L 8 SF 20/12 EK

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
8
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 8 SF 20/12 EK
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 10 ÜG 19/14 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Maßstab für die Schwierigkeit des Verfahrens im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ist deren Einschätzung durch das zuständige Gericht, die in der Entscheidung zum Ausdruck kommt. Eine inhaltliche Überprüfung dieser Entscheidung steht dem Entschädigungsgericht nicht zu.
2. Wiedergutmachung auf andere Weise (§ 198 Abs. 4 GVG) reicht aus, wenn das Verfahren für den Entschädigungskläger nur eine geringe Bedeutung hatte.
3. Zur geringen Bedeutung eines Verfahrens für den Entschädigungskläger.
I. Es wird festgestellt, dass die Dauer des Klageverfahrens S 35 AL 428/04 vor dem Sozialgericht München unangemessen war.

II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

III. Von den Kosten des Verfahrens haben die Klägerin und der Beklagte jeweils die Hälfte zu tragen.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Klägerin eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens zusteht.

Am 16.03.2004 erhob die Klägerin durch ihren damaligen Bevollmächtigten Untätigkeitsklage zum Sozialgericht München (SG - S 35 AL 428/04). Sie beantragte, die damalige Bundesanstalt für Arbeit zu verurteilen, über einen Antrag auf Arbeitslosengeld für den Zeitraum 18.08.1995 bis 17.09.1995 zu entscheiden. Das Sozialgericht wies die Klage mit Gerichtsbescheid vom 02.05.2008 ab. Ein Antrag, über den zu entscheiden wäre, sei nicht gestellt worden; jedenfalls sei die Klage unzulässig.

Hiergegen legte die Klägerin am 23.06.2008 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht ein (LSG - L 9 AL 139/08). Am 17.11.2008 bat das Gericht die Klägerin um Mitteilung, ob sie an einem Erörterungstermin im Dezember 2008 teilnehmen würde. Die Klägerin erwiderte, für sie komme nur ein Erörterungstermin in Frage, bei dem die damalige Beklagte nicht vertreten sei. Am 29.07.2010 führte das Gericht eine mündliche Verhandlung durch und wies die Berufung zurück. Das Urteil wurde am 06.10.2010 versandt.

Die Klägerin beantragte anschließend beim BSG die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Nichtzulassungsbeschwerde. Der Antrag wurde mit Beschluss vom 29.12.2010 abgelehnt, die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig verworfen (B 11 AL 107/10 B).

Am 28.06.2011 legte die Klägerin im Hinblick auf die Dauer der streitgegenständlichen Verfahren beim SG und beim LSG eine Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Die Beschwerde wurde am 12.07.2012 erledigt.

Am 23.01.2012 hat die Klägerin Entschädigungsklage zum LSG erhoben. Grundsätzlich sei von einer maximalen Verfahrensdauer von 3 Jahren auszugehen.

Die Klägerin beantragt,

wegen Überlänge der Verfahren S 35 AL 428/04 und L 9 AL 139/08 den Beklagten zu verurteilen, ihr eine Entschädigung von 9.600,00 Euro zu bezahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat er ausgeführt, die Verfahrensdauer sei nicht unangemessen gewesen. Das Berufungsverfahren habe bis zur Urteilsverkündung lediglich 2 Jahre und einen Monat gedauert. Auch habe die Klägerin das Verfahren dadurch verzögert, dass sie einen Erörterungstermin im Dezember 2008 abgelehnt habe, weil sie nur an einem Termin teilnehme, an dem die Beklagte nicht vertreten sei. Mögliche Verzögerungen beim SG München beruhten anscheinend darauf, dass die Klägerin trotz der Hinweise des Beklagten die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Untätigkeitsklage nicht schlüssig dargelegt habe. Außerdem habe die Antragstellerin durch die lange Dauer des Verfahrens ausreichend Gelegenheit gehabt, die drohende Prozessniederlage durch nachträgliche Stellung eines Antrags auf Arbeitslosengeld abzuwenden. Die Dauer des Verfahrens sei daher für die Klägerin eher ein Vorteil gewesen.

Einen materiellen Nachteil habe die Klägerin nicht erlitten; einen immateriellen Nachteil habe sie nicht substantiiert behauptet. Im Übrigen könne die Wiedergutmachung auch durch Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer bewirkt werden. Schließlich würde eine eventuelle Geldentschädigung sich keinesfalls auf 9.600,00 Euro belaufen.

Der Senat hat der Klägerin mit Beschluss vom 07.12.2012 Prozesskostenhilfe bewilligt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten S 35 AL 428/04 (SG München), L 9 AL 139/08 und L 8 SF 20/12 EK (Bayer. LSG) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Für die Entscheidung über die Klage ist das LSG zuständig. Nach § 200 Satz 1 GVG haftet das Land für Nachteile, die aufgrund von Verzögerungen bei Gerichten des Landes eingetreten sind. Für Klagen auf Entschädigung gegen ein Land ist nach § 201 Abs. 1 Satz 1 GVG das Oberlandesgericht zuständig, in dessen Bezirk das streitgegenständliche Verfahren durchgeführt wurde. Für sozialgerichtliche Verfahren ergänzt § 202 Satz 2 SGG diese Regelung dahin, dass die Vorschriften des 17. Titels des GVG (§§ 198-201) mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden sind, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das LSG tritt.

Der Freistaat Bayern wird im vorliegenden Verfahren durch das Landesamt für Finanzen - Dienststelle München - als allgemeine Vertretungsbehörde vertreten (§ 7 Satz 1 VertrV). Einer der in §§ 7a ff. VertrV speziell geregelten Fälle liegt nicht vor.

1.
Die Klage ist zulässig.

Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) statthaft. Aus § 201 Abs. 2 Satz 1 GVG, wonach die Vorschriften der ZPO über das Verfahren vor den Landgerichten im ersten Rechtszug entsprechend anzuwenden sind, ergibt sich i.V.m. § 202 Satz 2 SGG, dass auch für Verfahren vor dem LSG die Vorschriften des SGG über das Verfahren vor den Sozialgerichten im ersten Rechtszug heranzuziehen sind. Gemäß § 54 Abs. 5 SGG kann mit der Klage die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Die Klägerin macht angesichts der Regelung des § 198 GVG geltend, dass sie auf die begehrte Entschädigungszahlung, eine Leistung i.S. des § 54 Abs. 5 SGG, einen Rechtsanspruch habe.

Eine vorherige Verwaltungsentscheidung ist nach dem Gesetz nicht vorgesehen. Die Klage wurde auch formgerecht erhoben. Die Frist des Art. 23 Satz 6 ÜGG wurde eingehalten; die Klage wurde am 23.01.2012 und damit vor dem Stichtag 03.06.2012 erhoben.

Zweifel an der Klagebefugnis bestehen nicht. Der Kläger begehrt Entschädigung nach §§ 198 ff. GVG. Die Anwendung dieser Vorschriften ist nicht von vornherein ausgeschlossen, da Art 23 Satz 1 ÜGG eine Geltung für "Altfälle" wie das zu Grunde liegende Verfahren eröffnet (vgl. BSG, Beschluss vom 27.06.2013, B 10 ÜG 9/13 B, Rn. 21 ff.). Die Klägerin hat auch geltend gemacht, dass eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig sei.

Keine Zulässigkeitsvoraussetzungen sind die (rechtzeitige) Erhebung einer Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG und die Einhaltung der Wartefrist des § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG (vgl. im Einzelnen Urteil des Senats vom 20.06.2013, L 8 SF 134/12 EK). Diese Vorschriften sind im vorliegenden Fall allerdings ohnehin nicht anzuwenden, weil das Verfahren bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes abgeschlossen war (§ 23 Satz 5 ÜGG).

2.
Bezüglich des erstinstanzlichen Klageverfahrens S 35 AL 428/04 ist die Klage nur begründet, soweit die Klägerin die Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer begehrt.

Für das Klageverfahren sind die Vorschriften der §§ 198 ff. Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) sowie die §§ 183, 197a und 202 SGG i.d.F. des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGG) vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) maßgebend. Nach Art. 23 Satz 1 ÜGG gilt dieses Gesetz auch für Verfahren, die bei seinem Inkrafttreten (gemäß Art. 24 ÜGG am 03.12.2011) bereits anhängig waren, sowie - wie vorliegend - für abgeschlossene Verfahren, deren Dauer bei seinem Inkrafttreten Gegenstand von anhängigen Beschwerden beim EGMR ist oder noch werden kann.

Das Verfahren S 35 AL 428/04 / L 9 AL 139/08 war bei Inkrafttreten des ÜGG am 03.12.2011 bereits abgeschlossen. Maßgeblich für den Abschluss eines Verfahrens im Sinne des ÜGG ist der Eintritt der Rechtskraft (§ 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG). Die Rechtskraft des Urteils vom 29.07.2010 (L 9 AL 139/08) war mit der Ablehnung des PKH-Antrags und der Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde durch das BSG am 29.12.2010 eingetreten (§ 160a Abs. 4 Satz 3 SGG).

Das Verfahren war jedoch bei Inkrafttreten des ÜGG am 03.12.2011 Gegenstand einer anhängigen Beschwerde beim EGMR (Az. 58384/11). Der EGMR hat dem Senat mit Schreiben vom 29.08.2012 mitgeteilt, dass die Klägerin am 28.06.2011 eine solche Beschwerde erhoben habe. Diese sei erst am 12.07.2012 erledigt worden. An der Richtigkeit dieser Auskunft hat der Senat keine Zweifel. Damit hat die Klägerin die Beschwerde - was im Rahmen des Art. 23 Satz 1 ÜGG erforderlich sein dürfte (vgl. etwa BSG, Beschluss vom 27.06.2013, B 10 ÜG 1/13 B, Rn. 13 m.w.N.; so auch BGH, Urteil vom 11.07.2013, III ZR 361/12) - unter Beachtung der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art 35 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) erhoben. Insbesondere ist die in Art. 35 Abs. 1 EMRK bestimmte Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung eingehalten worden (Entscheidung des BSG: 29.12.2010, Erhebung der Beschwerde beim EGMR: 28.06.2011). Die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des BSG ist nicht Zulässigkeitsvoraussetzung einer Beschwerde beim EGMR (BGH, a.a.O., Rn. 11 m.w.N.).

Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Für einen Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 Satz 2 GVG).

Damit setzt der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch voraus,
- dass eine unangemessene Dauer des Gerichtsverfahrens vorliegt (a),
- dass die Klägerin als Verfahrensbeteiligte einen Nachteil nicht vermögenswerter Art erlitten hat (b),
- dass nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG nicht ausreichend ist (c)
- und dass der geforderte Betrag als Entschädigung angemessen ist (d).

a)
Die Dauer des Klageverfahrens S 35 AL 428/04 war mit 50 Monaten von der Klageerhebung bis zur Versendung des die Instanz beendenden Gerichtsbescheides unangemessen.

aa)
§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG bestimmt, dass sich die "Angemessenheit der Verfahrensdauer" nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und der Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter, richtet. Damit hat der Gesetzgeber von der Einführung bestimmter Grenzwerte für die Dauer unterschiedlicher Verfahrenstypen abgesehen, weil eine generelle Festlegung, wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, nicht möglich ist. Dies hat auch das BSG in seinem Beschluss vom 16.12.2013 (B 10 ÜG 13/13 B) hervorgehoben. Der Gesetzgeber benennt hingegen nur beispielhaft ohne abschließenden Charakter Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit bzw. Unangemessenheit einer Verfahrensdauer besonders bedeutsam sind. Derartige Umstände reichen jedoch für die Anwendung des Begriffs der "unangemessenen Verfahrensdauer" (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG) nicht aus. Vielmehr sind diese Umstände in einen allgemeinen Wertungsrahmen einzuordnen, der sich aus folgenden Erwägungen ergibt:

Haftungsgrund für den gesetzlich begründeten Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Verfahrensdauer ist die Verletzung des in Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK verankerten Rechts eines Verfahrensbeteiligten auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit. § 198 Abs. 1 GVG knüpft für die Bestimmung der (Un)Angemessenheit inhaltlich an die Maßstäbe an, die EGMR und BVerfG für die Beurteilung der Verfahrensdauer entwickelt haben (BSG, Urteil vom 21.02.2013, B 10 ÜG 1/12 KL, Rn. 25 m.w.N.).

Die Anknüpfung des gesetzlichen Entschädigungsanspruchs gemäß § 198 GVG an den als Grundrecht nach Art. 19 Abs. 4 GG (i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) sowie als Menschenrecht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK qualifizierten Anspruch auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit verdeutlicht, dass es darauf ankommt, ob der Beteiligte durch die Länge des Gerichtsverfahrens in seinem Grund- und Menschenrecht beeinträchtigt worden ist. Damit wird eine gewisse Schwere der Belastung von vornherein vorausgesetzt. Es reicht also nicht jede Abweichung vom Optimum, vielmehr muss eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenze des Angemessenen vorliegen (BSG, a.a.O., Rn. 26).

Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die Verfahrensdauer in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 Abs. 1 GG) und auch zu dem Ziel einer inhaltlichen Richtigkeit der Entscheidungen steht. Auch das spricht dagegen, bei der Bestimmung der Angemessenheit einer Verfahrensdauer eine enge zeitliche Grenze zu ziehen (BSG, a.a.O., Rn. 27 m.w.N.).

Die Dauer eines Verfahrens ist in hohem Maße von dem Verhältnis abhängig, in dem die Zahl der von Rechtsuchenden betriebenen Verfahren zu den persönlichen und sächlichen Mitteln des jeweils zuständigen Gerichts steht. Dabei reicht es aus, dass dieses Verhältnis angemessen ist. Der Staat ist jedenfalls nicht verpflichtet, so große Gerichtskapazitäten vorzuhalten, dass jedes anhängig gemachte Verfahren sofort und ausschließlich von einem Richter bearbeitet werden kann. Vielmehr muss ein Rechtsuchender damit rechnen, dass der zuständige Richter neben seinem Rechtsbehelf auch noch andere (ältere) Sachen zu behandeln hat. Insofern ist ihm eine gewisse Wartezeit zuzumuten. Im Hinblick darauf kann es von Bedeutung sein, in welcher Zeit vergleichbare Verfahren erledigt werden. Die betreffenden statistischen Zahlen sind allerdings daraufhin zu prüfen, ob sie eine im Durchschnitt überlange Verfahrensdauer widerspiegeln. Ist das nicht der Fall, so können diese Zahlen einen hilfreichen Maßstab bei der Beurteilung der Angemessenheit der Dauer eines konkreten Verfahrens bieten. Entscheidend sind dabei allerdings die Umstände des Einzelfalls (BSG, a.a.O., Rn. 28 m.w.N.).

bb)
Dafür, dass die Dauer des Klageverfahrens S 35 AL 428/04 vor dem SG mit 50 Monaten im konkreten Fall unangemessen war, spricht bereits ein Vergleich mit den wesentlich niedrigeren statistischen Durchschnittswerten.

Den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes (Fachserie 10 Reihe 2.7) lässt sich entnehmen, dass Klageverfahren vor den Sozialgerichten, die 2008 durch Gerichtsbescheid erledigt wurden, im Bundesdurchschnitt (ohne Bayern) 17,4 Monate gedauert haben. Die durchschnittliche Verfahrensdauer für Klageverfahren im Fachgebiet Arbeitslosenversicherung (nicht nach Erledigungsart differenziert) lag im Bundesdurchschnitt (ohne Bayern) bei 16,7 Monaten.

Die Frage, ob bereits diese statistischen Zahlen eine im Durchschnitt überlange Verfahrensdauer widerspiegeln, spielt keine Rolle, wenn - wie hier - eine erhebliche Überschreitung der statistischen Werte vorliegt.

Die konkreten Umstände des Einzelfalles können die Länge des Verfahrens jedenfalls nicht in vollem Umfang erklären. Insoweit genügt die Feststellung, dass zwischen dem 13.04.2004 und dem 29.08.2005 sowie zwischen dem 29.08.2005 und dem 10.08.2006 kein verfahrensrelevanter Schriftverkehr angefallen ist. In diesen Zeiträumen hat jedenfalls das Verhalten der Beteiligten oder Dritter die Verzögerungen nicht (mit-)verursacht. Das Gericht hatte in diesen Zeiträumen insbesondere keine Stellungnahmen, Gutachten oder Befundberichte angefordert oder angemahnt.

Auch die Schwierigkeit des Verfahrens kann die Verfahrensdauer von 50 Monaten nicht rechtfertigen. Der Senat orientiert sich insoweit an der Sicht des SG, wie sie den Akten und insbesondere dem Gerichtsbescheid vom 02.05.2008 zu entnehmen ist. Dabei prüft der Senat nicht, ob das SG die Sach- und Rechtslage zutreffend beurteilt hat. Denn es steht dem Entschädigungsgericht nicht zu, wie ein Rechtsmittelgericht zu einer abweichenden Beurteilung der Sach- und Rechtslage zu kommen und entsprechende Feststellungen zu treffen. Eine Entschädigungsklage ist kein Rechtsmittel gegen die im zu Grunde liegenden Verfahren getroffene Entscheidung; eine inhaltliche Überprüfung ist nicht zulässig. Eine Entschädigung darf dementsprechend z. B. nicht mit der Begründung zugesprochen werden, das Entschädigungsgericht halte eine bestimmte, vom primär zuständigen Gericht durchgeführte Beweiserhebung für unbehelflich oder eine von diesem ausführlich erörterte Rechtsfrage für nicht entscheidungserheblich und deshalb sei eine wesentlich schnellere Erledigung geboten gewesen. Umgekehrt darf eine Entschädigungsklage nicht mit der Begründung (teilweise) abgewiesen werden, das Entschädigungsgericht sei der Auffassung, das primär zuständige Gericht sei in seiner Entscheidung auf wesentliche Probleme nicht eingegangen und eine angemessene Bearbeitungszeit für diese Probleme sei zu berücksichtigen.

Maßstab für die Schwierigkeit des Verfahrens ist also deren Einschätzung durch das SG. Danach war die Sach- und Rechtslage wenig komplex. Insbesondere lag weder ein schwieriger Sachverhalt vor (Beispiele bei Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG Rn. 104) noch waren schwierige Rechtsfragen zu klären (Beispiele bei Ott, a.a.O., Rn. 105) oder umfangreiche Ermittlungen durchzuführen (Beispiele bei Ott, a.a.O., Rn. 106). Das SG hat keine Ermittlungen angestellt und die Untätigkeitsklage mit knapper Begründung als unzulässig abgewiesen. Eine Rechtfertigung für eine überdurchschnittliche Bearbeitungsdauer lässt sich daraus nicht ableiten.

Auch die geringe Bedeutung des Rechtsstreits für die Klägerin (dazu näher unten) vermag eine derart lange Bearbeitungsdauer nicht zu rechtfertigen.

Eine weitergehende Auseinandersetzung mit den Umständen des Einzelfalls kann unterbleiben, weil der Senat lediglich ausspricht, dass die Verfahrensdauer unangemessen war (siehe unten) und das Gericht in diesem Fall Zeitraum oder Zeitdauer der Überlänge nicht genau beziffern muss (Ott, a.a.O., § 198 GVG Rn. 165).

b)
Die Klägerin hat durch die unangemessene Dauer des erstinstanzlichen Klageverfahrens einen Nachteil nicht vermögenswerter Art erlitten. Dies wird nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet; Anhaltspunkte dafür, dass die Vermutung im konkreten Fall widerlegt sein könnte, sind nicht ersichtlich.

c)
Eine Entschädigung in Geld steht der Klägerin jedoch nicht zu, weil nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG ausreichend ist. Die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, kann beispielsweise in Verfahren ausreichen, die für den Entschädigungskläger keine besondere Bedeutung hatten (BSG, Urteil vom 21.02.2013, B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 45 unter Hinweis u. a. auf die Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 17/3802, S. 20). So liegt es hier.

Zunächst hat eine Untätigkeitsklage, wie sie hier vorliegt, grundsätzlich eine geringere Bedeutung als eine Leistungsklage. Denn eine Untätigkeitsklage nach § 88 SGG ist nicht auf die Verurteilung der Behörde zum Erlass eines Verwaltungsakts mit bestimmtem Inhalt (etwa der Gewährung einer Sozialleistung), sondern auf Verurteilung der Behörde zur Bescheidung schlechthin gerichtet (Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 88 Rn. 9 m.w.N.). Der Senat lässt offen, ob Untätigkeitsklagen aus diesem Grund generell nur einer Feststellung nach § 198 Abs. 4 GVG zugänglich sind. Denn im vorliegenden Fall kommen weitere Gesichtspunkte hinzu, die eine besonders geringe Bedeutung des Rechtsstreits für die Klägerin begründen:

Ein solcher Gesichtspunkt liegt darin, dass der streitgegenständlichen Zeitraum vom 18.08.1995 bis zum 17.09.1995, über den die zuständige Behörde nach Auffassung der Klägerin noch nicht entschieden hatte, nur kurz war. Die Erweiterung auf den Zeitraum 25.07.1995 bis 17.09.1995 nahm die Klägerin erst im Berufungsverfahren vor, das hier nicht mehr von Bedeutung ist, weil seine Dauer angemessen war (s.u. zu 3.).

Von noch größerem Gewicht für die Annahme einer geringen Bedeutung der Sache für die Klägerin ist der zeitliche Abstand von 81/2 Jahren zwischen dem streitgegenständlichen Zeitraum und der Erhebung der Untätigkeitsklage am 16.03.2004. Die Klägerin hat nach ihren eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erst 2003 bemerkt, dass sie für den Zeitraum 18.08.1995 bis 17.09.1995 kein Arbeitslosengeld erhalten hat. Die entsprechende Untätigkeitsklage hat sie 2004 erhoben. In der Zeit von 1995 bis 2003 hatte sie sich - ebenfalls nach eigenen Angaben - nicht mit etwaigen Ansprüchen auf Arbeitslosengeld, sondern mit solchen auf Konkursausfallgeld befasst.

Arbeitslosengeld ist eine Lohnersatzleistung, die primär der Sicherung des Lebensunterhalts dient. Wenn eine Untätigkeitsklage, die auf die Entscheidung über einen angeblich gestellten Antrag auf Arbeitslosengeld zielt, erst etwa 81/2 Jahre nach dem Ende des streitgegenständlichen Zeitraums erhoben wird, kann auf Grund der Klage etwa bewilligtes Arbeitslosengeld die Lohnersatzfunktion nicht mehr erfüllen. Der Lebensunterhalt für den (kurzen) streitgegenständlichen Zeitraum war bei Klageerhebung längst bestritten; Anhaltspunkte dafür, dass etwaige im Zusammenhang mit der Finanzierung des Lebensunterhalts für diesen Zeitraum entstandene Nachteile 81/2 Jahre lang fortgewirkt hätten, sind nicht ersichtlich. Hätte die Klägerin eine spürbare Beeinträchtigung wahrgenommen, so hätte sie den Rechtsweg wesentlich früher beschritten; dies zeigt nicht zuletzt ihr sonstiges Verhalten, das durch eine nachdrückliche Geltendmachung (vermeintlicher) sozialrechtlicher Ansprüche gekennzeichnet ist. Der Erwerb rentenrechtlicher Zeiten stellt nur eine nachrangige Funktion des Arbeitslosengeldes dar, so dass das darauf gerichtete Bestreben der Klägerin an dem Befund der besonders geringen Bedeutung des Rechtsstreits nichts zu ändern vermag. Im Übrigen ist auch insoweit die Kürze des streitgegenständlichen Zeitraums zu berücksichtigen.

Für eine besonders geringe Bedeutung der erst 2004 erhobenen Untätigkeitsklage spricht außerdem, dass die Rechtsordnung die Durchsetzung von Ansprüchen nach so langer Zeit im Regelfall nicht mehr vorsieht. Dies zeigen die Rechtsinstitute der Verjährung (geregelt etwa in § 45 SGB I) sowie der Verwirkung und des Verbots widersprüchlichen Verhaltens ("venire contra factum proprium"), die beide als Ausprägungen des Grundsatzes von Treu und Glauben in § 242 BGB verankert und auch im Sozialrecht anwendbar sind.

d)
Ausführungen zur Höhe der Entschädigungssumme sind nicht erforderlich, weil der Senat eine solche nicht zuspricht.

3.
Bezüglich des Berufungsverfahrens L 9 AL 139/08 ist die Klage unbegründet.

Die Dauer des Berufungsverfahrens vor dem LSG war mit 27,5 Monaten insbesondere unter Berücksichtigung des Verhaltens der Klägerin und der Bedeutung des Verfahrens noch angemessen.

Nach den statistischen Berichten des Bayer. Landesamtes für Statistik und Datenverarbeitung über die Tätigkeit der Sozialgerichte war ein im Kalenderjahr 2010 beim Bayer. Landessozialgericht durch Urteil erledigtes Berufungsverfahren durchschnittlich 22,5 Monate anhängig; ein durch Urteil erledigtes Berufungsverfahren im Fachgebiet Arbeitslosenversicherung 33,8 Monate.

Den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes (Fachserie 10 Reihe 2.7) lässt sich entnehmen, dass Berufungsverfahren vor den Landessozialgerichten, die 2010 durch Urteil erledigt wurden, im Bundesdurchschnitt 22,0 Monate gedauert haben. Die durchschnittliche Verfahrensdauer für Berufungsverfahren im Fachgebiet Arbeitslosenversicherung (nicht nach Erledigungsart differenziert) lag im Bundesdurchschnitt bei 21,0 Monaten.

Diese Zahlen zeigen zwar, dass das Berufungsverfahren L 9 AL 139/08 überdurchschnittlich lang war. Auf den Referenzwert von 33,8 Monaten für durch Urteil erledigte Berufungsverfahren im Fachgebiet Arbeitslosenversicherung in Bayern stellt der Senat nicht ab, denn der Vergleich mit den übrigen Zahlen - sowohl aus Bayern als auch aus dem gesamten Bundesgebiet - legt es nahe, dass hier bereits eine im Durchschnitt überlange Verfahrensdauer im Sinne eines "Systemfehlers" (vgl. BSG, Urteil vom 21.02.2013, B 10 ÜG 1/12 KL, Rn. 32) abgebildet wird.

Allerdings ist die Dauer des Verfahrens zu einem wesentlichen Teil dem Verhalten der Klägerin geschuldet, für das der Beklagte nicht verantwortlich gemacht werden kann. Das LSG beabsichtigte die Durchführung eines Erörterungstermins im Dezember 2008, also etwa 6 Monate nach Eingang der Berufung. Damit wurde der Versuch unternommen, das Berufungsverfahren - gerade auch im Hinblick auf die lange Dauer des erstinstanzlichen Klageverfahrens - möglichst zügig zu einem Abschluss zu bringen. Die Klägerin hat sich dem jedoch verweigert, indem sie mitgeteilt hat, sie sei nur an einem Erörterungstermin interessiert, an dem die Bundesagentur für Arbeit - die Beklagte im Berufungsverfahren - nicht teilnehme. Als Reaktion darauf hat das LSG auf die Durchführung eines Erörterungstermins verzichtet.

Zwar steht nicht fest, dass das Verfahren in einem Erörterungstermin beendet worden wäre; dies wäre nur durch eine unstreitige Erledigung möglich gewesen. Jedenfalls aber hätte das Verfahren in einem Erörterungstermin gefördert werden können, weil der Berichterstatter im Rechtsgespräch mit den Beteiligten etwaige aus seiner Sicht bestehende Zweifelsfragen zügig hätte klären können. Dies hätte zur Überzeugung des Senats mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Erledigung durch Urteil in höchstens 22 Monaten geführt, was einer durchschnittlichen Dauer des Berufungsverfahrens entsprochen hätte (s.o.). In jedem Fall ist das LSG mit seinem Vorschlag, im Dezember 2008 einen Erörterungstermin durchzuführen, seiner Verpflichtung zu besonderer Beschleunigung unter Berücksichtigung der langen Dauer des erstinstanzlichen Klageverfahrens nachgekommen.

Auch war die Bedeutung des Berufungsverfahrens für die Klägerin gering. Auf die Ausführungen unter 2. c) wird insoweit Bezug genommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG, § 201 Abs. 4 GVG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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