L 8 SF 22/12 EK

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
8
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 8 SF 22/12 EK
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 10 ÜG 20/14 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Maßstab für die Schwierigkeit des Verfahrens im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ist deren Einschätzung durch das zuständige Gericht, die in der Entscheidung zum Ausdruck kommt. Eine inhaltliche Überprüfung dieser Entscheidung steht dem Entschädigungsgericht nicht zu.
2. Wiedergutmachung auf andere Weise (§ 198 Abs. 4 GVG) reicht aus, wenn das Verfahren für den Entschädigungskläger nur eine geringe Bedeutung hatte.
3. Zur geringen Bedeutung eines Verfahrens für den Entschädigungskläger.
I. Es wird festgestellt, dass die Dauer des Klageverfahrens S 35 AL 810/03 vor dem Sozialgericht München unangemessen war.

II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

III. Von den Kosten des Verfahrens haben die Klägerin und der Beklagte jeweils die Hälfte zu tragen.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Klägerin eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens zusteht.

Am 03.07.2003 erhob die Klägerin durch ihren damaligen Bevollmächtigten Klage zum Sozialgericht München (SG - S 35 AL 810/03). Sie begehrte die Aufhebung des Bescheides vom 17.06.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.06.2003, mit dem sie aufgefordert worden war, sich zu einer ärztlichen Untersuchung einzufinden. Das SG wies die Klage - die es mit Beschluss vom 06.03.2007 mit den ähnlich gelagerten Verfahren S 35 AL 811/03, S 35 AL 1127/03 und S 35 AL 1263/03 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden hatte - mit Gerichtsbescheid vom 17.04.2008 ab. Die Aufforderungen hätten sich durch Verstreichen des jeweiligen Termins erledigt.
Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse bestehe nicht.

Hiergegen legte die Klägerin am 14.05.2008 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht ein (LSG - L 9 AL 113/08). Am 17.11.2008 bat das Gericht die Klägerin um Mitteilung, ob sie an einem Erörterungstermin im Dezember 2008 teilnehmen würde. Die Klägerin erwiderte, für sie komme nur ein Erörterungstermin in Frage, bei dem die damalige Beklagte nicht vertreten sei. Am 20.05.2010 führte das Gericht eine mündliche Verhandlung durch und wies die Berufung zurück. Das Urteil wurde am 06.10.2010 versandt.

Die Klägerin beantragte anschließend beim BSG die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Nichtzulassungsbeschwerde. Der Antrag wurde mit Beschluss vom 29.12.2010 abgelehnt, die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig verworfen (B 11 AL 82/10 B).

Bereits am 31.07.2009 hatte die Klägerin im Hinblick auf die Dauer des hier gerügten bzw. in Bezug genommenen Verfahrens beim SG eine Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Die Beschwerde wurde am 15.02.2012 erledigt.

Mit einem Schriftsatz vom 15.01.2012, der an das SG München gerichtet war, hat die Klägerin Entschädigungsklage erhoben. Das Schreiben wurde formlos an das Bayer. LSG abgegeben und als Klage erfasst. Mit Schreiben vom 25.01.2012, eingegangen am 27.01.2012, hat sie sich in dieser Angelegenheit direkt an das LSG gewandt. Den Ausführungen der Klägerin lässt sich entnehmen, dass sie die Dauer des Verfahrens in erster und zweiter Instanz für unangemessen hält. In ihrem Antrag in der mündlichen Verhandlung am 23.05.2014 hat die Klägerin sich bezüglich der ersten Instanz ausdrücklich auf das Verfahren S 35 AL 810/03 beschränkt; die hinzuverbundenen Verfahren hat sie nicht gesondert genannt.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten wegen Überlänge der Verfahren S 35 AL 810/03 und L 9 AL 113/08 zu verurteilen, eine Entschädigung von 4.500,00 Euro zu bezahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat er ausgeführt, die Verfahrensdauer sei nicht unangemessen gewesen. Das Berufungsverfahren habe bis zur Urteilsverkündung lediglich 2 Jahre gedauert. Auch habe die Klägerin das Verfahren dadurch verzögert, dass sie einen Erörterungstermin im Dezember 2008 abgelehnt habe, weil sie nur an einem Termin teilnehme, an dem die Beklagte nicht vertreten sei. Auch die Vertagung des für den 17.09.2009 festgelegten Termins auf Antrag der Klägerin sei dem Beklagten nicht zuzurechnen. Möglichen Verzögerungen beim SG München sei entgegenzuhalten, dass die Bedeutung des Verfahrens für die Klägerin sehr gering gewesen sei.

Einen materiellen Nachteil habe die Klägerin nicht erlitten; einen immateriellen Nachteil habe sie nicht substantiiert behauptet. Im Übrigen könne die Wiedergutmachung auch durch Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer bewirkt werden.

Der Senat hat der Klägerin mit Beschluss vom 07.12.2012 Prozesskostenhilfe bewilligt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten S 35 AL 810/03 (SG München), L 9 AL 113/08 und L 8 SF 22/12 EK (Bayer. LSG) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat durfte in seiner im Geschäftsverteilungsplan A des Bayer. Landessozialgerichts für das Jahr 2014 festgelegten Besetzung über die Entschädigungsklage entscheiden. Den zu Beginn der mündlichen Verhandlung am 23.05.2014 von der Klägerin gestellten "Antrag auf Befangenheit gegen den Vorsitzenden, die Beigeordneten und die Schöffen" hat der Senat in der mündlichen Verhandlung durch Beschluss nach geheimer Beratung als unzulässig abgewiesen. Das Ablehnungsgesuch war nämlich damit begründet worden, dass der Senat den wahren Sachverhalt nicht zur Kenntnis nehme, nicht einmal ansatzweise wisse, was sich in den Arbeitsämtern heutzutage zutrage, und sich unrealistisch verhalte. Diese Ausführungen enthalten keinen nachvollziehbaren Bezug zum vorliegenden Rechtsstreit. Es handelt sich um unsubstantiierte Vorhaltungen, die zur Begründung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet sind (vgl. dazu Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 60 Rn. 10b). Auch an der Entscheidung über die Befangenheitsanträge durften die abgelehnten Richter mitwirken, weil die Ablehnungsgesuche unzulässig sind und jedes Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens entbehrlich ist (Keller, a.a.O., Rn. 10d).

Für die Entscheidung über die Klage ist das LSG zuständig. Nach § 200 Satz 1 GVG haftet das Land für Nachteile, die aufgrund von Verzögerungen bei Gerichten des Landes eingetreten sind. Für Klagen auf Entschädigung gegen ein Land ist nach § 201 Abs. 1 Satz 1 GVG das Oberlandesgericht zuständig, in dessen Bezirk das streitgegenständliche Verfahren durchgeführt wurde. Für sozialgerichtliche Verfahren ergänzt § 202 Satz 2 SGG diese Regelung dahin, dass die Vorschriften des 17. Titels des GVG (§§ 198-201) mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden sind, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das LSG tritt.

Der Freistaat Bayern wird im vorliegenden Verfahren durch das Landesamt für Finanzen - Dienststelle München - als allgemeine Vertretungsbehörde vertreten (§ 7 Satz 1 VertrV). Einer der in §§ 7a ff. VertrV speziell geregelten Fälle liegt nicht vor.

Gegenstand des Verfahrens ist der von der Klägerin geltend gemachte Entschädigungsanspruch wegen der nach ihrer Rechtsauffassung unangemessenen Dauer der Verfahren S 35 AL 810/03 vor dem SG München und L 9 AL 113/08 vor dem Bayer. LSG.

1.
Die Klage ist zulässig.

Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) statthaft. Aus § 201 Abs. 2 Satz 1 GVG, wonach die Vorschriften der ZPO über das Verfahren vor den Landgerichten im ersten Rechtszug entsprechend anzuwenden sind, ergibt sich i.V.m. § 202 Satz 2 SGG, dass auch für Verfahren vor dem LSG die Vorschriften des SGG über das Verfahren vor den Sozialgerichten im ersten Rechtszug heranzuziehen sind. Gemäß § 54 Abs. 5 SGG kann mit der Klage die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Die Klägerin macht angesichts der Regelung des § 198 GVG geltend, dass sie auf die begehrte Entschädigungszahlung, eine Leistung i.S. des § 54 Abs. 5 SGG, einen Rechtsanspruch habe.

Eine vorherige Verwaltungsentscheidung ist nach dem Gesetz nicht vorgesehen. Die Klage wurde auch formgerecht erhoben. Die Frist des Art. 23 Satz 6 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGG) wurde eingehalten; die Klage wurde beim LSG mit dem am 27.01.2012 eingegangenen Schreiben vom 25.01.2012 und damit vor dem Stichtag 03.06.2012 erhoben.

Zweifel an der Klagebefugnis bestehen nicht. Der Kläger begehrt Entschädigung nach §§ 198 ff. GVG. Die Anwendung dieser Vorschriften ist nicht von vornherein ausgeschlossen, da Art 23 Satz 1 ÜGG eine Geltung für "Altfälle" wie das zu Grunde liegende Verfahren eröffnet (vgl. BSG, Beschluss vom 27.06.2013, B 10 ÜG 9/13 B, Rn. 21 ff.). Die Klägerin hat auch geltend gemacht, dass eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig sei.

Keine Zulässigkeitsvoraussetzungen sind die (rechtzeitige) Erhebung einer Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG und die Einhaltung der Wartefrist des § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG (vgl. im Einzelnen Urteil des Senats vom 20.06.2013, L 8 SF 134/12 EK). Diese Vorschriften sind im vorliegenden Fall allerdings ohnehin nicht anzuwenden, weil das Verfahren bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes abgeschlossen war (§ 23 Satz 5 ÜGG).

2.
Bezüglich des erstinstanzlichen Klageverfahrens S 35 AL 810/03 ist die Klage nur begründet, soweit die Klägerin die Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer begehrt.

Gegenstand der Entschädigungsklage sind nach dem Antrag der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nur das genannte Klageverfahren und das Berufungsverfahren (zu diesem siehe unter 3.). Die ähnlich gelagerten Verfahren S 35 AL 811/03, S 35 AL 1127/03 und S 35 AL 1263/03, die durch Beschluss des SG vom 06.03.2007 nach § 113 Abs. 1 SGG mit dem o.g. Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden worden sind, hat die Klägerin nicht in ihre Entschädigungsklage einbezogen. Dies ergibt sich aus ihrer Antragstellung in der mündlichen Verhandlung am 23.05.2014. Im Übrigen haben die hinzuverbundenen Verfahren nicht länger gedauert als das Verfahren S 35 AL 810/03, weil sie gleichzeitig bzw. später beim SG anhängig gemacht worden sind.

Für das Klageverfahren sind die Vorschriften der §§ 198 ff. Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) sowie die §§ 183, 197a und 202 SGG i.d.F. des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGG) vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) maßgebend. Nach Art. 23 Satz 1 ÜGG gilt dieses Gesetz auch für Verfahren, die bei seinem Inkrafttreten (gemäß Art. 24 ÜGG am 03.12.2011) bereits anhängig waren, sowie - wie vorliegend - für abgeschlossene Verfahren, deren Dauer bei seinem Inkrafttreten Gegenstand von anhängigen Beschwerden beim EGMR ist (s. u.) oder noch werden kann.

Das Verfahren S 35 AL 810/03 / L 9 AL 113/08 war bei Inkrafttreten des ÜGG am 03.12.2011 bereits abgeschlossen. Maßgeblich für den Abschluss eines Verfahrens im Sinne des ÜGG ist der Eintritt der Rechtskraft (§ 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG). Die Rechtskraft des Urteils vom 20.05.2010 (L 9 AL 113/08) war mit der Ablehnung des PKH-Antrags und der Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde durch das BSG am 29.12.2010 eingetreten (§ 160a Abs. 4 Satz 3 SGG).

Das Verfahren war bei Inkrafttreten des ÜGG am 03.12.2011 Gegenstand einer anhängigen Beschwerde beim EGMR (Az. 38064/09). Der EGMR hat dem Senat mit Schreiben vom 29.08.2012 mitgeteilt, dass die Klägerin bereits am 31.07.2009 eine solche Beschwerde erhoben habe. Diese sei erst am 15.02.2012 erledigt worden. An der Richtigkeit dieser Auskunft hat der Senat keine Zweifel. Dabei verkennt der Senat nicht, dass die am 31.07.2009 zum EGMR erhobene Beschwerde ausweislich des zitierten Schreibens des EGMR nur das erstinstanzliche Verfahren betraf, obwohl die Klägerin bereits am 14.05.2008 Berufung erhoben hatte. Dies hindert jedoch die Zulässigkeit der Entschädigungsklage auch hinsichtlich des Berufungsverfahrens nicht, weil das Verfahren nach § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss als Einheit zu betrachten ist. Die Klägerin hat die Beschwerde - was im Rahmen des Art. 23 Satz 1 ÜGG erforderlich sein dürfte (vgl. etwa BSG, Beschluss vom 27.06.2013, B 10 ÜG 1/13 B, Rn. 13 m.w.N.; so auch BGH, Urteil vom 11.07.2013, III ZR 361/12) - unter Beachtung der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art 35 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) erhoben. Zwar hat sie die Beschwerde entgegen Art. 35 Abs. 1 EMRK bereits am 31.07.2009 und damit vor Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs erhoben. Da die Beschwerde aber bei Eintritt der Rechtskraft des Urteils im Berufungsverfahren L 9 AL 113/08 noch anhängig war, ist sie zu diesem Zeitpunkt zulässig geworden. Damit hat die Klägerin auch die in Art. 35 Abs. 1 EMRK bestimmte Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung eingehalten. Die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des BSG ist nicht Zulässigkeitsvoraussetzung einer Beschwerde beim EGMR (BGH, a.a.O., Rn. 11 m.w.N.).

Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird zwar angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Für einen Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, kann Entschädigung (jedoch) nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 Satz 2 GVG).

Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch setzt voraus,
- dass eine unangemessene Dauer des Gerichtsverfahrens vorliegt (a),
- dass die Klägerin als Verfahrensbeteiligte einen Nachteil nicht vermögenswerter Art erlitten hat (b),
- dass nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG nicht ausreichend ist (c)
- und dass der geforderte Betrag als Entschädigung angemessen ist (d).

Vorliegend war der Klägerin eine Entschädigung nicht zuzubilligen, weil zwar die unter a) und b) genannten Voraussetzungen vorliegen, es jedoch an der unter c) genannten Voraussetzung fehlt.

a)
Die Dauer des Klageverfahrens S 35 AL 810/03 war mit 58 Monaten von der Klageerhebung bis zur Versendung des die Instanz beendenden Gerichtsbescheides unangemessen.

aa)
§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG bestimmt, dass sich die "Angemessenheit der Verfahrensdauer" nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und der Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter, richtet. Damit hat der Gesetzgeber von der Einführung bestimmter Grenzwerte für die Dauer unterschiedlicher Verfahrenstypen abgesehen, weil eine generelle Festlegung, wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, nicht möglich ist. Dies hat auch das BSG in seinem Beschluss vom 16.12.2013 (B 10 ÜG 13/13 B) hervorgehoben. Der Gesetzgeber benennt hingegen nur beispielhaft ohne abschließenden Charakter Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit bzw. Unangemessenheit einer Verfahrensdauer besonders bedeutsam sind. Derartige Umstände reichen jedoch für die Anwendung des Begriffs der "unangemessenen Verfahrensdauer" (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG) nicht aus. Vielmehr sind diese Umstände in einen allgemeinen Wertungsrahmen einzuordnen, der sich aus folgenden Erwägungen ergibt:

Haftungsgrund für den gesetzlich begründeten Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Verfahrensdauer ist die Verletzung des in Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK verankerten Rechts eines Verfahrensbeteiligten auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit. § 198 Abs. 1 GVG knüpft für die Bestimmung der (Un)Angemessenheit inhaltlich an die Maßstäbe an, die EGMR und BVerfG für die Beurteilung der Verfahrensdauer entwickelt haben (BSG, Urteil vom 21.02.2013, B 10 ÜG 1/12 KL, Rn. 25 m.w.N.). Die Anknüpfung des gesetzlichen Entschädigungsanspruchs gemäß § 198 GVG an den als Grundrecht nach Art. 19 Abs. 4 GG (i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) sowie als Menschenrecht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK qualifizierten Anspruch auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit verdeutlicht, dass es darauf ankommt, ob der Beteiligte durch die Länge des Gerichtsverfahrens in seinem Grund- und Menschenrecht beeinträchtigt worden ist. Damit wird eine gewisse Schwere der Belastung von vornherein vorausgesetzt. Es reicht also nicht jede Abweichung vom Optimum, vielmehr muss eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenze des Angemessenen vorliegen (BSG, a.a.O., Rn. 26).

Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die Verfahrensdauer in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 Abs. 1 GG) und auch zu dem Ziel einer inhaltlichen Richtigkeit der Entscheidungen steht. Auch das spricht dagegen, bei der Bestimmung der Angemessenheit einer Verfahrensdauer eine enge zeitliche Grenze zu ziehen (BSG, a.a.O., Rn. 27 m.w.N.).

Die Dauer eines Verfahrens ist in hohem Maße von dem Verhältnis abhängig, in dem die Zahl der von Rechtsuchenden betriebenen Verfahren zu den persönlichen und sächlichen Mitteln des jeweils zuständigen Gerichts steht. Dabei reicht es aus, dass dieses Verhältnis angemessen ist. Der Staat ist jedenfalls nicht verpflichtet, so große Gerichtskapazitäten vorzuhalten, dass jedes anhängig gemachte Verfahren sofort und ausschließlich von einem Richter bearbeitet werden kann. Vielmehr muss ein Rechtsuchender damit rechnen, dass der zuständige Richter neben seinem Rechtsbehelf auch noch andere (ältere) Sachen zu behandeln hat. Die Entscheidung darüber, wann in einzelnen Verfahren Verfahrenshandlungen vorgenommen werden, obliegt in erster Linie dem mit einer Sache befassten Gericht im Rahmen des Ermessens bei der Verfahrensführung, das ihm durch die anzuwendende Prozessordnung eingeräumt wird (Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG Rn. 129). Insofern ist dem Rechtsuchenden eine gewisse Wartezeit zuzumuten. Im Hinblick darauf kann es von Bedeutung sein, in welcher Zeit vergleichbare Verfahren erledigt werden. Die betreffenden statistischen Zahlen sind allerdings daraufhin zu prüfen, ob sie eine im Durchschnitt überlange Verfahrensdauer widerspiegeln. Ist das nicht der Fall, so können diese Zahlen einen hilfreichen Maßstab bei der Beurteilung der Angemessenheit der Dauer eines konkreten Verfahrens bieten. Entscheidend sind dabei allerdings die Umstände des Einzelfalls (BSG, a.a.O., Rn. 28 m.w.N.).

bb)
Dafür, dass die Dauer des Klageverfahrens S 35 AL 810/03 vor dem SG mit 58 Monaten im konkreten Fall unangemessen war, spricht bereits ein Vergleich mit den wesentlich niedrigeren statistischen Durchschnittswerten.

Der Klägerin ist zuzubilligen, dass das genannte Verfahren, gemessen an den Werten, die das Statistische Bundesamt in Fachserie 10 Reihe 2.7 veröffentlicht hat und die allgemein zugänglich sind, überlang war. Den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes lässt sich entnehmen, dass Klageverfahren vor den Sozialgerichten, die 2008 durch Gerichtsbescheid erledigt wurden, im Bundesdurchschnitt (ohne Bayern) 17,4 Monate gedauert haben. Die durchschnittliche Verfahrensdauer für Klageverfahren im Fachgebiet Arbeitslosenversicherung (nicht nach Erledigungsart differenziert) lag im Bundesdurchschnitt (ohne Bayern) bei 16,7 Monaten.

Die Frage, ob bereits diese statistischen Zahlen eine im Durchschnitt überlange Verfahrensdauer widerspiegeln, spielt keine Rolle, wenn - wie hier - eine erhebliche Überschreitung der statistischen Werte vorliegt.

Die konkreten Umstände des Einzelfalles können die Länge des Verfahrens jedenfalls nicht in vollem Umfang erklären. Für den Anspruch auf Feststellung (s. u. unter c)) genügt insoweit, dass zwischen dem 30.09.2003 und dem 17.02.2004 sowie zwischen dem 12.09.2005 und dem 19.04.2006 kein verfahrensrelevanter Schriftverkehr angefallen ist. In diesen Zeiträumen hat jedenfalls das Verhalten der Beteiligten oder Dritter die Verzögerungen nicht (mit-)verursacht. Das Gericht hatte in diesen Zeiträumen insbesondere keine Stellungnahmen, Gutachten oder Befundberichte angefordert oder angemahnt.

Auch die Schwierigkeit des Verfahrens kann die Verfahrensdauer von 58 Monaten nicht rechtfertigen. Der Senat orientiert sich insoweit an der Sicht des SG, wie sie den Akten und insbesondere dem Gerichtsbescheid vom 17.04.2008 zu entnehmen ist. Dabei prüft der Senat nicht, ob das SG die Sach- und Rechtslage zutreffend beurteilt hat. Denn es steht dem Entschädigungsgericht nicht zu, wie ein Rechtsmittelgericht zu einer abweichenden Beurteilung der Sach- und Rechtslage zu kommen und entsprechende Feststellungen zu treffen. Eine Entschädigungsklage ist kein Rechtsmittel gegen die im zu Grunde liegenden Verfahren getroffene Entscheidung; eine inhaltliche Überprüfung ist nicht zulässig. Eine Entschädigung darf dementsprechend z. B. nicht mit der Begründung zugesprochen werden, das Entschädigungsgericht halte eine bestimmte, vom primär zuständigen Gericht durchgeführte Beweiserhebung für unbehelflich oder eine von diesem ausführlich erörterte Rechtsfrage für nicht entscheidungserheblich und deshalb sei eine wesentlich schnellere Erledigung geboten gewesen. Umgekehrt darf eine Entschädigungsklage nicht mit der Begründung (teilweise) abgewiesen werden, das Entschädigungsgericht sei der Auffassung, das primär zuständige Gericht sei in seiner Entscheidung auf wesentliche Probleme nicht eingegangen und eine angemessene Bearbeitungszeit für diese Probleme sei zu berücksichtigen.

Maßstab für die Schwierigkeit des Verfahrens ist also deren Einschätzung durch das SG. Danach war die Sach- und Rechtslage wenig komplex. Insbesondere lag weder ein schwieriger Sachverhalt vor (Beispiele bei Ott, a.a.O., Rn. 104) noch waren schwierige Rechtsfragen zu klären (Beispiele bei Ott, a.a.O., Rn. 105) oder umfangreiche Ermittlungen durchzuführen (Beispiele bei Ott, a.a.O., Rn. 106). Das SG hat keine Ermittlungen angestellt und die Klage mit knapper Begründung abgewiesen. Eine Rechtfertigung für eine überdurchschnittliche Bearbeitungsdauer lässt sich daraus nicht ableiten.

Auch die geringe Bedeutung des Rechtsstreits für die Klägerin (dazu näher unten) vermag eine derart lange Bearbeitungsdauer nicht zu rechtfertigen.

Eine weitergehende Auseinandersetzung mit den Umständen des Einzelfalls kann unterbleiben, weil der Senat lediglich ausspricht, dass die Verfahrensdauer unangemessen war (siehe unten) und das Gericht in diesem Fall Zeitraum oder Zeitdauer der Überlänge nicht genau beziffern muss (Ott, a.a.O., § 198 GVG Rn. 165).

b)
Die Klägerin hat durch die unangemessene Dauer des erstinstanzlichen Klageverfahrens S 35 AL 810/03 einen Nachteil nicht vermögenswerter Art erlitten. Dies wird nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet; Anhaltspunkte dafür, dass die Vermutung im konkreten Fall widerlegt sein könnte, sind nicht ersichtlich.

c)
Eine Entschädigung in Geld steht der Klägerin jedoch nicht zu, weil nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG ausreichend ist. Die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, kann beispielsweise in Verfahren ausreichen, die für den Entschädigungskläger keine besondere Bedeutung hatten (BSG, Urteil vom 21.02.2013, B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 45 unter Hinweis u. a. auf die Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 17/3802, S. 20 sowie - nach Verkündung des vorliegenden Urteils - BSG, Urteil vom 10.07.2014, B 10 ÜG 8/13 R, zitiert nach dem Terminbericht des BSG Nr. 30/14). So liegt es hier.

Ausschlaggebend ist, dass die Klägerin von dem im Klageverfahren vor dem SG angegriffenen Bescheid nach dem Verstreichen des dort genannten Termins im Sommer 2003 nicht mehr nachteilig betroffen war. Sie hatte weder wirtschaftliche Nachteile in Kauf zu nehmen noch war sie weiterhin zu einem Tun oder Unterlassen verpflichtet. Auch indirekte Folgen waren nicht eingetreten; insbesondere war eine Säumniszeit im Sinne von § 145 SGB III - gegen die im Übrigen gesonderte Möglichkeiten des Rechtsschutzes bestanden hätten - nicht festgestellt worden.

Auch als Fortsetzungsfeststellungsklage hatte das Verfahren für die Klägerin nur geringe Bedeutung. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die Bundesanstalt für Arbeit mit einem Schreiben vom 18.09.2003, das die Klägerin dem SG vorgelegt hat, für verschiedene Fehler im Zusammenhang mit der psychologischen Einschätzung der Klägerin entschuldigt und zugesagt hat, einen entsprechenden Ergebnisbericht zurückzuziehen und nicht weiter zu verwenden. Weiteren Schreiben der Klägerin ist zu entnehmen, dass sie nach diesem Entschuldigungsschreiben keine Aufforderungen der im Verfahren S 35 AL 810/03 streitigen Art mehr erhalten hat. Mit einer Amtshaftungsklage aus dem zu Grunde liegenden Sachverhalt hatte die Klägerin nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung keinen Erfolg, so dass auch insoweit die Bedeutung einer Fortsetzungsfeststellungsklage zwar nicht völlig fehlt, aber als gering einzustufen ist.

d)
Ausführungen zur Höhe der Entschädigungssumme sind nicht erforderlich, weil der Senat eine solche nicht zuspricht.

3.
Bezüglich des Berufungsverfahrens L 9 AL 113/08 ist die Klage unbegründet.

Die Dauer des Berufungsverfahrens vor dem LSG war mit 29 Monaten insbesondere unter Berücksichtigung des Verhaltens der Klägerin und der Bedeutung des Verfahrens noch angemessen.

Nach den statistischen Berichten des Bayer. Landesamtes für Statistik und Datenverarbeitung über die Tätigkeit der Sozialgerichte war ein im Kalenderjahr 2010 beim Bayer. Landessozialgericht durch Urteil erledigtes Berufungsverfahren durchschnittlich 22,5 Monate anhängig; ein durch Urteil erledigtes Berufungsverfahren im Fachgebiet Arbeitslosenversicherung 33,8 Monate.

Den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes (Fachserie 10 Reihe 2.7) lässt sich entnehmen, dass Berufungsverfahren vor den Landessozialgerichten, die 2010 durch Urteil erledigt wurden, im Bundesdurchschnitt 22,0 Monate gedauert haben. Die durchschnittliche Verfahrensdauer für Berufungsverfahren im Fachgebiet Arbeitslosenversicherung (nicht nach Erledigungsart differenziert) lag im Bundesdurchschnitt bei 21,0 Monaten.

Diese Zahlen zeigen zwar, dass das Berufungsverfahren L 9 AL 113/08 überdurchschnittlich lang war. Auf den Referenzwert von 33,8 Monaten für durch Urteil erledigte Berufungsverfahren im Fachgebiet Arbeitslosenversicherung in Bayern stellt der Senat nicht ab, denn der Vergleich mit den übrigen Zahlen - sowohl aus Bayern als auch aus dem gesamten Bundesgebiet - legt es nahe, dass hier bereits eine im Durchschnitt überlange Verfahrensdauer im Sinne eines "Systemfehlers" (vgl. BSG, Urteil vom 21.02.2013, B 10 ÜG 1/12 KL, Rn. 32) abgebildet wird.

Allerdings ist die Dauer des Verfahrens zu einem wesentlichen Teil dem Verhalten der Klägerin geschuldet, für das der Beklagte nicht verantwortlich gemacht werden kann. Das LSG beabsichtigte die Durchführung eines Erörterungstermins im Dezember 2008, also etwa 6 Monate nach Eingang der Berufung. Damit wurde der Versuch unternommen, das Berufungsverfahren - gerade auch im Hinblick auf die lange Dauer des erstinstanzlichen Klageverfahrens - möglichst zügig zu einem Abschluss zu bringen. Die Klägerin hat sich dem jedoch verweigert, indem sie mitgeteilt hat, sie sei nur an einem Erörterungstermin interessiert, an dem die Bundesagentur für Arbeit - die Beklagte im Berufungsverfahren - nicht teilnehme. Als Reaktion darauf hat das LSG auf die Durchführung eines Erörterungstermins verzichtet.

Zwar steht nicht fest, dass das Verfahren in einem Erörterungstermin beendet worden wäre; dies wäre nur durch eine unstreitige Erledigung möglich gewesen. Jedenfalls aber hätte das Verfahren in einem Erörterungstermin gefördert werden können, weil der Berichterstatter im Rechtsgespräch mit den Beteiligten etwaige aus seiner Sicht bestehende Zweifelsfragen zügig hätte klären können. Dies hätte zur Überzeugung des Senats mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Erledigung durch Urteil in höchstens 22 Monaten geführt, was einer durchschnittlichen Dauer des Berufungsverfahrens entsprochen hätte (s.o.). In jedem Fall ist das LSG mit seinem Vorschlag, im Dezember 2008 einen Erörterungstermin durchzuführen, seiner Verpflichtung zu besonderer Beschleunigung unter Berücksichtigung der langen Dauer des erstinstanzlichen Klageverfahrens nachgekommen.

Auch war die Bedeutung des Berufungsverfahrens für die Klägerin gering. Auf die Ausführungen unter 2. c) wird insoweit Bezug genommen.

Damit war nur festzustellen, dass die Dauer des Klageverfahrens S 35 AL 810/03 vor dem Sozialgericht München unangemessen war. Im Übrigen - insbesondere, soweit die Klägerin eine Entschädigung begehrte - war die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG, § 201 Abs. 4 GVG und entspricht dem Verhältnis zwischen Obsiegen und Unterliegen.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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