S 23 U 478/13

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
23
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 23 U 478/13
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Der Bescheid vom 27.02.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.07.2013 wird aufgehoben.

II. Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Rechtmäßigkeit einer Rückforderung von Verletztenrente rückwirkend ab 01.01.2004 in Höhe von insgesamt 43.080,62 EUR streitig.

Der 1968 geborene Kläger erlitt am 08.10.1991 als Beifahrer eines Geldtransporters einen Arbeitsunfall und zog sich dabei ein Polytrauma zu. Eine im Rahmen von Leistungen zur Teilhabe von der Beklagten gewährte Umschulung zum Siebdrucker scheiterte. Mit Bescheid vom 13.01.1998 gewährte die Beklagte dem 1968 geborenen Kläger aufgrund dieses Arbeitsunfalls ab 02.09.1997 Rente auf unbestimmte Zeit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 20 vH. Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht München mit dem Az.: S 41 U 335/00 wurde die Beklagte mit Urteil vom 20.11.2001 verurteilt, als weitere Unfallfolge eine chronifizierte Angststörung im Rahmen einer protrahierten posttraumatischen Anpassungsstörung anzuerkennen und dem Kläger die gesetzlichen Leistungen zu gewähren. Zugrunde lag ein medizinisches Sachverständigengutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. C ... Mit Bescheid vom 18.07.2002 gewährte die Beklagte dem Kläger daraufhin Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 40 vH ab 20.11.2001 (742,00 EUR). Im Berufungsverfahren vor dem Bayerischen Landessozialgericht, Az.: L 3 U 385/01, schlossen die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 15.04.2004 einen Vergleich u.a. dahingehend, dass die Beklagte dem Kläger ab 30.08.2000 bis 30.09.2002 Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 40 vH, vom 01.10.2002 bis 31.12.2003 nach einer MdE in Höhe von 30 vH und danach auf Dauer nach einer MdE in Höhe von 20 vH gewährt. Zugrunde lag ein weiteres nervenärztliches Gutachten von Prof. Dr. D ... Mit Bescheid vom 15.05.2003 setzte die Beklagte den Vergleich um. Sie errechnete den gesamten Rentenbetrag vom 30.08.2000 bis 31.12.2003 in Höhe von 27.091,40 EUR. Die bereits geleistete Rente in Höhe von 24.560,87 EUR verrechnete sie und überwies die Nachzahlung im Rahmen eines Ersatzanspruchs an das Arbeitsamt. Im Bescheid führte sie aus, dass die laufende Rente ab 01.01.2004 in Höhe von 383,27 EUR monatlich im Voraus überwiesen werde.

Der Kläger teilte zuletzt am 27.02.2004 mit, dass seine selbständige Tätigkeit mit einem Hausmeisterservice ganz gut laufe.

In der Beklagtenakte finden sich mit Datum vom 03.06.2011 und 01.06.2012 sog. RAV-Verarbeitungen, aus denen hervorgeht, dass dem Kläger nach wie vor eine Rente nach einer MdE in Höhe von 40 vH überwiesen wird. Einer Aktennotiz vom 09.01.2013 ist zu entnehmen, dass der Fehler von Seiten eines Mitarbeiters der Beklagten erkannt wurde.

Die Beklagte hörte dem Kläger mit Schreiben vom 01.02.2013 zur beabsichtigten Rückforderung der Überzahlung in Höhe von 43.080,62 EUR an. Vertrauensschutz liege nicht vor. Es hätte die Zahlungsdifferenz von 100 Prozent auffallen müssen. Der Kläger berief sich auf Vertrauensschutz, es liege kein rechtswidriger Verwaltungsakt vor, ebenso wenig Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit. Das Geld sei verbraucht.

Mit Bescheid vom 27.02.2013 forderte die Beklagte die überzahlte Verletztenrente zurück, Vertrauensschutz liege nicht vor. Im Widerspruchsverfahren wiederholte der Kläger seinen Vortrag aus der Anhörung und ergänzte, dass die Beklagte das Verschulden für die Überzahlung trage und er keine Zweifel an der Richtigkeit der Bescheide gehabt und die Zahlungen hingenommen habe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30.07.2013 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Unrichtigkeit sei derartig offensichtlich, dass sie ohne schwierige Prüfungen oder Überlegungen hätte erkennbar sein müssen. Da mit Bescheid vom 15.05.2003 über eine Dauerleistung entschieden worden sei, sei das öffentliche Interesse an der Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes höher einzustufen als bei einmaligen Leistungen, weil die Allgemeinheit durch die Dauerleistung stärker belastet sei.

Mit seiner am 09.08.2013 zum Sozialgericht München erhobenen Klage hat sich der Kläger weiter gegen die Rückforderung gewandt, sich auf Verjährung und das Vorliegen einer besonderen Härte berufen. Er hat in der mündlichen Verhandlung vom 04.09.2014 seine finanzielle Situation dargelegt und ausgeführt, dass er sich nach Abschluss des Verfahrens vor dem Landessozialgericht den Bescheid nicht genau angeschaut habe und ihm auch bezüglich der Höhe der Rente nichts aufgefallen sei.

Der Kläger beantragt, die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 27.02.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.07.2013 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat u.a. vorgetragen, dass Verjährung noch nicht eingetreten sei und ihr die finanziellen Verhältnisse und Lebensumstände des Klägers nicht bekannt sei. Die Prüfung einer un-billigen Härte habe somit nicht erfolgen können.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Akte der Beklagten und den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene und auch im Übrigen zulässige Klage erweist sich als begründet. Der Bescheid vom 27.02.2013 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 30.07.2013 ist aufzuheben. Die Beklagte hat gegen den Kläger keinen Anspruch auf Rückerstattung der zuviel gezahlten Verletztenrente.

Die Rückforderung richtet sich gemäß § 50 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in Verbindung mit einer entsprechenden Anwendung des § 45 SGB X. Gemäß § 50 Abs. 2 SGB X sind Leistungen, soweit sie ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind, zu erstatten. Die Regelungen der §§ 45 und 48 SGBX gelten dabei entsprechend. Hier scheitert die Rückforderung zumindest an einer rechtmäßigen Ermessensausübung durch die Beklagte.

Der Bescheid vom 15.05.2003 reduziert ab 01.01.2004 die der Verletztenrente zugrunde-liegende MdE auf 20 vH und halbiert damit den Rentenanspruch, so dass ab diesem Zeitpunkt der Bescheid nur noch Rechtsgrundlage für die Verletztenrente aus einer MdE in Höhe von 20 vH war. Die Zahlung der Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 40 vH ist daher für eine MdE in Höhe von 20 vH ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erfolgt. Die Rückforderung dieser richtet sich damit nach § 50 Abs. 2 SGB X iVm einer entsprechen-den Anwendung des § 45 SGB X.

Die Erstattungsforderung ab 01.01.2004 besteht, wenn ein nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X entsprechender Fall vorliegt, die Beklagte die Frist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X eingehalten und das ihr eingeräumte Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat. Da die Ein-Jahres-Frist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X frühestens mit der Anhörung be-ginnt (vgl. Steinwedel in Kasseler Kommentar, Sozialrecht, § 45 RdNr. 27) ist trotz der in der Akte enthaltenen RAV-Verarbeitungen aus dem Jahren 2011 und 2012 die Frist ein-gehalten. Die Anhörung des Klägers erfolgte mit Schreiben vom 01.02.2013 und bereits mit Bescheid vom 27.02.2013 die Erstattungsforderung. Auch gilt von allen Fristbestimmungen des § 45 SGB X nur diese im Rahmen der Anwendung über § 50 Abs. 2 SGB X (vgl. Steinwedel in Kasseler Kommentar, § 50 RdNr. 35 ff).

Ob der Kläger die Rechtsgrundlosigkeit der Leistungserbringung in Höhe der halben Rente kannte oder aufgrund grober Fahrlässigkeit nicht kannte, § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X, worum sich die Schriftsätze der Beteiligten in erster Linie drehen, lässt das Gericht offen, da die Bescheide bereits aus anderen Gründen aufzuheben sind. Es wird jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei der Feststellung von grober Fahrlässigkeit die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit zu berücksichtigen und nach den Ausführungen der medizinischen Sachverständigen Dr. C. und Prof. Dr. D. von einem unterdurchschnittlichen intellektuellen Niveau auszugehen ist.

Ob die Beklagte eine Ermessensentscheidung getroffen hat, wie sie § 45 Abs. 1 Satz1 SGB X vorschreibt, und ob diese rechtmäßig war, ist anhand des Inhaltes des Rücknah-mebescheides zu prüfen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) muss dieser nicht nur erkennen lassen, dass die Beklagte eine Ermessensentscheidung treffen wollte und getroffen hat, sondern auch diejenigen Gesichtspunkte, von denen sie bei Ausübung des Ermessens ausgegangen ist. Insoweit ist der Inhalt des Widerspruchbescheides maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 14.11.1985, 7 Rar 123/84). Hier hat die Be-klagte erkannt, dass die Geltendmachung der Erstattung in ihrem Ermessen steht, auch wenn die Ausführungen hierzu erst im Widerspruchbescheid erfolgt sind. Jedoch genügt der bloße Satz "da mit Bescheid vom 15.05.2003 über eine Dauerleistung entscheiden wurde, ist das öffentliche Interesse an der Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes höher einzustufen als bei einer einmaligen Leistung, weil die Allgemeinheit durch die Dauerleistung stärker belastet wird" den Anforderungen an eine ausreichende Ermessenausübung nicht. Zwar sind Ermessensfehler von den Gerichten nur beschränkt nachprüfbar, da das Gericht nicht eigene Erwägungen an die Stelle des Ermessens der Behörde setzten darf, gleichwohl muss die Begründung einer Ermessensentscheidung die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen der Träger bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist. Formelhafte Wendungen genügen einer ordnungsgemäßen Ermessensausübung und –begründung nicht. Gerade die Berücksichtigung und Angabe der im konkreten Einzelfall gegebenen Besonderheiten und Eigenheiten kennzeichnet eine ordnungsgemäße Ausübung des Ermessens (vgl. BSG, Urteil vom 23.09.1997, 2 RU 44/96). Es hat eine umfassende Abwägung zwischen dem Individualinteresse des Begünstigten und dem öffentlichen Interesse an der Wiederherstellung des gesetzmäßigen Zustandes zu erfolgen, in dem alle relevanten Verhältnisse des Einzelfalls einfließen (vgl. Merten in Hauck/Noftz, § 45 SGB X, RdNr. 106 ff mwN). Hier liegt eine nicht ausreichende und geradezu formelhafte Formulierung vor, die Umstände des Einzelfalles wurden nicht mit abgewogen. So hat die Beklagte in ihrer Ermessensentscheidung weder die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Klägers hinsichtlich des sehr hohen Rückforderungsbetrages ab-gewogen, obwohl ihr aus den Akten bekannt war, dass der Kläger sich mit einem mobilen Hausmeister-Service über Wasser hält und nach dem Unfall Teilhabeleistungen gescheitert sind, noch enthalten die Bescheide im Hinblick auf die familiären Verhältnisse des Klägers und die zu erwartenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Rückforderung irgendwelche Hinweise. Eine sachgerechte Ermessensausübung hätte gleichwohl zu einer differenzierten Rücknahmeentscheidung oder zu einem Absehen von der Rückforderung führen können. Hierbei ist zu beachten, dass die Beklagte den benötigten Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären hat und es sich bei dem Akteninhalt und der im Raum stehenden Forderungen geradezu aufdrängen hätte müssen, die Einkommensverhältnisse und die persönliche Situation des Klägers aufzuklären. Zudem hat sie ihr eigenes Mitverschulden bei der Ermessensausübung in keiner Weise berücksichtigt.

Damit hat die Beklagte die für die Ermessensentscheidung maßgebenden Gesichtspunkte nicht berücksichtigt und auch in den angefochtenen Bescheiden nicht mitgeteilt, was allein zur Aufhebung der Bescheide führt (vgl. Merten in Hauck/Noftz, a.a.O).

Der Klage war damit stattzugeben

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved