Sohn Jürgen (die der Versicherte ohnehin nicht erfüllt hat) nicht mehr lange bestehen würden.

Zur Überzeugung des Senats konnte die Klägerin aber schon im Zeitpunkt der Scheidung vernünftigerweise nicht mehr damit rechnen, dass ihrem geschiedenen Ehemann die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben zu einem späteren Zeitpunkt gelingen und er wieder unterhaltsfähig werden würde.

Auf der Grundlage der glaubhaften Schilderungen der Klägerin steht für den Senat fest, dass der Versicherte bereits seit Ende der 60er Jahre beruflich und privat erheblich durch seinen Alkoholkonsum eingeschränkt war. Der Senat sieht insbesondere keinen Anlass daran zu zweifeln, dass sowohl die Kündigung des langjährigen Beschäftigungsverhältnisses bei der SAG im Frühjahr 1970 als auch die Kündigung bei der F.W. G noch vor Ablauf der üblichen Probezeit von 6 Monaten im Herbst 1970 ihren Grund in der Unzuverlässigkeit des Versicherten vor dem Hintergrund seines Alkoholkonsums hatten. Die Gründe für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei der SAG zum 27. April 1970 konnten von dort zwar nicht mehr mitgeteilt werden und Auskünfte von der Firma G waren nicht mehr zu erlangen, da diese heute nicht mehr existiert. Es ergibt sich aber aus dem Arztbrief an Dr. B vom 24. Februar 1975, dass bereits 1970 zwei Krankenhausaufenthalte des Versicherten in Zusammenhang mit dem Alkoholmissbrauch notwendig geworden waren, was die Angaben der Klägerin zur beruflichen Situation schon im Jahre 1970 in vollem Umfang nachvollziehbar macht. Gewichtigste Anzeichen für die Annahme, die Klägerin habe mit einer späteren beruflichen Wiedereingliederung ihres geschiedenen Ehemannes vernünftigerweise nicht mehr rechnen können, sind schließlich die Umstände des Arbeitsplatzverlustes des Versicherten im Frühjahr 1973, die auch zum Trennungsentschluss seitens der Klägerin geführt haben. Der Versicherte war hier einen Monat unentschuldigt nicht zur Arbeit erschienen. Das danach im August 1973 begonnene Arbeitsverhältnis war entweder ohnehin nur auf wenige Tage angelegt oder der Versicherte konnte erneut nicht dauerhaft Fuß fassen. Entscheidend ist für den Senat damit, dass bereits einige Jahre vor der Scheidung der durchgreifende berufliche Abstieg des Versicherten begonnen hatte und dieser in der Folge offensichtlich vom Versicherten nicht mehr abgewendet werden konnte. Gegen diese Annahme spricht nicht, dass für ihn nach Aufnahme der Beschäftigung beim Bezirksamt C für immerhin 16 Monate Pflichtbeiträge durchgehend gezahlt worden sind. Denn aus dem Kündigungsschreiben geht eindeutig hervor, dass er mehrfach über Wochen nicht zur Arbeit erschienen ist und nicht erst sein Fernbleiben im Frühjahr 1973 Anlass der verhaltensbedingten Kündigung war. Bei dieser Sachlage ist nicht mehr entscheidend, dass innerhalb der Fehlzeiten vom Bezirksamt das Entgelt fortgezahlt und folglich auch Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung gezahlt worden sind. Aus dem Kündigungsschreiben ergeben sich ausreichend Hinweise dafür, dass das Arbeitsverhältnis bereits zu einem früheren Zeitpunkt wegen der Unzuverlässigkeit des Versicherten hätte beendet werden können. Es ist auch unerheblich, dass während der Beschäftigung beim Bezirksamt C Krankheitszeiten nicht registriert wurden, denn aus dem Kündigungsschreiben lässt sich ebenfalls deutlich ersehen, dass der Versicherte sich nicht arbeitsunfähig erkrankt gemeldet hat.

Der Senat hat keinen Anlass gesehen, auf den hilfsweise gestellten Beweisantrag der Beklagten den Rechtstreit zu vertagen und die Leistungskarte der AOK beizuziehen. Zunächst ist unklar geblieben, welche weitergehenden entscheidungserheblichen Tatsachen sich aus dieser Karte ergeben könnten. Der Umfang der Zeiten der Arbeitsunfähigkeit steht durch die Mitteilungen der S-Betriebskrankenkasse vom 24. Juli 1996, die bis zum 27. April 1970 der zuständige Krankenversicherungsträger war, und die verschiedenen Auskünfte der AOK fest. Ebenso sind die Zeitpunkte der Krankenhausaufenthalte durch den vorliegenden Entlassungsbericht vom E W S nachvollziehbar. Der Name des behandelnden Arztes, Dr. B, ist aus dem Strafverfahren vor dem Landgericht Berlin und als Empfänger des Entlassungsberichts bekannt. Die Praxis existiert indes nicht mehr und die gesetzlichen Aufbewahrungsfristen für ärztliche Unterlagen sind ohnehin abgelaufen, so dass weitere Ermittlungen nach ärztlichen Unterlagen des behandelnden Arztes aussichtslos erscheinen. Ermittlungen beim Waldkrankenhaus Spandau hat die Klägerin angestellt, es konnte von dort nur noch der letzte der Entlassungsberichte vorgelegt werden. Auch das lässt nur den Schluss zu, dass weitere Unterlagen nicht mehr vorhanden sind.

Im Übrigen lassen allein die ärztlichen Diagnosen, die den Arbeitsunfähigkeitszeiten zugrunde gelegen haben (also insbesondere die Frage, ob ein Alkoholmissbrauch „chronisch“ im Sinne der Medizin ist oder nicht), und die Behandlungsmöglichkeiten, die für den Versicherten (etwa aufgrund seines Alters) generell noch bestanden haben mögen und auf die der Beweisantrag offensichtlich abzielt, keinen Schluss darauf zu, ob objektiv im Zeitpunkt der Scheidung davon ausgegangen werden musste, dass diese später einmal zu seiner Wiedereingliederung in das Erwerbsleben führen könnten. Die Klägerin hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dem Versicherten Hilfsangebote zur Überwindung seiner Sucht gemacht worden sind. Es sei ihm schon im Frühjahr 1970 von den Ärzten des E W S anlässlich der Kündigung durch die Siemens AG nahegelegt worden, sich einer längerfristigen Entwöhnungsbehandlung zu unterziehen. Es kann also unterstellt werden, dass Behandlungsmöglichkeiten für den Versicherten noch bestanden haben. Die Klägerin hat aber dargestellt, dass er über Jahre nicht bereit gewesen sei, diese Angebote anzunehmen. Dies ist nachvollziehbar, da aus der Aktenlage (insbesondere aus dem Entlassungsbericht und den Angaben des behandelnden Arztes gegenüber der Strafkammer des Landgerichts) einerseits ersichtlich wird, dass der Versicherte nie eine längerfristige Entwöhnungsbehandlung begonnen hat, es ihm aber andererseits nach dem Ende der Beschäftigung bei der S AG im April 1970 nicht mehr gelungen ist, trotz seines Suchtverhaltens dauerhaft einer Beschäftigung nachzugehen und seine private Situation angemessen zu regeln, was insbesondere das Strafverfahren aus dem Jahre 1975 anschaulich zeigt. Damit konnte aber trotz grundsätzlicher Therapierbarkeit einer Alkoholkrankheit nicht mit einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Versicherte diese Angebote doch einmal wahr nehmen und wieder unterhaltsfähig werden würde. Tatsächlich ist dies auch nicht geschehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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