L 4 KR 115/96

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 3 Kr 499/93
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 115/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Zur Kostenerstattung einer kieferorthopädischen Behandlung.
2. Trotz durchgehender Behandlungsbedürftigkeit liegt bei einer 1 1/2 jährigen Behandlungsunterbrechung und Aufstellung eines neuen Heil- und Kostenplanes keine einheitliche Behandlung vor.
I. Das Urteil des Sozialgerichts München vom 31. Juli 1996 wird aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 13. Mai 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 1993 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
II. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Kostenerstattung einer kieferorthopädischen Behandlung.

Die am 1972 geborene Klägerin ist bei der Beklagten pflichtversichert. Sie befand sich von März 1983 bis August 1991 wegen Knackens der Kiefergelenke in Behandlung des Kieferorthopäden Dr. der eine Aufbißschiene im Oberkiefer eingliederte. Vom 06.09.1990 bis 17.12.1990 fand eine zahnärztliche Behandlung durch Dr. wegen massiver myofunktioneller Dysfunktion statt; die Therapie bestand in einer Schienenbehandlung und Einschleiftherapie. Daran schloß sich eine Kiefergelenkbehandlung bei Prof.Dr. vom 02.12.1992 bis 25.03.1993 an. Zur Therapie wurde eine Behandlung mit einer anterioren Aufbißschiene eingeleitet. Am 08.02.1993 erstellte der Kieferorthopäde Dr. einen Behandlungsplan, mit dem er zur Behandlung der Kiefergelenkschmerzen die Verwendung von festsitzenden Multibandapparaturen vorschlug.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 13.05.1993 die Kostenübernahme wegen Überschreitens der Altersgrenze ab und wies den Widerspruch am 19.10.1993 mit der weiteren Begründung zurück, eine schwere Kieferanomalie liege bei der Klägerin nicht vor.

Die Klägerin hat mit der Klage vom 10.11.1993 beim Sozialgericht München (SG) geltend gemacht, es fehle zwar an einer schweren Kieferanomalie, aber sie befinde sich seit mehr als zehn Jahren in ständiger kieferorthopädischer Behandlung. Die streitige Behandlung stelle lediglich die Fortsetzung der früheren kieferorthopädischen Therapien dar.

Das SG hat Befundberichte von Dr. und Dr. beigezogen und ein Sachverständigengutachten von Dr.Dr. (Ltd. Zahnarzt des Zahnmedizinischen Dienstes im MDK Bayern) eingeholt, der zu dem Ergebnis gelangt ist, die Behandlung nach dem kieferorthopädischen Behandlungsplan von Dr. sei die Weiterführung einer begonnenen kieferorthopädischen Behandlung.

Das SG hat mit Urteil vom 31.07.1996 die Beklagte zur Erstattung der Kosten der kieferorthopädischen Behandlung durch Dr. verurteilt. Es hat zur Begründung unter Bezugnahme auf das Sachverständigengutachten ausgeführt, die streitige Behandlung sei die Fortsetzung der 1983 begonnenen kieferorthopädischen Behandlung, und somit stehe das Überschreiten der Altersgrenze dem Anspruch auf Kostenübernahme nicht entgegen.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten vom 23.09. 1996, mit der sie geltend macht, Behandlungsbeginn sei nicht der Beginn irgendeiner Behandlung durch einen Kieferorthopäden, sondern der Beginn der Therapie nach einem Behandlungsplan. Die Behandlungsdauer sei nur die Dauer der Behandlungsmaßnahme nach dem genehmigten Behandlungsplan.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 31.07.1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, die verfahrenstechnische Sichtweise der Beklagten entspreche nicht dem Willen des Gesetzgebers; Beginn der Behandlung sei der Beginn der gesamten medizinisch erforderlichen kieferorthopädischen Behandlung, nicht der Beginn eines Behandlungsabschnittes, der Inhalt eines zu genehmigenden Behandlungsplanes sei.

Beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden die Akten der Beklagten und des SG. Auf den Inhalt der beigezogenen Akten und die Sitzungsniederschrift wird im übrigen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung (§ 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist zulässig. Der Wert des Beschwerdegegenstandes überschreitet 1.000,00 Deutsche Mark (§ 144 Abs.1 Satz 1 Nr.1 SGG), da nach dem Behandlungsplan von Dr. allein die Material- und Laboratoriumskosten mit 1.000,00 DM geschätzt werden, und somit sich dieser Betrag um das Arzthonorar erhöhen wird.

Die Berufung ist begründet.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten der kieferorthopädischen Behandlung durch Dr. entsprechend dem Behandlungsplan vom 08.02.1993. § 29 Sozialgesetzbuch V (SGB V) bestimmt den Leistungsinhalt der kieferorthopädischen Behandlung folgendermaßen: Versicherte haben Anspruch auf Erstattung von 80 v.H. der Kosten der im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung durchgeführten kieferorthopädischen Behandlung in medizinisch begründeten Indikationsgruppen, bei denen eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht. Diese gesetzliche Vorschrift wird durch die, die persönliche Leistungsberechtigung regelnde, hier anzuwendende Bestimmung des § 28 Abs.2 Satz 2 SGB V (idF des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21.12.1993, BGBl.I 2266; nunmehr Satz 6, vgl. Gesetz vom 28.10.1996, BGBl.I 1559) in dem Umfang eingeschränkt, daß die kieferorthopädische Behandlung von Versicherten, die zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet haben, nicht zur zahnärztlichen Behandlung gehört. Dies gilt nicht für Versicherte mit schweren Kieferanomalien, die ein Ausmaß haben, das kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erfordert (§ 28 Abs.2 Satz 3 bzw 7 SGB V); diese Ausnahmeregelung kommt hier nicht in Betracht und ist auch nicht streitig.

Die hiernach entscheidungserhebliche Frage des Behandlungsbeginns ist von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) mit den Urteilen vom 09.12.1997 (1 RK 11/96, 1 RK 10/97, 1 RK 11/97, BSGE 81, 245 = Die Leistungen 1998, 5 f.) in dem Sinne beantwortet worden, daß Behandlungsbeginn der Zeitpunkt der Aufstellung des kieferorthopädischen Behandlungsplanes ist, auch wenn die eigentliche Behandlung erst danach beginnt und wichtige Vorbereitungshandlungen schon vor diesem Zeitpunkt liegen sollten. Das BSG hat zur Begründung unter Hinweis auf die Motive des Gesetzgebers (vgl. FraktE GSG 1993 BT-Drucksache 12/3608 S.79, Begründung zu § 28) ausgeführt, das Datum des Behandlungsplanes belege in nachprüfbarer Weise die Feststellung der Behandlungsnotwendigkeit sowie den Behandlungswunsch des Versicherten und die Behandlungsbereitschaft des Zahnarztes. Andere denkbare Zeitpunkte könnten erhebliche Rechtsunsicherheit nach sich ziehen. Somit ist die Beklagte zur Kostenerstattung nicht verpflichtet, da die Klägerin im Zeitpunkt der Aufstellung des Behandlungsplanes (08.02.1993) das 18.Lebensjahr bereits vollendet hat. Die Notwendigkeit der 1993 von Dr. für erforderlich erachteten Maßnahmen war 1988 noch nicht Gegenstand des damals von Dr. erstellten Behandlungsplans.

Das BSG hat zwar offen gelassen, ob und unter welchen Umständen kürzere Behandlungsunterbrechungen für den Anspruch unschädlich seien. Nach dem Sachverständigengutachten ist davon auszugehen, daß die kieferorthopädische Behandlung durch Dr. im August 1991 geendet hatte und durch Dr. nach dem 08.02. 1993 fortgeführt werden sollte. Die zwischenzeitliche Behandlung durch Dr. und Prof.Dr. im Zeitraum vom 06.09.1990 bis 23.03.1993 war danach eine Kiefergelenkbehandlung, aber nicht eine kieferorthopädische Behandlung. Dies ergibt sich im übrigen auch aus den Befundunterlagen von Prof. Dr. der am 03.06.1993 zu einer Fortführung der kieferorthopädischen Behandlung geraten hat. Diese Behandlungsunterbrechung von etwa 1½ Jahren steht der Annahme eines einheitlichen Behandlungsvorganges im Sinne einer Weiterführung der im August 1991 beendeten ersten Phase entgegen. Maßgebend ist hier nicht die noch bestehende medizinische Behandlungsbedürftigkeit, sondern die Absicht des Gesetzgebers, auch bei laufenden kieferorthopädischen Behandlungen den Leistungsumfang einzuschränken. Für die Auffassung des Senats sprechen ferner folgende Überlegungen:

Es handelt sich trotz durchgehender Behandlungsbedürftigkeit um einen weiteren Behandlungsabschnitt, der das Aufstellen eines neuen Behandlungsplanes erforderlich gemacht hat. Dr. hat demgemäß einen neuen Heil- und Kostenplan vorgelegt und nicht einen Verlängerungsantrag gestellt. Dem liegt zugrunde, daß nach § 9 des Vertrages zwischen der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und den Verbänden der Angestellten-Krankenkassen e.V. und der Arbeiter-Ersatzkassen e.V. (EKV-Z) vor Beginn einer kieferorthopädischen Behandlung der Vertragszahnarzt einen Behandlungsplan aufzustellen und der Krankenkasse zuzuleiten hat. Mit einer Behandlung soll erst begonnen werden, wenn die Vertragskasse eine Kostenübernahmeerklärung auf dem Behandlungsplan abgegeben hat. Der Behandlungsplan gilt nach dem erklärten Willen der Vertragsparteien (Beschluss Nr.110 der ARGE; KZVB-Abrechnungsmappe; Hinweise der KZVB zur kieferorthopädischen Behandlung Nr.2, vgl. Anlage 14 zum EKV-Z, Gebührentarif D, kieferorthopädische Behandlung, KfO-2-24; KfO-3-1) grundsätzlich für die Dauer von vier Jahren, wobei bei Beendigung der Behandlung vor Ablauf der vierjährigen Regelbehandlungszeit ein Verlängerungsantrag gestellt werden kann. Wird allerdings die erneute Behandlung später als vier Jahre seit Behandlungsbeginn notwendig, so ist der Vertragskasse ein neuer KfO-Behandlungsplan einzureichen. Dieser ist von der früheren Behandlungsmaßnahme unabhängig und gilt für die Dauer von vier Jahren mit dem vollen Anspruch der vertraglich festgelegten Abschlagszahlungen. Ferner haben die Vertragsparteien Regelungen für den Fall wesentlicher Änderungen der Behandlung und des Arztwechsel vorgesehen. Mit diesen, die Leistungsansprüche der Klägerin nur indirekt berührenden vertragsärztlichen Bestimmungen wird die Vorgehensweise der Beklagten untermauert, wenn sie auf den neuen, von Dr. eingereichten Behandlungsplan bei der Prüfung des Leistungsbegehrens abgestellt hat.

Auch die Übergangsvorschrift des Art.33 § 5 Gesundheits-Strukturgesetz vom 21.12.1992 (BGBl.I S.2266) spricht gegen die Möglichkeit, ein rechtlich einheitliches Behandlungsgeschehen annehmen zu dürfen. Danach haben Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und deren kieferorthopädische Behandlung vor dem 01.01.1993 begonnen hat, Anspruch auf Übernahme der Kosten der kieferorthopädischen Behandlung einschließlich zahntechnischer Leistungen in der Höhe, wie sie das am 31.12.1992 geltende Recht vorsah, wenn die Krankenkasse vor dem 05.11.1992 über den Anspruch bereits schriftlich entschieden hat. Abgesehen davon, daß diese Übergangsvorschrift eine Kostenübernahme durch die Beklagte nicht zuläßt, enthält sie nur in dem geringen Umfange Bestandsschutz, daß nur diejenigen kieferorthopädischen Behandlungen nach früherem Recht zu beurteilen sind, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes begonnen worden sind. Bis zum Abschluß des einzelnen Behandlungsfalles soll somit keine Leistungsminderung für die Versicherten eintreten. Dies soll allerdings nur für die Fälle gelten, in denen die Krankenkasse die Leistung vor dem Tag schriftlich bewilligt hat, an dem die erste Lesung des Gesetzesentwurfs im Deutschen Bundestag stattgefunden hat. Von diesem Zeitpunkt an mußte jeder Versicherte mit einer für ihn nachteiligen Rechtsänderung rechnen. Wurde über die Leistung nach dem 05.11.1992 entschieden, gilt für die ab 01.01.1993 erbrachten Leistungen das neue Recht (FraktE GSG, a.a.O., BT-Drucksache 12/3608, S.157 zu § 5). Wäre die Auffassung der Klägerin zutreffend, daß allein das bis 31.12.1992 geltende Recht maßgebend wäre, hätte es dieser Übergangsvorschrift nicht bedurft. Auch die genannten Motive des Gesetzgebers zum Übergangsrecht belegen, daß es für den Beginn der Rechtsänderung auf den einzelnen Behandlungsfall ankommt und nicht allein auf die medizinische Behandlungsbedürftigkeit.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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